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Free running juice

Das ist noch so eine Sache, die ich nur sehr selten finde, wenn ich mir anschaue, was Psychotherapeuten und Psychokliniken ins Zentrum stellen, wenn sie sich im Internet präsentieren:

 

In der Seele eines Menschen wird nicht rumgeporkelt!

 

Für mich ist das völlig selbstverständlich. Und dem Psychotherapeuten, der versuchen würde, aus mir irgendwas rauszuholen, was nicht an die Oberfläche will, dem würde ich einheizen (Sprachbild).

 

 

Worum geht’s?

Ich will es mit einer Geschichte verdeutlichen, die mir ein Kollege vor vielen Jahren erzählte.

 

Dieser Kollege ist Erfolgsmensch und eine ziemliche Unternehmerpersönlichkeit. Er ist vielfacher Millionär, hat zig Immobilien und unter anderem ein kleines Weingut, das er von seinem Vater geerbt hat.

 

Als sein Vater noch lebte und er (der Kollege) noch ein junger Mann war, kam dieses Weingut in eine ziemliche Krise. Abätze und Margen (Gewinnspannen) stimmten überhaupt nicht mehr. Der Geschmack der Kundschaft hatte sich gewandelt, und sie produzierten einfach viel zu wenig Wein.

 

Da kam eines Tages ein Vertreter einer größeren Firma zu ihnen. Diese Firma stellte Weinpressen her. Und dieser Vertreter überzeugte den Vater und den Kollegen, eine moderne Presse zu kaufen, die deutlich mehr aus den Trauben herausholte als das alte Gelump, mit dem sie traditionell arbeiteten.

 

Also - sie kauften diese Presse und schmissen bei der nächsten Lese alle ihre Trauben dort hinein. Die Presse presste wie der wilde Watz, und es kamen tatsächlich beinahe fünfzig Prozent mehr Most aus den Trauben als vorher.

Vater und Kollege waren begeistert.

Und dann füllten sie den Most in die üblichen Tanks und machten all das, was gemacht werden muss, damit aus Most Wein wird.

Das Ergebnis war - Originalzitat:

"Das konntest du alles wegschmeißen."

 

Der "gepresste" Wein schmeckte einfach nur grauenhaft und war auch objektiv von fürchterlicher Qualität. Diese Ernte mussten sie als Industriealkohol verkaufen, und das Weingut war noch deutlich näher am Bankrott als vorher.

 

Der Kollege hat dann seinem Vater das Weingut mehr oder minder aus der Hand genommen, und das Ruder komplett herumgerissen.

Heute stellt er Spitzenweine her, die in den besten Hotels der Welt ausgeschenkt werden. Auf dem freien Markt bekommst du seine Weine gar nicht.

Wie hat der Kollege das gemacht?

 

Er hat das Gegenteil von Pressen gemacht. Er wirft bei der Lese einfach alle Trauben in einen Behälter und schaut, was die Trauben freiwillig hergeben.

Diese Philosophie nennt sich "free running juice" - frei laufender Saft.

Nur das, was die Trauben unter dem eigenen Druck freiwillig hergeben, wird als Most verwendet und zu Wein weiterverarbeitet. Alles andere wird als Viehfutter, Dünger etc. verwandt.

 

Warum erzähle ich das hier in aller Ausführlichkeit?

Ich erzähle das, weil ich hier viele Analogien zu Psychotherapie und zu psychischer Heilung sehe.

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) haben diese Erfahrung gemacht:

Die Teile in uns, die Heilung wollen und brauchen, die zeigen sich, wenn es an der Zeit ist. Wenn ihre Zeit noch nicht gekommen ist, dann verstecken sie sich weiterhin im Verborgenen. Sie verstecken sich in der ewigen Dunkelheit, die in uns ist.

 

Nun gibt es aber Techniken, die Dunkelheit, die in uns ist, auszuleuchten. Und davon machen viele Psychotherapeuten und Psychiater rege Gebrauch. Manche stoßen mit Mitteln der Hypnose in diese Bereiche vor, andere nutzen bestimmte Atemtechniken, um da mal ein bisschen Schwung reinzubringen, wieder andere erzielen ähnliche Ergebnisse mit bestimmten Gesprächs- und Fragetechniken. Da geht’s dann darum, „Widerstände“ und „Abwehrmechanismen“ zu überwinden.

 

Und wir sagen:

Lass das sein!

 

Wenn wir „Widerstände“ produzieren und „Abwehrmechanismen“ nutzen, dann tun wir das aus einem guten Grund. Dieser Grund braucht nicht für den Therapeuten, der sich an uns abarbeitet, gut zu sein. Es reicht völlig aus, wenn dieser Grund für unsere schwer verletzten Innenteile gut ist. 

 

Die Teile in uns, die geheilt werden wollen, die zeigen sich schon. Und alle anderen zeigen sich eben nicht.

