Die vollständige und bedingungslose Kapitulation

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„Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“

 

Der erste der zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker

 

Und Achtung bitte:

Wir sprechen auch in diesem Text nur von unserer Erfahrung und dem, was wir daraus schlussfolgern. Jeder darf andere Erfahrungen gemacht haben und zu ganz anderen Einsichten gelangt sein.

***

 

 

Das ist etwas, was wir bislang nirgendwo gefunden haben, wenn wir uns mit Psychologie oder Psychotherapie beschäftigten – dass ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die vollständige und bedingungslose Kapitulation eine Grundvoraussetzung für tatsächliche Heilung ist.

 

Sehr merkwürdig.

Wissen die Leute das nicht, oder verschweigen sie es?

Oder ist es für sie so selbstverständlich, dass es für sie keinerlei Erwähnung bedarf?

Wir können uns keinen Reim darauf machen (Sprachbild).

 

Aber im einzelnen.

Worum geht’s?

 

In Zeitlupe:

 

 

1

Ich war Anfang zwanzig und hatte meinen Zivildienst anzutreten. Ich wollte nicht von den Behörden irgendeiner Stelle zugewiesen werden. Also ging ich zum Diakonischen Werk und ließ mir eine Liste aller Einrichtungen geben, die Zivildienstleistende beschäftigten.

 

Es war eine ewig lange Liste. Zivildienstleistende wurden offenbar so ziemlich überall beschäftigt. Sie schienen unverzichtbar für das Funktionieren des gesamten sozialen Sektors zu sein. Nachdem ich mir die Liste genauer angeschaut hatte, kamen für mich drei Einrichtungen in die engere Wahl. Ich klapperte sie ab und sprach mit der jeweiligen Einrichtungsleitung und den Beschäftigten.

 

Ich entschied mich für ein Wohnheim. Es war eine Einrichtung „für strafentlassene und nichtsesshafte Männer.“

78 Betten, eine Großküche, eine Cafeteria und alles, was ein Wohnheim sonst so ausmacht. Hier konnten Männer für eine zeitlang wohnen, die nach langjähriger Haft keine Bleibe mehr hatten und sich neu orientieren mussten.

Und Obdachlose konnten hier auch unterkommen.

Sie lebten ein paar Wochen oder ein paar Monate hier. Danach mussten sie sich was anderes suchen – die Gesetzeslage wollte es so.

 

Harte Jungs. Kaputte Jungs. Echt raue Gesellen. Beinahe wie ein gestrandetes Piratenschiff. Genau das richtige für mich.

 

Schon nach kurzer Zeit hatte ich die üblichen Aufnahmetests der Bewohner alle bestanden, und sie beschlossen, mich zu mögen – was je nach Typ was ganz unterschiedliches bedeuten konnte. Und wenig später sprach sich bei ihnen rum, dass ich absolut verschwiegen war. Was mir gesagt wurde, das blieb bei mir und wurde nicht an die Hauptamtlichen oder an die Heimleitung weitergetratscht – es sei denn, es war Gefahr im Verzug.

 

Und so erzählten mir die Männer. Sie erzählten mir die üblichen Heldengeschichten und den üblichen Stuss. All die Lebenslügen, die sie sich zusammengezimmert hatten, um ihrem gescheiterten und kaputten Leben ein bisschen Glanz und Würde zu verleihen.

Wenn sie im Knast gesessen hatten, dann waren sie samt und sonders Opfer. Sie konnten nichts dafür. Schuld waren die anderen. Immer. Und sie waren Helden!

 

„Du, Stiller, eins will ich dir sagen … der Bulle, der hat mich so provoziert … da hab‘ ich ihm mit einem Stuhlbein die Fresse zu Matsch geschlagen … den mussten sie an den Fingerabdrücken identifizieren. … Zwanzig Jahre habe ich jetzt dafür gesessen. … Aber das war’s mir wert. … Dieser Scheißbulle! … Ehrlich jetzt, Stiller, was hätte ich denn machen sollen?“

 

„Den ersten Safe, den haben wir mit einem Gabelstapler rausgeholt. Einfach so – broch! – durch die Tür mit dem Stapler. Den Safe auf den Gabelstapler, und dann raus damit. Hat auch gut geklappt. Aber dann haben wir ihn nicht aufgekriegt. Und wir haben echt alles versucht. Aber dieses Scheißding ging und ging einfach nicht auf. Also haben wir ihn einfach liegenlassen und den nächsten geholt. … Und dann haben sie mich verpfiffen …“

 

Und so weiter.

