Was ist?

Immanuel Kant hat mal die „vier Grundfragen der Philosophie“ formuliert:

 

·      Was kann ich wissen?

·      Was soll ich tun?

·      Was darf ich hoffen?

·      Was ist der Mensch?

 

Diese Fragen interessieren mich nicht besonders. Das liegt vermutlich daran, dass ich kein Philosoph bin. Lange Jahre habe ich mich intensiv mit dem Problem der Ethik auseinandergesetzt. Aber nicht als „Was soll ich tun?“, sondern als „Was ist gut zu tun?“

Niemand sagt mir, was ich tun soll, auch ich selber nicht. Ich will keine Ethik als irgendwas, was Druck auf mich ausübt. Ich will nicht, dass irgendwer oder irgendwas mir sagt, was ich zu tun habe. Was ich will, sind klare und unwiderlegbare Argumente, warum es gut ist, etwas zu tun. Und wenn diese Argumente überzeugend sind, dann ergibt sich alles andere von selbst – dann führe ich diese Handlung aus, weil es richtig ist und nicht, weil ich irgendwas soll.

 

Nachdem ich diese Frage „Was ist gut zu tun?“ für mich hinreichend geklärt hatte, ist sie jedoch beinahe zur Bedeutungslosigkeit verblasst.

 

Aber die anderen Grundfragen – Was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was ist der Mensch? – die sind für mich eher bedeutungslos. Immer schon gewesen. Ich denke nicht im philosophischen Sinne darüber nach. Als Wissenschaftler mache ich mir darüber Gedanken, ja. Aber das war’s dann auch schon.

 

Es gibt aber eine andere Frage, die mich schon umtreibt, seit ich ein Kind war. Und die taucht in Kants Liste nicht auf (ist vermutlich subsummiert unter „Was kann ich wissen?“):

Was ist?

 

Das ist für mich die Grundfrage. Diese Frage dürfte für die allermeisten Menschen völlig irrelevant sein. Aber in meinem Leben ist sie mehr oder weniger die Achse, um die sich alles dreht. Wenn ich weiß, was ist, dann ergibt sich daraus auch alles andere.

 

Die Frage ist einfach und banal.

Die Antwort ist alles andere als einfach und banal.

 

Die Antwort hat für mich unterschiedliche Aspekte, und die will ich hier mal aufdröseln. (Und für all die vielen Menschen, für die die Frage „Was ist?“ völlig bescheuert ist – ich glaube, dass ich euch gut verstehen kann. Lest diesen Quatsch nicht, das ist nur öder Kram, der euch nichts bringt).

 

Aber für alle anderen:

Los jetzt

 

 

1

Die symbolische Ebene

 

Wenn ich einen roten Apfel in der Hand halte, dann könnte ich meinen, dass dieser rote Apfel da ist. Ich sehe ihn, ich spüre sein Gewicht auf der Hand, ich rieche ihn. Also ist er da.

 

Aber „rot“ und „Apfel“ sind nur Symbole. Weder ist der Apfel rot, noch ist das ein Apfel. Wir haben uns nur darauf geeinigt, dass wir diese Sinneseindrücke mit „rot“ und mit „Apfel“ bezeichnen. Und das ist auch absolut sinnvoll. Wie sollte ich sonst auf dem Markt rote Äpfel kaufen?

 

Wenn ich auf die Frage:

„Was ist?“ antworte:

„Das ist ein roter Apfel.“,

dann stimmt das einfach nicht.

„Apfel“ und „rot“ sind Symbole. Und das, was ich da in der Hand halte, ist alles mögliche aber sicher kein Symbol. Also:

Was ist (das, was ich da in der Hand halte)?

 

Wenn ich zu dem durchdringen will, was tatsächlich ist, muss ich mich von dieser symbolischen Ebene lösen und unmittelbar wahrnehmen – ohne Begriffe, ohne Worte, ohne Symbole.

 

 

Immanuel Kant sagt, dass das nicht geht.

 

Wir sagen dazu, dass Immanuel Kant uns mal kann.

 

Übrigens – für die Puristen unter euch:

Das, was Kant das Ding „an sich“ nennt, das interessiert uns (meine Kleinen, meine Innenteile und mich) nicht die Bohne.

