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Wir müssen uns alle ändern

Unser Leben (also das von unseren Kleinen, unserer Innenteile und mir) ist stark bestimmt durch die Dreiheit von Denken, Fühlen und Wahrnehmen.

 

Uns ist es wichtig,

 

1

wahrzunehmen, was ist. Dass es wirklich die reine Wahrnehmung ist, wenn wir wahrnehmen. Genauso ist es uns wichtig

 

2

dass wir fühlen, wenn wir fühlen und dass unser Fühlen nicht durch Gedanken kontaminiert ist.

 

3

Wenn wir denken, dann denken wir. Dann wird nicht gefühlt oder wahrgenommen. Der Philosoph Martin Heidegger sprach zwar immer wieder vom „leidenschaftlichen Denken“, aber wir haben nie begriffen, was das sein soll. Wenn wir denken, dann denken wir, und das ist eine recht nüchterne Angelegenheit.

 

 

Und wenn wir uns mit irgendeiner Problemstellung beschäftigen, dann interessiert uns immer:

Was nehmen wir hier eigentlich wahr?

Was fühlen wir dabei?

Was sind unsere Gedanken dazu?

 

Das klar trennen zu können, ist natürlich ein langer Weg. Denn wenn wir etwas wahrnehmen, dann fühlen wir auch was dabei. Wenn wir denken, dann nehmen wir dabei auch was wahr … und so weiter. Und dennoch ist es uns sehr wichtig, das eine vom anderen unterscheiden zu können, wenn wir Klarheit erreichen wollen.

 

Und Klarheit wollen wir sehr oft erreichen. Vor allem, wenn wir uns an irgendwas stören. Was ist es eigentlich genau, woran wir uns stören? Was sind unsere Gedanken dabei? Was fühlen wir dabei? Und was nehmen wir eigentlich wahr?

Wenn das geklärt ist, können wir meistens mit sehr großer Sicherheit die nötigen Schritte einleiten. Mit sehr großer Sicherheit, aber auch mit Gelassenheit und Konsequenz.

 

So ging es uns gerade, als wir in der Online Ausgabe der WELT einen Artikel sahen, der diese Überschrift hatte:

 

Wir alle müssen jetzt entschlossen und konsequent sein

 

Es ging um irgendwas mit Antisemitismus und Gaza-Krieg. Wir störten uns sehr an diesen Worten. Wir spürten einen starken Widerwillen in uns. Und ich fragte meine Kleinen:

„Was?“

Und sie antworteten:

„Manipulationstechnik.“

 

Wir schauten uns das gemeinsam an und kamen zu unseren Schlüssen.

 

 

Viele Menschen scheinen die heutige Zeit als eine Zeit der starken und permanenten Krisen zu erleben. Wir haben den Eindruck, dass immer mehr Menschen in dieser gefühlten Dauerbelastung seelisch ermüden. Ihre Fähigkeit, mit Krisen konstruktiv und differenziert umzugehen, scheint aufgrund dieser Ermüdung stark abzunehmen.

 

Und in dem Maße, wie ihre Fähigkeit, mit Krisen konstruktiv und differenziert umzugehen aufgrund seelischer Ermüdung abnimmt, scheinen diese Menschen die Komplexität der Realität reduzieren zu wollen. Die Wirklichkeit soll gefälligst einfach und klar strukturiert sein. Es soll gefälligst einfache Lösungen geben. Einfache und vor allem schnelle Lösungen, versteht sich. Die Krise soll wieder weg sein.

 

Und so werden dann massenhaft Parolen rausgehauen, deren Realitätsgehalt recht dürftig ist.

 

„Wir sind jetzt alle Israelis.“

„From the river to the sea …”

“Wir müssen jetzt alle zusammenstehen.“

Und so weiter.

Und so weiter.

 

Die Komplexität der Realität wird reduziert auf ganz wenige Schlagworte. Und um diese Schlagworte sollen sich jetzt bitte alle scharen. Die riesige Phrasenkiste wird geöffnet, und es wird irgendwas dahergeschwurbelt, was alles mögliche ist, aber ganz sicher kein klares Denken.

 

„Wir müssen alle …“ gilt tatsächlich nur, wenn es um Natursetze geht. Wir müssen alle älter werden und irgendwann sterben. Das ist Folge dessen, was im Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik festgehalten ist. Und deshalb führt kein Weg daran vorbei.

 

Es gibt eine Menge anderer Sachen, die wir tatsächlich alle müssen:

Wir müssen alle den Gesetzen der Gravitation gehorchen. Wir sind alle dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen. Wir alle müssen unserem Körper Energie zuführen, wenn wir leben wollen. Wenn wir unserem Körper zuviel Energie auf einmal zuführen oder Energie in der falschen Form, dann müssen wir unter Umständen recht unvermittelt sterben.

