Das Labyrinth

*** Dieser Text kann triggernd sein. ***

 

 

Als Jugendlicher und als junger Erwachsener eierte ich viele, viele Jahre ziemlich halt- und orientierungslos durch mein Leben. Ich war ständig auf der verzweifelten Suche nach irgendwas, woran ich mich halten und wonach ich mich orientieren konnte.

 

Ganz lange hatte ich den Eindruck, dass ich jeden beliebigen Charakter annehmen konnte.

Ganz lange waren meine Gefühle so x-beliebig, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich da tatsächlich gerade was fühlte oder ob ich die Simulation eines Gefühls erlebte. Es schien so, als ob ich Gefühle an- und ausknipsen konnte.

Wer um alles in der Welt war ich?

Was fühlte ich?

Wenn ich was fühlte – welcher Teil in mir fühlte das und welcher nicht?

Was machte mich aus?

 

Und ganz oft fühlte ich auch einfach gar nichts. Wenn die Gefühle ausgeschaltet waren, dann blieb da nichts zurück als eine gewisse Kälte und Dumpfheit.

Beinahe nichts drang zu mir durch. Umgekehrt war es genauso: Ich drang zu nichts und zu niemandem durch. Dass ich den Eindruck hatte, irgendwen oder irgendwas wirklich zu erreichen, war ganz selten. Ich war fast immer gefangen in einer Blase von kalter Einsamkeit.

 

Und beinahe ständig beschäftigte mich die Frage:

„Was ist?“

Damit war gemeint: Was ist tatsächlich da und existiert nicht nur in meiner Vorstellung oder ist eine gemeinsam geteilte Illusion?

Ich wandte mich in dieser Sache an die Philosophen und las ziemlich viel, was sich unter „Erkenntnistheorie“ zusammenfassen ließ.

Platon, Descartes, Hume, Kant, Heidegger, Carnap, Wittgenstein …

Diese Leute hatten viele kluge Sachen geschrieben, aber es brachte mich nicht einen Millimeter weiter.

 

Und beinahe ständig beschäftigte mich die Frage:

„Was ist „ich“?“

Immer, wenn ich was fühlte, gab es sehr interessierte Teile in mir, die gar nichts fühlten und das alles aufmerksam beobachteten und sich Notizen dazu machten. Oder anders ausgedrückt: Ein Teil von mir fühlte irgendwas und der andere schaute völlig gefühllos dabei zu.

Immer, wenn ich was dachte, war es genauso: Ein Teil von mir dachte irgendwas, und ein anderer Teil von mir registrierte aufmerksam, was ich mir da so zusammendachte.

Und Handlungen – dass ich spontan und unbeobachtet von mir selber irgendwas tat, kam praktisch nicht vor. Ich beobachtete mich bei buchstäblich jeder Handlung selber und registrierte aufmerksam jedes Detail dieser Handlung. Beinahe immer hinterfragte der beobachtende Teil von mir, was ich da gerade tat: „Warum tue ich das jetzt?“

 

Das alles wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn die emotionale Grundfärbung meines Lebens nicht gewesen wäre, dass es mir schlecht ging. Richtig schlecht. Richtig, richtig schlecht. Ich litt Tag und Nacht - jeden Tag und jede Nacht. Manchmal ging es mir weniger richtig schlecht, manchmal ging es mir stärker richtig schlecht. Aber richtig schlecht ging es mir immer.

 

Es ging mir immer richtig schlecht, und ich fand keinen Ausweg, obwohl ich so ziemlich alles ausprobierte, was ich fand und was mir angeboten wurde.

Konzentrationsübungen

Musik machen und hören

Ablenkung und Zeitvertreib

Denken

Sich Ziele setzen und sie erreichen

Sport treiben

Literatur

Kunst

Geselligkeit mit anderen

Freundschaft

Beziehung

Positives Denken

Religion

Philosophie

Politik

Psychobücher und Ratgeber lesen (tonnenweise)

Und so weiter

Und so weiter

 

Half alles nichts. Irgendwann wurde mir klar, dass das mein Leben war – mein Leben war ein unentrinnbares Labyrinth aus „Es geht mir schlecht“. Egal, welche Alternative ich in diesem völlig unüberschaubaren Labyrinth auch wählte, es würde immer mit naturgesetzmäßiger Notwendigkeit hinauslaufen auf irgendeine Form von

„Es geht mir schlecht.“

 

Also damit das ganz klar ist:

Ich stellte fest, dass mein gesamtes Leben dieses Labyrinth war. Es war also nicht so, dass es irgendein Leben für mich außerhalb dieses Labyrinths gab. Und egal, wo ich in diesem Labyrinth war – jede, ausnahmslos jede Stelle dieses Labyrinths atmete:

