Ich hab‘ keine Zeit! 02 – Das Seelenprisma

Prolog

Tausende Jahre waren die Menschen überzeugt, dass Licht etwas einheitliches ist. Licht ist eben Licht, nicht wahr? Licht ist rein und schön und formvollendet, es ist eine perfekte Einheit – das kann doch jeder sehen, oder?

 

Dann kam Sir Isaac Newton.

Er interessierte sich dafür, was Licht tatsächlich ist. Er hielt ein Prisma in den Lichtstrahl. Dabei stellte er fest, dass sichtbares Licht keine Einheit ist, sondern aus einem ganzen Bündel farbiger Teilchen besteht. Ja, für Sir Isaac Newton bestand Licht aus kleinsten farbigen Partikeln.

 

Er machte weitere Experimente und hielt zum Beispiel ein Prisma in den grünen Teil des Lichts. Dabei stellte er fest, dass das grüne Licht nicht in weitere Spektren zerfiel. Grünes Licht war also tatsächlich grünes Licht und nicht seinerseits zusammengesetzt aus irgendwas anderem.

 

 

Schnitt.

 

Kommen wir zum Thema:

Ich hab‘ keine Zeit!

 

Im ersten Teil dieses Textes habe ich etwas dazu geschrieben, warum ich keine Zeit habe, (1) wenn Menschen an mir herumkritteln bzw. kein Verständnis für das haben, was ich tue und (2), wenn Neurowissenschaftler Dinge behaupten, die gar nicht stimmen können.

 

Heute will ich mich zu meiner Ungeduld äußern, die ich immer habe, wenn ich Menschen erkläre, wie sie funktionieren und das in Frage gestellt wird. Das ist dann das dritte Beispiel für Dinge und Ereignisse, wo ich sehr ungeduldig bin und einfach keine Zeit habe.

 

Also los.

 

 

3

Das macht einen großen Teil meiner beruflichen Arbeit aus:

NTs anschaulich erklären, wie sie funktionieren: Wie sie fühlen, wie sie denken, wie sie sich verhalten, aus welchen Gründen sie das tun, und warum all das, was sie fühlen, denken und tun, einfachen, logischen Regeln folgt und daher sehr vorhersagbar ist.

 

Ich sage den NTs im Detail, wie ihre Wohnung aussieht, auch wenn ich noch nie dort war und sie mir noch nie davon erzählt haben.

Ich sage ihnen, wie sie ihren Urlaub verbringen.

Ich sage ihnen, welche Gestik sie mir gleich zeigen werden.

Ich erzähle ihnen, wie ihr Kleiderschrank von innen aussieht.

Und so weiter.

 

Manchmal mache ich auch das, was ich „Varieté spielen“ nenne:

Jemand, den ich noch nie gesehen habe, kommt in den Raum, und ich sage ihm seine Zukunft voraus. Das kann ich nicht mit jedem, aber mit vielen.

 

Ein Beispiel:

Dieser Mann war knapp 60 Jahre alt. Er war Teilnehmer in einem meiner Seminare. Ich hatte ihn noch nie gesehen und noch nie von ihm gehört. An seinem Gesicht und an der Art, wie er sich an seinen Platz setzte, sah ich, dass ein bestimmter Persönlichkeitsanteil bei ihm absolut dominant sein musste.

Während der Vorstellungsrunde sprach er ausführlich davon, wie er sein Leben geplant hatte, und dass er in fünf Jahren – mit 65 – in Rente gehen wollte.