Allen Teilen in uns, die ungeheilt sind, ist gemein, dass sie zutiefst verstört und verletzt sind. Sie vertrauen nicht. Sie haben ganz viele ganz schreckliche Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht, die ihre Grenzen nicht achten.

 

Für diese Teile in uns sind Erwachsene übergriffige, distanzlose und gewalttätige Monster. Um sich vor diesen Erwachsenen zu schützen, haben sie ganz viele Techniken und Methoden entwickelt, um sich zurückzuziehen und zu verbergen.

 

Und jetzt überleg‘ dir mal, was in diesen Teilen ausgelöst wird, wenn ein wohlmeinender Erwachsener – irgendein Psychotherapeut oder Psychiater – anfängt, hinter ihnen herzuporkeln und sie gegen ihre Widerstände und Abwehrmechanismen ans Licht zu holen. Oft wissen diese Erwachsenen (also die Psychotherapeuten und Psychiater), sehr genau, was sie tun müssen, um diese kindlichen „Ich-versteck‘-mich-so-dass-mich-auch-ja-keiner-finden-kann“-Methoden auszuhebeln.

Denn das ist ja auch klar:

Damals, als diese verletzten Teile ihre Methoden und Techniken entwickelt haben, um sich zu verbergen, waren wir noch kleine Kinder. In unserer Not probierten wir alles möglich aus, bis dann endlich irgendwas passte. Aber das war nur mit kindlichem Wissen und mit kindlicher Erfahrung gemacht. Selbstverständlich hält das keinem erfahrenen Erwachsenen stand.

 

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen:

Als meine ältere Tochter drei Jahre alt war, erlebte ich bei uns daheim mal diese Szene:

Ich kam an einem Sommerabend vom Einkaufen zurück. Ich stand noch in der Diele und zog mir die Schuhe aus, als meine Tochter an mir vorbei lief. Sie kam aus der Richtung ihres Zimmers und hatte es auffällig eilig.

„Hi, Kind“, begrüßte ich sie.

Sie drehte sich im Vorbeilaufen zu mir um:

„Du musst gar nicht in mein Zimmer gehen“, informierte sie mich. „Da ist nichts.“

Mit diesen Worten verschwand sie im Gäste-WC. Dort kramte sie herum und kam nach kurzer Zeit mit einem Schrubber wieder heraus. Sie schaute mich an und war offenbar entsetzt, dass ich noch immer da war und sie sah.

„Was ist denn nicht in deinem Zimmer?“ fragte ich sie.

„Da ist nichts umgefallen.“

So sprach sie und verschwand mit dem Schrubber eilends in ihrem Zimmer, in dem sie dann intensiv herumkroste.

 

Ich ließ sie dort herumkrosen und achtete in den nächsten Minuten darauf, dass ihre Mutter beschäftigt war. Zumindest so beschäftigt, dass sie nicht auf die Idee kam, in die Nähe des Zimmers unserer Tochter zu kommen.

Denn die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hat das intensive Bedürfnis, immer auf das Genaueste darüber informiert zu sein, was jeder in der Wohnung tut, getan hat und tun wird.

 

Und dazu bestand aktuell ja überhaupt kein Anlass. Denn nach allem, was bekannt war, war im Zimmer unserer Tochter nichts umgefallen.

 

Natürlich habe ich mir später mit dem Einverständnis meiner Tochter ein Bild von der Lage gemacht, um auszuschließen, dass irgendwer in Gefahr war oder ein abwendbarer Schaden eintrat. Mir geht es hier nur darum zu verdeutlichen, auf welcher Ebene sich die „Widerstände“ und „Abwehrmechanismen“ normalerweise bewegen. Diese Form sich zu verbergen haben wir uns ausgedacht, als wir als kleine Kinder in höchster Not waren. Und wahrscheinlich waren wir für unser Alter unheimlich schlau und gewitzt, als wir das taten. Aber dann sind da halt die Erwachsenen, und die haben einen ganz anderen Horizont und eine ganz andere Erfahrung.

 

Der Pädagoge Pestalozzi schrieb in einem anderen Zusammenhang mal:

„Wir stechen die Karten der Kinder mit den Assen der Erwachsenen.“

Wir finden, dass das auch an dieser Stelle ein sehr treffendes Bild ist.

Und für alle Psychotherapeuten und Psychiater da draußen, die das vielleicht lesen:

Auch wohlmeinende Gewalt ist Gewalt. Verletzte Kinderteile, deren Grenzen nicht geachtet wurden, werden nicht aus ihren Verstecken gelockt oder gestöbert. Das tut man nicht. Das ist Gewalt.