 

Die, die nicht im Knast gesessen hatten, waren fast alle in Kinderheimen groß geworden. Sie waren im Kinderheim gewesen, bis sie volljährig wurden und das Heim verlassen mussten. Da sie nicht in der Lage waren, in der erwachsenen Welt Fuß zu fassen und nur das Heimleben kannten, pilgerten sie jetzt durch ganz Deutschland von Männerwohnheim zu Männerwohnheim, um in jedem ein paar Wochen oder Monate zu leben und dann zum nächsten Heim weiterzuziehen.

 

Die erzählten ihre ganz eigenen Geschichten, die sich aber auch alle irgendwie glichen.

 

„Ja, und dann habe ich beschlossen, mir die Welt anzusehen, weißt du? Erst hab‘ ich in Wilhelmshaven auf einem Schiff angeheuert. Weiß ich noch wie heute. „Schöne Louise“ hieß der Kahn. War ein Stückgutfrachter. Aber hochseetauglich. Unsere erste Tour ging direkt nach Panama. Ausgerechnet Panama! Das ist eine ganz andere Welt, weiß du?“

 

„Ich hab‘ da einen Bekannten in Kalkutta. Kenn‘ ich noch aus der Zeit auf der Uni. Der betreibt da eine Bar und einen Souvenirladen. Für Touristen und so. Seine Geschäfte gehen wirklich gut. Der hatte mich eingeladen, ihn mal zu besuchen …“

 

Und so weiter.

Fremdenlegion; Goldsuche in Alaska; Hazienda in Patagonien gehabt; Eigner einer Jacht auf Mallorca; wichtige Erfindung gemacht, aber das Patent war ihnen geklaut worden; adliger Abstammung und Millionenerbe, aber ein böser Verwandter hatte dafür gesorgt, dass sie nichts vom Erbe bekamen … da kam schon was zusammen in diesem Heim. 

 

 

2

Diese Männer waren fast alle alkoholkrank. Ihr Leben ließ sich nicht ertragen ohne die ständige Betäubung durch Alkohol. Und da sie sich ständig mit Alkohol betäubten, blieb ihr Leben so zerstört und perspektivlos, wie es war.

 

Und so gestaltete der Suff beinahe ihr gesamtes Dasein. Im Heim war striktes Alkoholverbot. Auf die Einhaltung dieses Verbots wurde auch sehr geachtet. Aber wenn du den ganzen Tag nichts zu tun hast, dann kommst du durchaus auf Ideen, wie du den Alkohol ins Haus schmuggeln kannst.

 

Und darüber hinaus kannst du den Alkohol auch ganz einfach ins Haus bringen – du trinkst drei Flaschen Vodka und taumelst dann voll wie eine Strandhaubitze zurück ins Heim. Dann ist der Alkohol auch im Haus, und niemand kann ihn dir wegnehmen.

 

Das hatte die üblichen alkoholbedingten Konsequenzen. Eine meiner Aufgaben als Zivildienstleistender war es, dazwischenzugehen, wenn die Männer sich im Suff einander umbrachten. Da ich mich dann zwischen lauter Gewaltverbrechern und extrem gewaltbereiten Nichtverbrechern bewegte, war da regelmäßig was angemischt. Ich hatte gedacht, dass ich den Kriegsdient verweigert hätte, aber das hier, das war auch nicht ohne. Was machst du, wenn ein sturzbetrunkener 120-Kilo-Hüne, zwei Meter groß, gelernter Metzger, mehrfach wegen Mordes und Totschlags verurteilt, mit seinem großen Zerlegebeil über die Gänge stürmt und dabei brüllt:

„Ich bring dich um!“

 

Und hier so ein Tipp am Rande:

Wenn ein Mann einem anderen eine volle Flasche Mineralwasser über den Schädel zieht, die Flasche dabei zerbricht und der Geschlagene mit einer großen Platzwunde am Kopf bewusstlos zu Boden sinkt, vermischen sich Blut und Mineralwasser auf dem Fußboden zu etwas, was weit schlimmer aussieht als es tatsächlich ist. Mach‘ dir da also mal keine Sorgen.

