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Einsamkeit – andere an sich heranlassen

*** Diesen Text zu lesen kann triggernd sein. ***

 

 

Aus der deutschsprachigen Wikepedia:

„Der Begriff Einsamkeit bedeutet im Sprachgebrauch der Gegenwart vor allem eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen.

Es handelt sich dabei um das subjektive Gefühl, dass die vorhandenen sozialen Beziehungen nicht die gewünschte Qualität haben.“

 

Aha.

 

In meinem Leben erlebe ich sehr häufig eine ziemliche Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen dergestalt, dass viel zu viele Menschen sich in mein Leben drängen wollen, um irgendwas zu bekommen, was ich ihnen aber auch nicht geben kann. Ich kann es ihnen nicht geben, weil ich es auch nicht habe.

 

Das erlebe ich aber nicht als Einsamkeit. Ich erlebe das als beinahe permanente Bedrängung. Wenn ich NTs begegne, gehe ich ihnen lieber aus dem Weg, weil ich sie als „klebrig“ erlebe. Wenn ich sie einmal an der Backe habe (Sprachbild), dann werde ich sie so schnell nicht wieder los.

 

Das, was mir Wikipedia als Definition von Einsamkeit anbietet, weise ich also für mein Leben zurück. Diese Definition ist in meinem Leben nicht gültig. (Ganz abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was ein “subjektives Gefühl“ sein soll. Diese Wortwahl scheint mir nur dann sinnvoll zu sein, wenn es auch ein „objektives Gefühl“ gibt. Aber ich habe keine Ahnung, was ein objektives Gefühl sein könnte).

 

Wie definiere ich für mich Einsamkeit?

In meinem Leben ist Einsamkeit Alleinsein, das ich nicht will oder das mir nicht guttut.

 

Vor einigen Tagen hatte ich ein kurzes Gespräch über dieses Thema. Als ich merkte, dass ich dieses Gespräch länger in meinem Inneren bearbeitete als üblich, dachte ich, dass ich meine Sicht der Dinge mal aufschreibe.

 

Also los:

Was ist meine Sicht der Dinge?

 

Ich führte dieses Gespräch mit einem Menschen, der mir sehr viel bedeutet. Dieser Mensch erzählte mir von einem Menschen, der ihm sehr viel bedeutet:

„Wenn ich dem sagen würde, dass ich oft einsam bin, dann würde er mir sagen: „Ja, das kenn‘ ich von mir. Das ist, wenn du niemanden an dich heranlässt. Dann bist du einsam.““

 

Und ich dachte:

„???“

In meinem Leben ist das ziemlich anders.

Ich antwortete:

„Nach allem, was ich von [Name] weiß, lässt der niemanden an sich heran, nicht mal sich selber.“

Das Gespräch nahm von hier an eine unkonstruktive Wendung, und wir ließen das Thema.

 

Meine Sicht der Dinge:

Wenn ich anderen Menschen begegne, dann habe ich beinahe nie den Eindruck, dass sie irgendwen an sich heranlassen. Dass sie niemanden an sich heranlassen, liegt daran, dass sie den weitaus größten Teil von sich weggeschlossen, verschüttet und begraben haben.

 

Ich will das mit einem Bild verdeutlichen:

 

Du als Person bestehst aus 100 verschiedenen Teilen. All diese Teile machen deine Persönlichkeit aus. Diese Teile zusammen sind dein Ich. Mal ist eher der eine Teil von dir aktiv und sichtbar, mal ist eher ein anderer Teil von dir aktiv und sichtbar. Wenn du jemanden wirklich an dich heranlässt, dann wird er all diesen 100 Teilen begegnen.

 

Wenn du dich im Inneren so aufgestellt hast wie fast alle Menschen, denen ich begegne, dann ist deine Aufteilung dieser 100 Teile ungefähr wie folgt:

 

1 Teil von dir

ist die sogenannte „Öffentliche Person“. Das ist der Teil von dir, mit dem du in Bewerbungsgesprächen oder anderen Erstkontakten auftrittst. Das ist die Seite von dir, mit der du gewinnend, höflich und verbindlich bist.

 

3 Teile von dir

sind die sogenannte „Private Person“. Das sind die Teile von dir, die du erst zeigst, wenn man dich wesentlich besser kennt. Das sind sensible und verletzliche Teile von dir und vielleicht auch welche, die du gar nicht so sehr magst.

 

2 Teile von dir

sind der sogenannte „Blinde Fleck“. Das sind die Teile von dir, die für andere sichtbar sind, die du aber selber nicht kennst. Mit diesen Teilen kannst du Kontakt aufnehmen, wenn du anderen begegnest, die dir Rückmeldung geben, wie sie dich erleben.

 

4 Teile von dir

sind deine „Krisenreaktionskräfte“. Die zeigen sich nur in ausgesprochenen Krisen- und Gefahrensituation. Du wächst in solchen Situationen weit über dich hinaus und zeigst Fähigkeiten und Eigenschaften,von denen du gar nicht wusstest, dass du sie hast. Wenn die Situation vorbei ist, dann treten deine Krisenreaktionskräfte wieder in den Hintergrund und werden zu einer allmählich verblassenden Erinnerung.