„Es geht mir schlecht.“

 

Später im Leben traf ich recht häufig auf Menschen, die das Gefühl hatten, in einer Art Ausweglosigkeit oder Sackgasse zu stecken. Das ist hier nicht gemeint. „Ausweglosigkeit“ oder „Sackgasse“ waren in meinem Leben noch nie Thema. Ganz tief in mir verankert ist dieses: „Irgendwas geht immer.“ und „Wenn es nicht so geht, dann geht es eben anders.“

Meine Situation war also nicht:

„Ich stecke fest.“ oder

„Ich befinde mich in einer Sackgasse.“

Nein, mir stand bildlich gesprochen ein ganzer Planet mit all seinen vielfältigen Möglichkeiten zur Verfügung. Der gesamte Planet war ein einziges Labyrinth. Und dieses Labyrinth war gemauert aus „Mir geht es schlecht.“

Wie verlässt du so ein Labyrinth?

Wie verlässt du so einen Planeten?

 

Natürlich stand ständig der Suizid im Raum.

Als wir in der Schule im Philosophieunterricht Existenzialismus durchnahmen, führte uns der Lehrer in das Werk von Albert Camus ein, indem er sagte, dieser Schriftsteller hätte gesagt:

„Die einzige philosophische Frage von Belang ist die, warum man nicht sofort Selbstmord begeht.“

Ich war sehr angetan von dieser Aussage.

Ich las etliche der Schriften von Camus und fand nur schreckliches, unverständliches Geschwurbel, das mit meiner Situation nun wirklich gar nichts zu tun hatte. Dieser Camus beschrieb irgendwelche Luxusprobleme unterbeschäftigter und gelangweilter Intellektueller – was hatte das mit mir zu tun?!

Existenzialismus war offenbar nichts für mich. (Auch Sartre ist nicht so ganz meins, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und Kierkegaard … nunja, sieht gut aus im Bücherregal, aber sowas zu lesen ist für mich die reine Zeitverschwendung).

 

Suizid oder Psychose.

Aber es musste doch noch einen anderen Weg geben, dieses Labyrinth zu verlassen!

 

 

Wie ausnahmslos jeder Mensch, den ich bis jetzt getroffen habe, bin auch ich so gepolt:

Das Notwendige tue ich erst dann, wenn ich alles andere ausprobiert habe und es wirklich nicht mehr anders geht.

 

Ich hatte mein Pulver irgendwann restlos verschossen (Sprachbild).

Mir war zu diesem Zeitpunkt völlig klar, dass ich noch Jahrzehnte irgendwas ausprobieren und im Labyrinth rumirren konnte. – Ich würde dabei mit naturgesetzlicher Notwendigkeit stets nur auf immer neue, faszinierende und interessante Varianten von „Es geht mir schlecht“ stoßen. Die konnte ich so nach und nach alle entdecken und ausprobieren. Wie bekam ich immer wieder so schön zu hören:

„Junge – du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir!“

Herrliche Aussichten! (Ironie)

 

Aber ich hatte meine vitalen Lebenskräfte restlos verbraucht. Nach meiner Einschätzung blieben mir noch ungefähr anderthalb Jahre, dann würde abgeregelt werden. Das Ende war absehbar nahe. Das Ende war fühlbar nahe. Also tat ich das Notwendige.

 

Ich stürzte mich mit Todesverachtung in eine wirksame Psychotherapie so wie jemand, der von einer sehr hohen Klippe in einen ihm völlig unbekannten, ganz dunklen See springt:

Solange du im freien Fall bist (gefühlt dauert das ewig), bist du voller Todesangst und Todeserwartung.

Dann macht es „Plunk!“ (wenn du dick genug bist, macht es auch „Platsch!“, aber damals war ich extrem dünn - geradezu ausgemergelt -, deshalb machte es in meinem Fall nur „Plunk!“).

Es macht also „Plunk!“, und du tauchst in dieses tiefdunkle und kalte Wasser ein, in dem du völlig versinkst und verschwindest – eine ganz andere Welt.

 

 

Und zu meiner völligen Verblüffung lernte ich mit den Jahren was ganz neues:

Ja, es gibt einen Weg aus diesem Labyrinth.

Und auf der anderen Seite vom Labyrinth findest du eine völlig neue Welt, die weit jenseits dessen ist, was du dir vorstellen konntest.

Aber dieser Weg führt nach innen – ins Labyrinth hinein, nicht nach außen. All die Jahre davor hatte ich versucht, aus diesem Labyrinth herauszukommen – falsche Richtung, falscher Ansatz.

 

Die einzige Tür, die aus diesem Labyrinth herausführt, ist die Tür nach innen.

 

 

 

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