 

Und Waffen kann man ganz häufig dadurch konfiszieren, dass man sagt:

„Oh, das ist aber interessant! Kann ich mir das mal ansehen? Sowas habe ich noch nie gesehen!“

 

Falls man die Waffe auf diese Weise nicht bekommt, muss man sich was anderes kreatives einfallen lassen. Und falls die Kreativität dich im Stich lässt, kannst du immer noch rennen. Normalerweise bist du nüchtern weit schneller als so ein Betrunkener.

 

Wie ich schon sagte:

Gestrandetes Piratenschiff. Fast alle so oft betrunken, wie es nur irgend ging und stets dabei, sich ihr gescheitertes und kaputtes Leben schönzulügen. Am liebsten erzählten sie sich diese Lügen gegenseitig. Damit konnten sie ganze Tage verbringen. Und es war Ehrensache unter ihnen, dass sie einander alles glaubten. Und noch besser war es für sie, wenn sie jemandem, der eher außerhalb des Systems stand, all ihre Geschichten erzählen konnten.

 

„Du … Stiller … ich … ich muss, dir … mal was sagen, aber ganz … ganz ehrlich jetz‘ …nur ganz … ganz unter uns, weissu? Weissu, …. weissu, es is‘ nämlich so …“

 

Die Jungs mochten mich, und ich mochte sie.

 

Und der Tod war ihr ständiger Begleiter.

Ich habe etliche von ihnen begraben.

 

 

3

Ich stellte sehr schnell fest, dass es in diesem Haus eine Automatik gab:

Jede Aufgabe, die niemand gerne machte, landete automatisch beim diensthabenden Zivildienstleistenden.

 

Aber da ich mir für beinahe keine Aufgabe zu schade war, war das nicht weiter wild. Ich war Butler, Hausmeister, Krisenmanager, Lastesel, Müllmann, Küchenhilfe, Beichtvater, Bauarbeiter, Putzhilfe, Straßenfeger, Dienstbote, Handwerker … was eben gerade anlag. Es war wie in so einem alten Film, wo ein düsterer Graf in einem düsteren Schloss wohnt. Das Schloss ist total heruntergekommen. Alle Bewohner sind sehr merkwürdig, und alle haben mindestens ein schreckliches Geheimnis. Und die ganze Zeit wuselt da dieses kleine bucklige Faktotum rum, das überall gleichzeitig zu sein scheint, eine Menge weiß aber nichts sagt, sondern immer nur kichert, wenn man es fragt. Keiner weiß, was mit diesem kleinen, buckligen Faktotum ist, wer es ist und wo es herkommt - aber es erledigt zuverlässig alle anfallenden Aufgaben, damit die Bewohner sich voll darauf konzentrieren können, schön düster und morbide zu sein. Dieses Faktotum war ich – nur dass ich weder klein noch bucklig war.

 

Eines Tages rief mich ein Hauptamtlicher, den ich sehr schätzte, zu sich ins Büro:

„Du Stiller“, fragte er mich, „kannst du eigentlich das Alphabet?“

„Ja.“

„Ich meine das deutsche Alphabet?“

„Ja.“

„Sag mal auf.“

Ich hatte keine Ahnung, um was es jetzt schon wieder ging und sagte das Alphabet auf.

Der Hauptamtliche war zufrieden.

„Komm mal mit“, sagte er zu mir.

Ich kam mal mit.

 

Er führte mich in das Hauptbüro. Vor einem beinahe mannshohen Aktenschrank aus silbernem Metall blieb er stehen.

„Siehst du diesen Schrank?“ fragte er mich.

Ich sah diesen Schrank. Ich nickte.

„Weißt du, was da drin ist?“ fragte er mich.

Ich hatte es schon öfters gesehen.

„Karteikarten“, sagte ich.