 

 

2

Die psychologische Ebene

 

Das begegnet uns im Alltag laufend – Menschen denken, handeln und fühlen unlogisch und begeben sich damit auf eine Ebene der Irrealität. Sie entfernen sich auf diese Weise von dem, was ist.

 

Einfache Beispiele:

 

a)

„Willst du diese Banane noch essen?“

„Nein, die wird schon ganz schwarz, das ist eklig.“

 

Ich hingegen würde diese Banane noch essen. Ich mag es, wenn sie dunkel werden. Für mich ist die Banane nicht eklig. Das lässt nur den logischen Schluss zu, dass der Ekel in dir ist und nicht in der Banane. Mit anderen Worten:

Es gilt nicht:

„Die Banane ist eklig.“, sondern „Ich ekle mich vor dieser Banane.“

Alles andere scheint uns nicht logisch zu sein.

 

Wenn du zu dem durchdringen willst, was ist, verlagere also den Ekel. Der Ekel ist nicht in der Banane, sondern er ist in dir.

 

 

b)

„Ich habe mein Vertrauen verloren.“

 

Vertrauen kann man nicht verlieren. Eine Wäscheklammer kann man verlieren oder einen Führerschein. Objektiv ist es unmöglich, das Vertrauen zu verlieren. Man kann jemandem das Vertrauen entziehen oder es ihm schenken. Mit anderen Worten:

Das ist ein aktiver Vorgang, für den ich voll verantwortlich bin.

 

 

c)

„Da hat er mich reingelegt.“

 

Diese Aussage kann logisch richtig sein. Sie kann aber auch unrichtig sein. Das ist zu prüfen.

Im Englischen gibt es das Sprichwort:

„Fool me once – shame on you. Fool me twice – shame on me.”

 

Ich prüfe in Fällen wie diesen immer, ob die Umkehr der Verantwortung nicht logisch richtiger ist:

 

„Da habe ich mich reinlegen lassen.“

 

 

Wenn ich auf der psychologischen Ebene durchdringen will zu dem, was ist, ist es für mich immer wichtig zu erkennen, was Ursache ist und was Wirkung ist.

 

Das auseinanderzuklamüsern – was ist auf psychologischer Ebene jetzt eigentlich Ursache und was ist Wirkung - damit beschäftige ich mich jeden Tag viele Stunden.

 

 

3

Die Erkenntnisebene

 

Jemand der wie wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich)

 

a)  permanent in einer Bilderwelt lebt – also Bilder sieht, die in der gemeinsam geteilten Welt gar nicht da sind

b)  Viele ist

c)  Synästhet ist

d)  immer wieder mal zu Halluzinationen neigt,

 

der hat naturgemäß ein Problem damit zu erkennen – das, was wir jetzt gerade wahrnehmen: Ist das jetzt da, oder existiert das nur in uns?

 

Wir haben uns vor vielen Jahren den Film „A beautiful mind“ angeschaut. In diesem Film gibt es eine Szene, wo ein alternder Hochschullehrer, der Probleme mit Halluzinationen hat, auf dem Gang von einem Menschen angesprochen wird, den er noch nie gesehen hat.

Der Hochschullehrer wendet sich an eine Studentin, die zufällig neben ihm steht und deutet auf den Menschen, der ihn gerade angesprochen hat:

„Is he real? Can you see him?”

 

Diese Szene hat uns gut gefallen. So wie diesem Hochschullehrer geht es uns auch immer wieder.

Es gibt in unserem Leben immer wieder Momente, wo wir Menschen, denen wir sehr vertrauen, Fragen stellen, die sich so anhören:

„Sieht die Straße für dich anders aus als sonst?“

„Gibt es für dich hier einen ungewöhnlichen Geruch?“

 

Was passiert da?

Nehmen wir mal das Beispiel mit der Straße:

Das ist noch gar nicht so lange her:

Wir gingen da spazieren, auf dieser uns wohlvertrauten Straße. Und auf einmal sahen wir, dass der ganze Asphalt voller Blut war – die ganze Straße rauf und runter. Alles voll. Wir hatten jetzt zwei Hypothesen:

 

a) Ja, das ist -, das ist real.