 

20 Teile von dir

sind vorbewusst. Sie sind bewusstseinsfähig aber nicht bewusstseinspflichtig. Diese Teile hast du in deiner Kindheit aufgegeben und zurückgelassen, als du in Situationen kamst, wo du sicher wusstest, dass niemand auf der Welt diese Teile von dir haben oder sehen wollte.

In sprachgebundenen Therapien kannst du diese Teile wiederfinden. Das dauert Jahre, aber nach meiner Erfahrung lohnt sich das.

Manchmal begegnen Menschen diesen Teilen von sich auch im Traum oder im Drogenrausch. 

 

50 Teile von dir

sind unbewusst. Sie sind nicht bewusstseinsfähig, und nur noch dein Körper erinnert, dass es sie gibt, wo sie sind, und was sie sind. Diese Teile hast du in deiner Kindheit getötet, als du in Situationen kamst, die du als derart schockierend und belastend erlebtest, dass dir keine andere Wahl blieb.

Mit sprachgebundenen Therapien sind diese Teile nicht zu erreichen.

Diese Teile in dir kannst du nur wiederfinden und wiederbeleben, wenn du in deinen Körper gehst. Das dauert Jahre, aber nach meiner Erfahrung lohnt sich das.

 

20 Teile von dir

sind weg.

Wo die sind und was mit ihnen ist, das weiß ich zur Stunde auch nicht. Da fehlt es mir noch an Erfahrung und an Wissen.

 

 

So.

Und jetzt kommt jemand und sagt:

„Einsamkeit ist, wenn du niemanden an dich heranlässt.“

 

???

 

Oder auf deutsch:

„Hä?!“

 

„An dich heranlässt“?

Das geht ja vermutlich von der Illusion aus, dass es sowas wie ein Ich als Entität gibt. Gibt es aber nicht. Es gibt nur Teile von uns. Was wir „Ich“ nennen, ist in Wirklichkeit ein Haufen Teile. Und an welche Teile von dir willst du andere heranlassen, wenn die weitaus meisten Teile von dir derart verschüttet und begraben sind, dass du gar nicht mehr weißt, dass es sie überhaupt gibt – geschweige denn, wer und was sie sind? An diese Teile kommt niemand heran. Jedenfalls nicht ohne jahrelange Ausgrabungsarbeiten. Aber die allermeisten Menschen, denen ich begegne, die wollen nicht ausgraben, die wollen nicht befreien. Im Gegenteil: Für die meisten Menschen gilt in diesem Fall buchstäblich: „Nur über meine Leiche!“ Ich habe mehr als einen Menschen erlebt, der lieber in den Tod ging, als aufzuhören, sich abzufinden.

 

Andere an sich heranlassen …

 

Meine Sicht der Dinge ist:

Wenn du deine Einsamkeit überwinden willst, dann musst du dich zuallererst selbst an dich heranlassen. Und glaub‘ mir – damit bist du gut beschäftigt. Das geht nicht von heut‘ auf morgen. Das geht auch nicht von einem Jahr zum nächsten. Da liegen Jahrzehnte intensiver Arbeit vor dir. Aber es lohnt sich.

 

Was ich erlebe, ist dieses:

Die weitaus meisten Menschen, denen ich begegne, meinen mit „andere an sich heranlassen“, dass sie ihr Bewusstsein derart mit - eher oberflächlichen – Begegnungen fluten, dass in ihrem Bewusstsein gar kein Platz mehr ist für die subtilen und sehr leisen Signale, die die Teile aussenden, die sie vor ewigen Zeiten verschüttet, getötet und begraben haben.

 

Wenn du dir nicht selber begegnen willst oder kannst, dann resultiert daraus Einsamkeit. Wenn du versuchst, deine Einsamkeit dadurch zu überwinden, dass du „andere an dich heranlässt“, dann ist das eine Ablenkung, die dazu führt, dass du deine Einsamkeit nicht mehr spürst. Sie ist aber trotzdem noch da. Sie ist ein permanentes leises Signal:

„Ich bin hier. Komm‘, und finde mich.“

 

Die weitaus meisten Menschen, denen ich begegne, tun alles, was in ihrer Macht steht, um dieses permanente und leise Signal zu übertönen.

„Ich bin hier. Komm‘ und finde mich“, ist nichts für sie, gar nichts. Sie wollen das nicht erleben müssen. Um das zu erreichen, begegnen sie einander (oder flüchten in Aktivität oder Rituale oder fluten sich mit „Erlebnissen“ – was auf’s selbe hinausläuft).

 

Wenn es eine klare, mondlose Nacht ist, dann steht der Himmel voller Sterne. Millionen von Sternen sind sichtbar und geben eine Ahnung von dem, was ist.

Dann geht die Sonne auf, und die Sterne verblassen allmählich. Und wenn die Sonne höher steigt, dann siehst du keinen einzigen Stern mehr und dein Blick, der vorher hinaus ins Universum ging, ist jetzt an die Grenzen der Atmosphäre gefesselt.

 

Aber die Sterne sind noch da. Sie sind immer da. Sie warten in deinen dunkelsten und stillsten Stunden auf dich:

„Ich bin hier. Komm‘ und finde mich.“

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