 

Wir haben diese Erfahrung gemacht:

Wenn verletzte Kinderteile in uns sich nicht zeigen wollen, aber von erwachsenen Psychotherapeuten mit entsprechenden Techniken aus ihren Verstecken gelockt oder getrieben werden, dann passiert folgendes:

 

Diese Teile spalten sich. Sie schicken einen Teil vor, der sich irgendwie mit diesem übergriffigen Psychotherapeuten auseinandersetzen muss. Der Rest vereist noch mehr und zieht sich noch tiefer ins Dunkel zurück und ist noch felsenfester davon überzeugt, dass man Erwachsenen niemals vertrauen darf. Diese Teile sind noch tiefer davon überzeugt, dass es für sie keinen Platz in dieser Welt gibt.

 

In unserer Welt gilt:

Wir arbeiten psychotherapeutisch nur mit dem, was der Körper von sich aus freigibt – free running juice.

Wenn wir uns an irgendwas nicht erinnern können – dann ist das eben so. Dann ist noch nicht die Zeit für diese Erinnerung.

Wenn irgendein Gefühl nicht fließen will – dann ist das eben so. Dann ist noch nicht die Zeit für dieses Gefühl.

Wenn wir irgendwas noch nicht begreifen wollen – dann ist das eben so.

Und so weiter.

 

All diese Techniken, die Psychotherapeuten und Psychiater einsetzen, um „Widerstände“ zu überwinden oder „Abwehrmechanismen“ auszuhebeln, halten wir für ungemein schädlich. In unserer Welt sind diese Techniken Gewalt. Sie sind Gewalt gegen schwer verletzte kleine Kinderteile in uns, die von uns alles mögliche brauchen aber ganz sicher nicht noch mehr zusätzliche Gewalterfahrungen.

 

Habt Erbarmen mit diesen Teilen. Habt Mitgefühl mit ihnen. Sie haben genug Übergriffigkeit, Distanzlosigkeit und Gewalt erlebt. Das reicht für zehn Leben. Wenn sie sich nicht zeigen wollen, dann ist das ihr gutes Recht. Wenn sie noch nicht fühlen oder begreifen wollen, dann ist das genauso ihr gutes Recht. Und sie wissen ganz genau, was sie da tun.

 

Vertrauen kann man nicht befehlen.

 

Wir wollen dabei aber nicht stehen bleiben. Wir wollen nicht nur schreiben, wie’s bitte nicht gemacht wird, sondern auch schildern, welchen Weg wir für richtig halten. Und das richtet sich tatsächlich an alle Erwachsenen – egal ob sie heilen wollen oder psychotherapeutisch arbeiten:

 

Wir haben den Eindruck, dass so ziemlich die stärkste Macht in einem Menschen die Sehnsucht ist. So wie Eisen sich immer nach einem Magneten ausrichtet, richtet sich alles in uns nach unseren Sehnsüchten aus. Wir können gar nicht anders.

 

Also:

Vorschlag an alle Erwachsenen da draußen:

 

Schafft eine Welt, der sich eure ungeheilten und verletzten Teile zugehörig fühlen wollen. Schafft eine Welt, nach der sie sich sehnen. Lebt so, dass diese Teile sagen:

„Das will ich unbedingt auch haben! So will ich auch leben! Da will ich unbedingt dabei sein!“

 

Unserer Erfahrung ist:

Wenn wir so leben, dass unsere ungeheilten und verletzten Teile unbedingt dabei sein wollen, dann werden sie erst neugierig und dann sehnsüchtig. Und dann kommen sie. Sie kommen freiwillig und in Scharen. Sie kommen angerannt. Da gibt es dann überhaupt kein Halten mehr.

 

Free running kids.

In unserer Welt gibt es keine stärkere Macht als die Sehnsucht kleiner Kinder.

 

Wenn du so vorgehst, dann werden auch die Lasten gerecht verteilt:

 

1

Der erwachsene Teil in uns hat die Aufgabe, so eine Welt zu schaffen, zu erhalten und zu beschützen. Er hat weiterhin die Aufgabe, darauf zu achten, dass sich das immer in einem ethisch gerechtfertigten Rahmen bewegt.

Und das alles ist schwer genug!

 

2

Die ungeheilten und verletzten Kinderteile in uns haben die Aufgabe, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und in Bewegung zu setzen. Sie haben die Aufgabe, ihre uralten Grundüberzeugungen zu prüfen und abzulegen.

Und glaubt mir – auch das ist schwer genug!

 

 

Und für alle Menschen da draußen, die das hier lesen und in sich schwer verletzte Kinderteile haben:

Schützt eure Kleinen vor weiterer Gewalterfahrung. Auch vor der Gewalt derer, die es „nur gut“ mit ihnen meinen und „nur ihr Bestes“ wollen.

Eure Kleinen haben genug durchgemacht. Sie haben genug Gewalt erlebt.

Das reicht für zehn Leben.

 

Wenn wir heilen wollen,dann müssen wir nach innen die Garantie aussprechen:

Gearbeitet wird nur mit free running juice.

 

Oder präziser:

Mit free running kids.

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