„Richtig, Stiller, Karteikarten.“

Der Hauptamtliche öffnete den Schrank. In riesigen Schubfächern waren tausende von Karteikarten gelagert. Der Hauptamtliche holte wahllos eine hervor und zeigte sie mir.

 

„Hier“, sagte er mir, „wir haben für jeden Bewohner, der mal hier war, so eine Karteikarte. Wenn er nach Jahren wieder bei uns auftaucht und wir die Aufnahme machen, dann holen wir seine Karte aus diesem Schrank, und die kommt an seine Akte. Und die Akte ist so lange aktiv, so lange er bei uns wohnt. Danach wird die Akte vernichtet und die Karteikarte wandert wieder in diesen Schrank.“

 

Er fuhr mit der Hand versonnen über hunderte Karteikarten in so einem Schuber. Sein Blick ging in die Ferne. Offenbar war er gerade voller Erinnerungen.

Ich nickte schweigend und wartete ab, was da jetzt wohl kommen würde.

 

„Aber nun ist es leider so“, fuhr er fort, „dass manche von den Kollegen und manche deiner Vorgänger das Alphabet nicht können. Und so kommt es, dass wir manche Karten nicht wiederfinden, weil sie falsch abgelegt sind. Dann legen wir Doubletten an. Von manchen Bewohnern haben wir mittlerweile drei oder vier Karten. Könntest du so gut sein und all diese Karten mal alphabetisch richtig sortieren?“

 

Ich nickte. Ich konnte so gut sein. Solche Aufgaben machte ich gerne.

Der Hauptamtliche schaute mich dankbar an und seufzte erleichtert:

„Dann mach das. Wirst du ein paar Wochen brauchen, für. Aber das macht nichts. Mach das immer, wenn du gerade Leerlauf hast und nichts zu tun. Am besten in der Spätschicht. Hauptsache, diese Karten werden endlich mal vernünftig sortiert!“

 

In den nächsten Wochen saß ich in der Spätschicht (16:00 – 23:30 (danach wurde das Haus abgeschlossen und erst um 05:00 wieder aufgemacht)) oft stundelang auf einem kleinen Hocker vor diesem Aktenschrank und sortierte Karteikarten. Da war wirklich ein ziemliches Durcheinander.

 

 

4

Auf diesen Karteikarten waren alle relevanten Daten der Männer festgehalten:

Nachname, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Paragraph des Sozialgesetzbuches, nach dem er hier bei uns war, Beruf etc.

 

Und es gab ein größeres Feld, in dem alle Ereignisse und Beobachtungen eingetragen wurden, die bedeutsam für einen zukünftigen Heimaufenthalt waren:

 

„L hat gestern im Suff seinen Papagei samt Käfig aus seinem Zimmerfenster (zweiter Stock) geschmissen, weil ihm der Papagei zu laut war.“

 

„M hat gestern in seinem Zimmer ein Feuer aus Zeitungen gemacht, weil ihm zu kalt war.“

 

„St hat zusammen mit P heute Nacht aus Bauresten und Kleiderbügeln einen primitiven Flaschenzug gebastelt. Damit haben sie gegen 02:00 Uhr nachts versucht, eine Frau durch ein Fenster im ersten Stock ins Haus zu bringen …“

 

Solche Highlights waren aber eher die Ausnahme. Auf einer von zwanzig Karten stand sowas drauf. Aber auf allen Karten standen kurze Charakteristiken:

 

„Neigt dazu, seine Mutter oder andere Verwandte mit viel Tremolo in der Stimme sterben zu lassen, wenn er Vergünstigungen haben will.“

 

„Sucht immer die Nähe der Wortführer, denen er dann nach dem Mund redet. Scheint keine eigene Meinung und keine eigenen Ansichten zu haben.“

 

„Ist viel zu freundlich.“

 

„Neigt zu Aggressionen und körperlichen Übergriffen gegen Mitbewohner, die ihm körperlich unterlegen sind.“

 

 

Und so weiter.