 

Aber dann hätten wir erklären müssen, wie das kommen kann. Wo kommt das ganze Blut her? Wie ist das über den gesamten Asphalt verteilt worden? Warum sehen wir das, können es aber nicht riechen?

Das schien uns also sehr unwahrscheinlich.

 

b) Das, was wir da sehen, repräsentiert unseren inneren Zustand, hat aber nichts mit der Realität zu tun, die wir mit anderen teilen.

 

Das schien uns vergleichsweise wahrscheinlich. Wir waren in unserer Therapie in Bereiche vorgestoßen zu denen „Straßen voller Blut“ ziemlich gut gepasst hätte. Aber wir wollten sicher gehen. Um die Antwort nicht zu verfälschen, fragten wir ziemlich neutral:

 

„Sieht die Straße für dich anders aus als sonst?“

 

 

Möglich gewesen wären auch weitere Hypothesen wie z.B.:

 

c) Wir haben eine Fehlfunktion im Sehapparat (Auge oder Gehirn).

 

Aber dann hätten wir auch auf den angrenzenden Wiesen oder auf den Laternenpfählen was anderes sehen müssen als sonst, deshalb kam das als Erklärung eher nicht in Betracht.

 

Um es kurz zu machen:

Viel stärker als anderen Menschen ist uns schon sehr früh in unserem Leben der sichere Zugang zur unmittelbaren Erkenntnis genommen worden. Sehr oft wissen wir nicht, ob das, was wir gerade wahrnehmen, auch von anderen wahrgenommen wird.

 

Um sicherzugehen fragen wir dann, oder wir schließen aus dem Verhalten der anderen Menschen.

Beispiel:

Wenn wir unmittelbar neben uns eine sehr laute Stimme hören und uns fürchterlich erschrecken, gleichzeitig aber

a)    niemanden wahrnehmen können, zu dem diese Stimme gehören könnte

b)    aus dem Verhalten der Menschen, die um uns herum sind, schließen können, dass sie nichts gehört haben,

dann brauchen wir sie nicht fragen. Dann ist der Fall klar:

Wir haben mal wieder was gehört, was nur in uns ist.

 

Einschub

Das ist in unserer Welt ein sehr wichtiger Grundsatz:

Das, was wir wahrnehmen, das nehmen wir wahr und nicht etwa unwahr.

 

Mit anderen Worten:

Wenn wir etwas wahrnehmen, was nicht mit der äußeren Realität korrespondiert, dann reden wir uns nicht diese Wahrnehmung aus. So nach dem Motto:

„Das bildest du dir nur ein, da ist nichts!“

 

Sondern wir erforschen:

Was ist der Grund, dass wir das jetzt so wahrnehmen?

Das muss ja einen Grund haben. (Viertes Axiom der aristotelischen Logik).

Einschub Ende

 

 

Wir glauben, dass wir zur Frage „Was ist?“ noch viel mehr schreiben könnten. Aber uns ging’s an dieser Stelle in erster Linie darum, mal zu skizzieren, was sich hinter dieser Frage für uns verbirgt, und warum das so bedeutsam für uns ist.

 

 

Unserer Erfahrung ist:

 

1

Wir wissen nicht, was ist. Aber die Menschen, denen wir begegnen, die wissen das meistens noch viel weniger als wir. Diese Menschen sind sich viel sicherer als wir, wenn sie die Frage beantworten:

„Was ist?“

Diese Sicherheit korrespondiert nach unserer Erfahrung jedoch nicht mit der Realität, sondern beruht auf Gewöhnung, Konvention und gemeinsam geteilter Illusion.

 

2

Es erfordert sehr viel Geduld und Übung, sich dem zu nähern, was ist. Das mag mühsam und umständlich sein, aber es geht.

 

3

Und es lohnt sich.

Es lohnt sich in unserer Welt mehr als das allermeiste andere, was wir stattdessen tun könnten.

 

 

Und wenn sich jemand daran stört, dass „Was ist?“ so bedeutsam und so zentral in unserem Leben ist, dann könnte es sein, dass wir ihm recht schnippisch begegnen.

Dass wir ihn finster anraunzen:

 

„Ist was?“

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