Und so weiter.

Es gibt einen ganzen Haufen Naturgesetze, die den Rahmen unseres Seins vorgeben. Wir müssen ihnen alle folgen. Wir können nicht anders.

 

Aber ansonsten müssen wir nicht. Jedenfalls nicht alle.

 

Ja, auch wir halten es für sehr wichtig, dass viele Menschen dem grassierenden Antisemitismus auch im Alltag couragiert und entschieden entgegentreten. Aber diese Menschen müssen das nicht tun. Sie können sich entscheiden, das zu tun oder das zu lassen.

 

Und wir müssen es vor allem nicht alle tun.

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) können uns hunderte Varianten vorstellen, in denen es für Menschen wichtiger ist, etwas anderes zu tun als im Alltag couragiert und entschieden dem grassierenden Antisemitismus entgegenzutreten.

 

Wenn wir jemand sind, der gerade auf dem Zebrastreifen von einem Auto angefahren wurde.

Wenn wir jemand sind, der gerade sein Kind auf der Intensivstation besucht.

Wenn wir jemand sind, der schwer dement ist.

Und so weiter.

Und so weiter.

 

Wie unsere Kleinen richtig erkannt haben, ist „Wir müssen alle …“ ein Manipulationsversuch. Der Mensch, der das geschrieben hat, hat die Realität verlassen und will uns in eine Realität führen, die es so gar nicht gibt.

Das kann nur zu Lösungen führen, die nicht optimal auf die jetzige Problemstellung angepasst sind.

Solche herbeifabulierten Lösungen sind zugunsten realistischer Problemlösungen zu verwerfen.

 

So ungefähr haben wir gedacht.

 

Wir fühlten starken Unwillen und Ärger in uns.

Wir haben diesen Artikel weggeklickt.

Danach fühlten wir uns deutlich besser.

 

Wir klicken sehr viel aus Nachrichtenportalen weg, in der letzten Zeit.

In Zeiten der Krise scheint die Bereitschaft und / oder der Wille zum klaren Denken deutlich abzunehmen.

 

Vor allem das Wort „wir“ wird noch inflationärer gebraucht als sonst.

„Da müssen wir uns alle fragen …“

„Da sind wir jetzt alle gefordert …“

„Wir sind da manchmal zu geduldig gewesen …“

„Wir sind jetzt alle erschüttert …“

„Natürlich macht das was mit uns …“

Und so weiter.

Und so weiter.

Alles Quatsch. Das „Wir“, von dem hier die Rede ist, gibt es gar nicht. Manche von uns sind jetzt gefordert. Manche von uns sind da zu geduldig gewesen und manche von uns sind jetzt erschüttert. Aber nicht „wir“. Vor allem nicht „wir alle“.

 

Wir (unserer Kleinen, unsere Innenteile und ich) kennen die psychischen Mechanismen, die dazu führen, dass Menschen, deren Seele in Zeiten der Krise müde geworden ist, versuchen, die Komplexität der Realität stark zu reduzieren. Wir nehmen diese seelische Ermüdung bei sehr vielen Menschen wahr. Wir nehmen sie ernst. Wir sehen, wie stark viele Menschen unter Dauerkrisen leiden, und es tut uns leid.

 

Aber es führt zu nichts Gutem, wenn wir in Zeiten der Krise die Realität verlassen. Gerade in Zeiten der Krise ist es wichtig, klar zu denken, klar wahrzunehmen und klar zu fühlen. Unsere Erfahrung ist:

Wenn wir in Krisenzeiten die Realität verlassen, um uns zu entlasten und dabei die Komplexität der Realität in einem geradezu lächerlichen Maße reduzieren, dann führt das zu Lösungen, die die Probleme von morgen sind. Lösungen sind nur dann Lösungen, wenn sie auf die Realität zugeschnitten sind. Sonst sind sie nur weitere Probleme. Wenn wir in Krisenzeiten Scheinlösungen produzieren, dann verhalten wir uns wie ein Alkoholkranker, der auf seine Probleme Alkohol draufschüttet:

Seine Probleme sind dann immer noch da, aber leicht beduselt fühlt er sie nicht mehr so sehr.

Morgen wird die Wirkung des Alkohols verflogen sein, und dann werden die Probleme noch größer sein.

 

An dieser fundamentalen Tatsache ändert sich nichts dadurch, dass sehr viele Menschen gleichzeitig reflexhaft zu solchen Scheinlösungen greifen.

 

Und wir wollen uns nicht manipulieren lassen. Auch nicht im Dienst einer an sich guten Sache. Auch nicht im Sinne irgendeines herbeifabulierten „Wir“.

 

Wir wollen klar wahrnehmen.

Wir wollen klar fühlen.

Wir wollen klar denken.

Wir wollen real sein.

 

Und so klicken wir das eben weg.

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