 

Wochenlang sortierte ich diese Karten. Ich las mir buchstäblich jede dieser Eintragungen durch. Und so allmählich dämmerte es mir:

„Die beschreiben hier mich.“

 

Mit mindesten neunzig Prozent dieser Charakterisierungen konnte ich mich identifizieren – das alles konnte man mit mehr oder weniger Recht auch über mich sagen. Und das ließ nur einen Schluss zu:

 

„Ich bin ein Alkoholiker nur eben ohne Alkohol.“

 

Ich war hier unter diesen haftentlassenen und nichtsesshaften Männern ganz offensichtlich unter meinesgleichen. Es fehlte nur der Alkohol oder eine andere Suchterkrankung. Und ja, dass ich Abitur hatte, das musste man auch von mir abziehen. Aber sonst stimmte so ziemlich alles.

 

„Sch. wirkt wie ein Stück Treibgut auf dem Meer. Das Meer zieht ihn hierhin und dorthin. Scheint keinen Lebensplan und kein Ziel zu haben.“

 

„A weiß nicht, wer er ist. Er ist mal so, er ist mal so. Sehr abhängig davon, was andere über ihn sagen.“

 

„W müht sich immer, scheitert aber ständig. Egal, was er anfasst, sein Scheitern scheint vorprogrammiert zu sein.“

 

Und so weiter.

 

 

5

Alkoholiker ohne Alkohol – konnte es sowas geben?

Ich fing an, mich schlau zu machen und stieß sehr schnell auf den Begriff der „Suchtpersönlichkeit“.

Mit vielem, was ich dazu las, konnte ich was anfangen. Und dass ich eklatante Schwierigkeiten in meinem Leben hatte, das war ja nun wirklich nicht zu leugnen.

 

Also:

Ok, ich hatte also eine Suchtpersönlichkeit.

Wie kam man denn aus so einer Sucht wieder raus – speziell, wenn man von nichts abhängig war?

 

Ich las viel dazu.

Ich stelle den Hauptamtlichen viele Fragen. Einige von ihnen waren früher selber suchtkrank gewesen. Einer hatte selber viele Monate in diesem Heim gewohnt. Auch seine Karte hatte ich im Karteischrank gefunden.

 

Und so hörte ich sehr viel über Wege aus der Sucht.

Dabei wurden mir drei Dinge klar:

 

a) Es scheint nur einen Weg aus der Sucht zu geben, der zuverlässig funktioniert. Alle anderen Wege funktionieren oder sie funktionieren nicht – das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und dieser eine Weg, der zuverlässig zu funktionieren scheint, ist der Weg der Anonymen Alkoholiker. Diesen Weg scheint buchstäblich jeder Mensch gehen zu können. Und er scheint bei so ziemlich jedem erfolgreich zu sein.

 

b) Wenn du von der Droge loskommst, dann ist schon viel erreicht. Aber den Hauptteil hast du dann noch vor dir: Du hast da immer noch dein Leben, das in Trümmern liegt. Trocken werden ist wichtig, aber es ist nur der erste Schritt. Die eigentliche Arbeit beginnt erst danach.

 

c) Niemand kann mir sagen, was nach dem Entzug kommt. Egal, ob ich Menschen dazu befrage oder dazu was lese, alle machen mir deutlich, dass das Ziel nur sein kann, ein Leben zu führen wie alle anderen. Und das kann es ja nun wirklich nicht sein! Ein Leben zu führen, wie die Allgemeinheit es führt, bedeutet doch, lebendig begraben zu sein!

 

Es musste doch noch was anderes geben! Da war ich mir völlig sicher.

Aber niemand konnte mir dazu was sagen.

Und ich fand auch nichts dazu in all den Büchern und Artikeln, die ich dazu las.

 

 

6

Die Anonymen Alkoholiker haben einen zwölfstufigen Weg. Der ist in ihrem „blauen Buch“ gut beschrieben und mit einfachen Worten erklärt.

Der erste Schritt ist die vollständige und bedingungslose Kapitulation:

 

„Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“

 

Recht simpel also:

Ich habe alles versucht, aber der Alkohol ist stärker als ich. Nicht ich lebe, sondern der Alkohol lebt mich. Ich bin das Reittier, und der Alkohol ist der Reiter. Ich muss tun, was der Alkohol sagt.

 

 

7

Schnitt.

