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Die Sprüche der Ahnungslosen 07–Davon stirbt man nicht

Das habe ich früher viel häufiger gehört als heute. Aber auch heute noch höre ich das viel zu oft. Und vermutlich ist diese Ansicht immer noch sehr weit verbreitet:

 

Davon stirbt man nicht.

 

Worum geht’s?

Jemand macht eine schreckliche Erfahrung, und er sagt sich danach selbst oder andere sagen ihm dann:

 

„Davon stirbt man nicht.“

 

Das gibt’s auch im Englischen:

„It won’t kill you.“

 

 

Ich will dem gegenüberstellen, was ich vor einiger Zeit von einem Angehörigen eines Afghanistan-Veterans hörte:

„Seinen Körper haben sie mir zurückgeschickt. Seine Seele ist irgendwo in Afghanistan zurückgeblieben.“

 

 

Ja, wir überleben körperlich sehr vieles. Der Mensch ist ein unglaublich zähes Wesen. Was ein Mensch alles durchstehen kann, das ist echt bemerkenswert. Gleichzeitig gilt jedoch auch, dass unsere Seele immer sehr verletzlich und tötbar ist.

 

Die Welt ist voller Menschen, die körperlich am Leben sind, die aber schweren Schaden an der Seele genommen haben. So schweren Schaden, dass Teile ihrer Seele tot oder quasi-tot sind.

 

Zum Glück gerät die Verletzlichkeit und die Tötbarkeit der menschlichen Seele in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit:

Allenthalben fangen Erwachsene an zu erinnern und zu berichten, wie sie als Kind misshandelt wurden – in Schulen, Heimen, Vereinen, Glaubensgemeinschaften, auf Freizeiten etc. -, und was für schreckliche lebenslange seelische Verletzungen sie davon behalten haben.

 

Solche Verletzungen heilen nicht mit der Zeit. Sie werden überdeckt vom ständigen Gebrumm des Alltags, aber sie sind immer da – Tag und Nacht -, unser ganzes Leben lang. 

Wer auf diese Weise verletzt wurde und nicht eine wirksame Behandlung bekommen hat, der leidet sein ganzes Leben. Wenn ein Teil deiner Seele tot ist, dann beeinträchtigt das deine Lebensqualität ganz enorm.

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) forschen seit geraumer Zeit ziemlich viel zum Thema „Trauma und seelische Verletzung“.

 

Dabei finden wir vor allem drei Dinge

 

1

Wir finden eine völlige Überbeanspruchung des Begriffes „Trauma“ sowie einen geradezu inflationären Gebrauch von „Trauma“.

Die Leute werden in der letzten Zeit offenbar von so ziemlich allem „traumatisiert“ – wenn sie ihren Bus verpasst haben, wenn jemand hässliche Sachen zu ihnen gesagt hat, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen, wenn ihr Lieblingsverein absteigt, wenn jemand nicht richtig gendert. - Trauma hier, Trauma da, überall Trauma. So ziemlich alles, was unangenehm ist, kann auf einmal zum „Trauma“ werden.

 

Das ist natürlich Unsinn.

 

Genauso wenig wie es eine Krise ist, wenn das Klopapier alle ist (auch wenn alle Medien in dieser Situation verkünden, dass es eine „Krise“ ist), ist es ein Trauma, wenn man unangenehme Alltagserfahrungen macht.

 

Trauma ist eine ernsthafte seelische Verletzung, die daraus resultiert, dass unser komplettes System – Körper, Seele, Gedanken, Gefühle – eine schreckliche Erfahrung nicht verarbeiten und integrieren konnte.

 

Vielleicht sollten die, die in den (a)sozialen Medien und auch sonst öffentlichkeitswirksam verkünden, was sie alles traumatisiert hat, einmal innehalten. Sie sollten innehalten und ernsthaft darüber nachdenken, was ihre wehleidige und dramatisierende Inflationierung des Begriffes „Trauma“ in denen auslöst, die tatsächlich ernsthaft traumatisiert wurden.

 

 

2

Wir finden einen sehr mageren Forschungsstand.

Nach allem, was wir sehen können, ist es erst in Ansätzen verstanden und erforscht, was ein Trauma im Körper verursacht. Die Menschheit scheint erst ganz am Anfang zu stehen, zu begreifen, was ein Trauma im Gehirn und im restlichen Körper verursacht.

 

Unser Eindruck ist:

Die Menschheit weiß heute so viel von Trauma wie sie vor 200 Jahren von der allgemeinen Medizin wusste. – Da sind sehr vielversprechende Anfänge, aber unheimlich viel ist noch die reine Quacksalberei und uralter Aberglaube. Es gibt noch so viel zu tun und so viel zu erforschen!

 

 

3

Wir stoßen, wenn wir uns Heilungsansätze anschauen, vor allem auf eine sehr bemühte Hilf- und Ahnungslosigkeit.

Wohl verstanden:

Uns geht es nicht um Methoden, die helfen sollen, mit den Folgen des Traumas besser umgehen zu können. Da gibt es mittlerweile einiges. Das ist uns aber viel zu wenig. Wir wollen nicht Besserung der Symptome, wir wollen Heilung. Mit weniger geben wir uns nicht zufrieden.

 

Die Leute (Ärzte, Therapeutinnen, Sozialarbeiter, Helferinnen) sind echt bemüht und engagiert, überhaupt keine Frage.

 

Aber bislang finden wir nicht einen einzigen Heilungsansatz, wo wir sagen:

Interessant – lass‘ uns das weiterverfolgen und systematisch ausbauen.

 

Nicht einen einzigen!