Ich sagte ihm spontan:

„Nee, du nicht.“

Er hörte nicht hin und redete weiter. Er hatte geplant, was er sagen wollte und ließ sich davon nicht abbringen. Dann aber beschloss er, doch hinzuhören:

„Was hast du gesagt?“

„Ich habe gesagt: „Nee, du nicht.“ Du wirst nicht mit 65 in Rente gehen.“

„Ja, aber wieso denn nicht?!“

„Das schauen wir uns in diesem Seminar an.“

„Aber ich gehe mit 65 in Rente! Ich habe das alles schon perfekt geplant! Alles! Es ist alles vorbereitet!“

„Das glaube ich dir. Aber du gehst nicht mit 65 in Rente. Ganz sicher nicht.“

„Aber natürlich gehe ich mit 65 in Rente!“

„Ich könnte jetzt mit dir wetten, aber das wäre unethisch. Ich lade dich ein, dir das in diesem Seminar mal anzuschauen. Ich werde die Mechanismen vorstellen, die uns in unserem Leben steuern, und wenn es dir recht ist, werde ich an der entsprechenden Stelle aufzeigen, warum du nicht mit 65 in Rente gehst.“

„Da bin ich aber mal gespannt!“

„Das kannst du auch sein!“

 

Sowas mache ich nur in Ausnahmefällen, wenn ich den Eindruck habe, dass mein Gegenüber aufnehmen und annehmen kann, was ich sage.

Neulich war mir zum Beispiel in einem Coaching sonnenklar, dass das, was mir mein Gegenüber erzählte, bedeutete, dass er in ungefähr einem Jahr seine Ehe beenden und mit einer Geliebten durchbrennen würde – mit einer Geliebten, die er noch gar nicht hatte bzw. kannte. Aber ich sagte nichts. Denn mein Gegenüber hatte mir gerade von seiner Frau vorgeschwärmt, wie viel ihm seine Kinder bedeuteten etc. Ich sagte nichts. Absolut nichts. Und das halte ich in den allermeisten Fällen so.

 

Bei dem Seminarteilnehmer, von dem ich hier schreibe, war das anders. Da sagte ich was. Und er war tatsächlich so aufnahmebereit und so neugierig, dass er sich einließ. Und als ich einen Tag später die Mechanismen vorstellte, die uns im Leben steuern, wurde er nachdenklich.

„Jaaaa“, sagte er dann, „das stimmt schon alles … irgendwie … aber ich bin immer noch felsenfest überzeugt, dass ich mit 65 in Rente gehen werde. Ich hab‘ das alles so geplant, und das ziehe ich auch durch! Ich halte mich immer an meine Pläne! Wenn ich was geplant habe, dann ziehe ich das auch durch! Da bin ich absolut zuverlässig!“

Ich hatte ihm sehr dezidiert vorgestellt, was er stattdessen tun würde. Ich hatte ihm im Detail aufgezeigt, wie er vorgehen würde und wie er sein Verhalten begründen würde. Mehr hatte ich dazu nicht zu sagen, deshalb antwortete ich ihm:

„Ich wünsche dir das. Du hättest es verdient, mit 65 in Rente zu gehen und dich auszuruhen.“

 

Vor einigen Jahren hatte ich den bislang letzten Kontakt mit ihm. Er rief mich an. Er war gerade 70 geworden und versicherte mir mit aller Überzeugung, dass er jetzt „aber wirklich“ in Rente gehen würde.

„Ich höre auf zu arbeiten, Stiller! Endgültig! Ich hab’s dem Inhaber der Firma gesagt. Ich arbeite auch nicht mehr nebenher für ihn …“ er erzählte mir noch einiges mehr. Und als er schloss, antwortete ich ihm:

„Ich wünsche dir das. Du hättest es verdient, in Rente zu gehen und dich auszuruhen.“

 

 

Ein anderes Beispiel:

Ich habe im Seminar einen Teilnehmer, der eine sehr starke Dominanz in einem bestimmten Persönlichkeitsbereich aufweist. Er erzählt von sich und seiner Frau. Er liebt seine Frau über alles, sie bedeutet ihm sehr viel. Aber so, wie er seine Frau beschreibt, ist sie sehr anders als er. Und mit ihrer Persönlichkeit ist es ihr vermutlich unmöglich, ihn zu begreifen.

 

Der Teilnehmer berichtet davon, dass er für sich und seine Frau jetzt das neunte Haus bauen will. Er hat die Planung des Hauses beinahe abgeschlossen und will in ein paar Monaten mit dem Bau beginnen. Er berichtet das in der ihm eigenen Weise – beinahe wie ein Kind, das einen neuen Baukasten bekommen hat und ihn unbedingt ausprobieren will.