Ungefähr ein halbes Jahr nach meinem Zivildienst:

 

Ich stelle fest, dass ich in meinem Leben tatsächlich alles ausprobiert habe und dass nichts gefruchtet hat. Ich bin machtlos gegenüber der Zerstörung, die in meinem Leben ist und die mich von innen langsam aber sicher zerfrisst – vollkommen machtlos.

Ich habe mein Leben komplett an die Wand gefahren und nach meiner Einschätzung noch anderthalb bis zwei Jahre zu leben. Jetzt muss was ganz anderes her. Irgendwas, was ich mir nicht ausdenken oder herstellen kann.

 

Ich kapituliere tatsächlich vollständig und bedingungslos und beschließe, eine wirksame Psychotherapie zu beginnen.

 

 

8

Schnitt.

Ein Jahrzehnt später.

 

Ich habe in diesem Therapiekeller mittlerweile über hundert Menschen kennengelernt. Bei manchen schlägt die Therapie an. Andere drehen sich die ganze Zeit im Kreis. Wieder andere brechen schon nach wenigen Monaten ab und machen was ganz anderes.

 

Ich habe diese Menschen alle recht intensiv und tief kennengelernt, denn das hier ist keine Therapie, bei der man spricht. Hier geht man direkt rein in die Gefühle und in die Situationen.

 

Allmählich wird mir klar, was der Unterschied zwischen denen ist, die Gewinn aus dieser Therapie ziehen und denen, die abbrechen oder sich im Kreis drehen:

 

Ausnahmslos alle, von denen ich den Eindruck habe, dass sie wirklich Gewinn aus dieser Therapie ziehen, kamen in diesen Keller, als sie absolut am Ende waren. Sie hatten bedingungslos und vollständig kapituliert, als sie hier anfingen.

 

Alle anderen hatten sich noch zig Hintertürchen offengelassen, als sie hier begannen. Sie kamen, weil es ihnen wirklich schlecht ging. Aber nicht, weil sie vollkommen am Ende waren.

 

 

9

Schnitt.

Heute.

 

Ich habe weiterhin den Eindruck, dass das der Unterschied ist zwischen

a) Heilung und

b) Besserung der Symptome:

 

Hast du vollständig und bedingungslos kapituliert oder nicht?

 

In all diesen Jahrzehnten haben sehr viele Menschen mit sehr viel Potenzial meinen Lebensweg gekreuzt. Hunderte. Bei ausnahmslos allen habe ich erlebt, dass es bei einer Besserung der Symptome blieb, wenn sie nicht vollständig und bedingungslos kapituliert hatten. Eine wirkliche Heilung war ihnen anscheinend nicht möglich.

 

Es ist nichts dagegen zu sagen, dass jemand eine Psychotherapie macht, weil er will, dass es ihm besser geht. Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) sagen:

Das ist sicher aller Ehren wert.

 

Aber wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) wollen mehr!

Viel mehr!

Wir geben uns nicht zufrieden mit einer Besserung der Symptome.

Niemals!

 

Unsere Erfahrung ist:

Wenn du wirklich heilen willst, dann musst du hinschmeißen. Ohne jede Vorbehalte und ohne jeden Hintersinn. Nüchtern, sachlich, ohne jede Dramatik und ohne jede Theatralik:

Ich kapituliere vollkommen und ohne jede Bedingung vor der Zerstörung, die in meinem Leben ist und stelle ab sofort jegliche Kampfhandlungen ein.

 

Ich kann mein Leben nicht mehr meistern. Jemand anders muss jetzt übernehmen.

 

 

10

Ausblick

 

Der zweite Schritt der Anonymen Alkoholiker lautet:

 

„Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“

 

Das entspricht auch unserer Erfahrung.

 

Wir würden dabei aber nicht von „Glaube“ sprechen, sondern von „Einsicht“, aber wie man das jetzt nennt, das ist uns letztlich egal. Wir können uns nicht selber heilen – das müssen wir an eine Macht außerhalb von uns abgeben: An eine Macht, die größer ist als wir selbst.

 

 

Aber vor allem anderen steht nach unserer Erfahrung die vollständige und bedingungslose Kapitulation. Ohne die geht nach unserer Erfahrung gar nichts. Jedenfalls keine Heilung.

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