 

Das, was dem einen hilft, zeigt beim anderen keine Wirkung oder bewirkt sogar noch eine Verschlimmerung. Wer heute spürt, dass er traumatisiert ist, der kann auf der Suche nach Heilung oft von Pontius bis Pilatus laufen (Sprachbild), bis er auf jemanden trifft, wo beides zusammenkommt:

a)    Der Mensch passt

b)    Die Methode ist wirksam

 

***

 

Vermutlich hängen die Punkte 2) und 3) unmittelbar zusammen.

Wir haben den Eindruck, dass es ganz unterschiedliche Arten und Formen von Traumata gibt. Und so, wie man nicht alle Fiebererkrankungen in einen Topf schmeißen und gleich behandeln kann, muss man vermutlich auch bei schweren seelischen Verletzungen viel stärker differenzieren.

 

Ein Engländer sagte uns vor einiger Zeit dazu:

„My cup of tea might be your cup of poison.” – Was für mich eine Tasse Tee ist, kann für dich das reine Gift sein.

 

 

Was aber gar nicht geht – echt und überhaupt nicht -, das ist, wenn auch heute noch jemand über schreckliche und traumatisierende Erfahrungen sagt:

„Davon stirbt man nicht!“

 

Doch, davon stirbt man. Und wie!

Deine körperliche Hülle lebt noch weiter und kann vermutlich noch Jahre weiterfunktionieren.

Aber was ist mit deiner Seele?

Du magst noch am Leben sein. - Aber du bist nicht mehr lebendig.

 

Deshalb überlege dir bitte genau, was du tust, wenn du dir oder anderen sagst:

„Davon stirbt man nicht!“

Gilt das für den Körper?

Gilt das gleichermaßen für die Seele?

 

Und bedenke bitte:

Wenn deine Seele stirbt oder in Teilen stirbt, bekommst du davon in aller Regel gar nichts mit. Also zieh dich nicht zurück auf: „Das hat mir auch nicht geschadet!“ Es kann Monate oder sogar Jahre dauern, bis du nach dem belastenden Ereignis registrierst, dass da ein Teil deiner Seele gestorben ist.

 

Und die, die es betrifft, werden das wissen:

Trauma verjährt nicht. Das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Mir ist bislang völlig schleierhaft, wie das funktioniert, aber ich habe mittlerweile so viele Belege dafür, dass ich sicher sagen kann:

Ein Trauma, das in der einen Generation nicht geheilt wird, das wird eins zu eins an die nächste Generation weitergegeben. Das wird zehn Generationen und länger immer weiter gereicht wie ein vererbbarer Wanderpokal. Und leider kann kein Kind dieser Welt diesen Wanderpokal ablehnen.

 

Wenn deine Seele stirbt, dann stirbt sie fast immer lautlos. Und sie stirbt, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen oder dir zu sagen, wohin sie gegangen ist.

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) können dir versichern:

Du wirst sie vermissen, deine Seele. Und sie zu suchen und zu finden und danach den langwierigen Prozess der Heilung anzustoßen, kann dich locker dein restliches Leben beschäftigen.

 

Also halt‘ dich zurück mit Sprüchen, wenn du oder andere mit stark belastenden Situationen konfrontiert sind.

Wir sind alle sehr verletzbare und tötbare Wesen. Das sind wir immer und jederzeit.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Pia (Donnerstag, 27 April 2023 15:56)

    Vielleicht ist es ja so: Geheilt bin ich, sobald ich vergeben habe. Der Person, die mir das Trauma zugefügt hat. Dafür brauche ich Verständnis für ihr Handeln. Das habe ich erst, wenn ich mich in einer ähnlichen Situation genauso verhalte. Und schon habe ich meinem Kind das gleiche Trauma zugefügt.

  • #2

    Stiller (Freitag, 28 April 2023 21:07)

    Ich kann dazu nur wenig sagen, weil es mir an Erfahrung und an Kenntnissen fehlt.

    In meiner Welt ist es so:
    Damit ein Trauma heilen kann, muss ich es
    a) in mir wiederfinden, es also erinnern und mir bewusst machen
    b) als etwas Vergangenes im Langzeitgedächtnis ablegen.

    Bis dahin läuft die traumatische Situation Tag und Nacht in Endlosschleife in mir als eine Gegenwart, die nie vergeht. Das geschieht in Bereichen von mir, die mir nicht bewusst sind, die aber dennoch zu mir gehören. In diesen Bereichen von mir ist also Hölle, Vernichtung und Katastrophe, ohne dass ich das weiß. Und dennoch ist es hochwirksam - es führt zu wirklich schlechten Gefühlen, zu Krankheit und zu frühem Tod. - Ein vergeudetes Leben.

    Vergebung ... davon weiß ich sehr wenig.
    Bislang habe ich es ausschließlich so erlebt, dass die Menschen, die mir was dazu sagten, auf mich sehr wenig überzeugend wirkten.

    Demnächst erscheint ein Blogtext, der diese Zusammenhänge zum Thema haben wird. Er spiegelt natürlich nur meine Sicht der Dinge wider - jeder darf eine andere haben.

  • #3

    Grauert (Montag, 05 Juni 2023 21:40)

    Wenn man von jedem Trauma sterben würde, wäre das Zeitalter der Tiere mit einem komplexen Gehirn wie Säugetiere oder Vögel, eventuell auch Reptilien, vermutlich schon lang vorbei. Das ist nun mal einer der Nachteile eines komplexen Gehirnes. Ermutigend: Für die Arterhaltung ist eine gesunde Seele nicht primär notwendig. Der Verlauf der Evolution zeigt es. An irgendwas wird jeder Vielzeller irgendwann sterben.