 

„Und?“ frage ich den Teilnehmer.

„Was ‚und‘?“

„Hast du es deiner Frau schon gesagt?“

„Wie?“

„Hast du es. Deiner Frau. Schon gesagt?“

„Was? – Dass ich jetzt mit dem Bau von diesem Haus beginnen will? Das weiß die doch schon alles. Die ist nicht glücklich darüber, aber sie weiß es. Die hat schon beim achten Haus gehofft, dass es diesmal das letzte ist. Aber dieses eine musste ich noch bauen. Sie bereitet auch schon den Umzug vor.“

„Das meine ich nicht. Hast du es deiner Frau schon gesagt?“

„Was?“

„Hast du es deiner Frau schon gesagt?!“

 

Der Mann versteht. Er wird von jetzt auf gleich sehr traurig und hat den Mut, sich – und auch der Gruppe – das einzugestehen. Tränen steigen in seine Augen, er fängt fast an zu weinen. Ich kann das gut verstehen.

 

Er lässt den Kopf sinken.

„Nein“ sagt er dann sehr leise, aber doch so laut, dass es zu verstehen ist.

 

Die Gruppe ist ratlos.

Die Gruppe hat von unserem Dialog nichts verstanden. Was ging hier vor?

Alle in der Gruppe sind betroffen und ratlos. Sie schweigen.

 

Nach einiger Zeit des Schweigens frage ich den Teilnehmer:

„Darf ich der Gruppe sagen, was du deiner Frau nicht gesagt hast?“

Er nickt nachdrücklich.

Ich wende mich an die Gruppe:

„[Name] hat seiner Frau nicht gesagt, dass nach dem neunten Haus auch das zehnte kommen wird.“

Ich wende mich an den Teilnehmer:

„Hast du den Baugrund schon gefunden?“

Er nickt und sagt dann:

„Das ist auch schon alles klar. Ich hab‘ das Vorkaufsrecht, und ich weiß auch schon ganz genau, was das für ein Haus werden soll. So ein Haus hat die Welt noch nicht gesehen! Absolut fantastisch wird das!“

Ich frage weiter:

„Und was kommt nach dem zehnten Haus?“

„Das elfte“ sagt er tonlos und schweigt dann wieder.

Ich spreche weiter:

„Und dann kommt das zwölfte und dann das dreizehnte, und deine Frau hofft jedes Mal, dass es jetzt aber wirklich das letzte Haus ist, und dass sie irgendwo bleiben kann.“

Er nickt nachdrücklich.

„Würde es dich interessieren, wenn wir uns im Verlauf des Seminars anschauen, wie es in deiner Frau aussieht, und wie ihr einen Weg finden könnt, dass ihr beide zu eurem Recht kommt – du mit deinem Häuserbau und sie mit ihrem Wunsch, sich irgendwo dauerhaft niederzulassen und sich ein behagliches Nest einzurichten?“

 

An seiner Körpersprache ist zu sehen, dass ihn das sogar sehr interessieren würde.

 

Schnitt

 

Was will ich mit diesen Beispielen ausdrücken?

Ich will damit ausdrücken, dass ich – verglichen mit der Normalbevölkerung – deutlich mehr darüber weiß, wie es in Menschen aussieht, was sie antreibt und was sie tun, denken und fühlen werden.

 

Natürlich bin ich fehlbar, so wie jeder andere Mensch auch. Aber in diesen Dingen irre ich mich deutlich seltener als andere.

Der Mensch ist auch in seinem Inneren vollkommen logisch. Es gibt bei dem, was uns antreibt und bei unseren Gefühlen buchstäblich nichts, was unlogisch ist. Und wer die grundlegenden Mechanismen und Naturgesetze kennt und gleichzeitig weiß, woran man ihr Wirken erkennt, dem sind genauso klare und treffsichere Aussagen und Vorhersagen möglich wie mir.

 

Es geht also nicht darum, dass ich irgendein Geheimwissen habe – all das Wissen, über das ich verfüge, ist öffentlich zugänglich. Dieses Wissen ist logisch aufeinander aufgebaut und jederzeit an der Wirklichkeit überprüfbar. Du musst dafür also auch nichts glauben.

Es geht auch nicht darum, dass man irgendwelche besonderen Gaben dafür haben muss. Du musst eins und eins zusammenzählen können, und du musst sehr viel Übung beim Beobachten haben, aber das ist auch schon alles.

Der Rest ist jahrzehntelange Praxis – Übung macht den Meister.

 

 

Häufig erlebe ich dieses:

Menschen, die es nicht gewohnt sind, in sich zu schauen (und das sind die allermeisten), hören sich an, was ich zu sagen habe oder sie lesen, was ich schreibe, und äußern sich dann so:

 

Das ist jetzt aber sehr weit hergeholt.

Das glaube ich nicht.

Ich finde das jetzt aber sehr überheblich, was du da jetzt sagst.

Das ist ziemlich blasiert von dir.

Das wirkt doch schon ziemlich übertrieben. Das kannst du doch alles gar nicht wissen.

Das ist doch alles esoterisch! Also ich glaub‘ da nicht dran!

Da muss man aber schon ziemlich viel glauben, um das so sehen zu können!

Das sind aber alles schon sehr gewagte Thesen!

 

Ich höre mir das an bzw. lese mir das durch. Im Regelfall sage und schreibe ich nichts dazu.

Warum sage und schreibe ich nichts dazu?

 

Diese Menschen argumentieren auf der Basis:

„Ich kenne das nicht, also gibt es das nicht.“

Und das ist für mich keine Grundlage für eine Diskussion.

 

Ich habe häufig diese Erfahrung gemacht:

Irgendwann – zum Teil Jahrzehnte später – kommen eben diese Leute wieder auf mich zu. Sie haben irgendwelche Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen waren krisenhaft für sie. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass sie die Dinge jetzt anders sehen, erleben und bewerten. Sie haben gelernt, zumindest ein wenig in sich zu schauen.

 

Diese Erfahrungen waren für sie so, als würde jemand ein Prisma in ihre Seele halten – auf einmal sehen sie, dass das, was für sie früher immer eine Einheit oder unverstehbares Dunkel war, in Wirklichkeit aus vielen gut sichtbaren Teilen besteht. Sie sehen, dass diese vielen gut sichtbaren Teile sehr fein und absolut logisch aufeinander abgestimmt sind.

Diese Teile waren schon immer in ihnen, und sie haben schon immer auf diese Weise miteinander interagiert. Und das ist alles wunderbar verstehbar und vollkommen logisch.

 

Was sage ich dazu?

 

Ich sage dazu:

Ich kann dir sagen, wie die Dinge in meiner Welt sind, und wie sie dort aussehen.

Selbstverständlich hast du das Recht, das in deiner Welt völlig anders zu sehen.

Du hast dein Recht auf deine Sicht der Dinge. Und wenn du felsenfest davon überzeugt bist, dass weißes Licht nur weißes Licht ist und sonst nichts, und dass es schon sehr esoterisch, blasiert oder anmaßend ist, wenn man was anderes behauptet, dann nehme ich das zur Kenntnis.

 

Aber ich warte nicht, bis du dein Seelenprisma findest.

Dafür hab` ich keine Zeit.

 

Ich argumentiere nicht mit Menschen, die behaupten, dass die Erde flach ist.

Ich argumentiere nicht mit Menschen, die mir was von Chemtrails erzählen wollen.

Ich argumentiere nicht mit Menschen, die wissen, dass es nur das geben kann, was sie kennen und wissen.

Ich argumentiere nicht mit Menschen, die bereits alles wissen.

 

Und wenn du kein Seelenprisma hast, dann kann ich es dir auch nicht herbeiargumentieren.

Ich kann auch nicht warten, ob du irgendwann eins findest.

 

Das ist alles vollkommen fruchtlos, und ich hab‘ dafür keine Zeit.

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