· 

Ungestört

Vor ein paar Wochen ließ mir eine Expertin einen Psycho-Test zukommen, den ich noch nicht kannte. Sie sagte, er erhebe Persönlichkeitsstörungen und sei valide. (Wenn ein wissenschaftlich entwickelter Test „valide“ ist, dann bedeutet das, dass er misst, was er messen soll. Es gibt in der wissenschaftlich arbeitenden Psychologie bestimmte mathematische Verfahren, mit denen das geprüft wird).

 

Persönlichkeitsstörungen also.

Ich füllte diesen Test nach bestem Wissen und Gewissen aus. Und dann wertete ich ihn aus. Ergebnis:

Ganz vieles bin ich nicht – narzisstisch, antisozial, depressiv, zwanghaft, histrionisch und hast-du-nicht-geseh’n … bin ich alles nicht. Nicht mal im Ansatz.

Aber ich bin schizotypisch. Kannte ich gar nicht. „Schizotypisch“, was soll das sein?

Ich ergoogelte die Diagnosekriterien:

 

Aha.

 

Also, Leute – nehmt euch in Acht. (Oder wenn’s dafür nicht reicht, nehmt euch in Sieben). 

Die Schizotypische Persönlichkeitsstörung – das sind ganz seltsame Menschen: Laufen ungepflegt rum, sprechen merkwürdig, glauben außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeiten zu haben, entwickeln seltsame Ideen und sind sowieso insgesamt seltsam und exzentrisch. Sie haben das Gefühl, anders zu sein und nicht dazuzugehören und sind oft genug auch misstrauisch und paranoid. – Denen willst du nicht im Dunkeln begegnen. Richtig gestört, diese Leute.

 

Tja.

Jetzt ist es also raus. Das war zu erwarten: Jede Tarnung bekommt irgendwann mal Risse und fliegt auf.Das ist nur eine Frage der Zeit. Ich bin also schizotypisch – was mach‘ ich bloß?!

Vermutlich sollte ich schleunigst eine von den Psychokliniken kontaktieren, die im Internet so umfangreich Werbung machen.

 

Die entstören dann meine Persönlichkeit, und alles ist wieder im Lot.

 

Ich habe mir dazu so meine Gedanken gemacht.

Gucken wir uns das mal an. (Aber Achtung – das sind die schwer gestörten Gedanken eines Schizotypischen!):

 

 

1

Bei meiner Arbeit als Coach begegne ich so vielen merkwürdigen und einzigartigen Menschen und deren Schicksalen, dass ich oft nur denke: „Ach, du liebe Güte! Was ist denn das jetzt?!“

 

Damit meine ich nicht:

„Wie kategorisiere ich das jetzt bloß richtig ein?!“, sondern ich stehe oder sitze vor etwas, was ich in dieser Form noch nie erlebt habe. Der Mensch überflutet alle meine Wahrnehmungskanäle mit dem. Und ich muss erst mal klar kriegen und sortieren, was hier eigentlich gerade passiert.

 

Oft genug muss ich sehr schnell und sehr sicher entscheiden. Greife ich fehl‘, dann kann das ziemliche Konsequenzen haben. Damit ich handlungsfähig bleibe, habe ich mir einen simplen Algorithmus gebastelt, nach dem ich immer vorgehe, wenn mir irgendwas bizarres, merkwürdiges, abscheuliches, groteskes … etc. präsentiert wird.

Ich prüfe ab:

 

a)    Besteht Eigengefährdung?

b)    Besteht Fremdgefährdung?

c)    Gibt es Leidensdruck?

 

Und wenn diese drei Fragen klar zu verneinen sind, dann lass‘ ich die Dinge einfach laufen und lass‘ mich überraschen, was da wohl kommen wird. „Krank“, „gesund“, „gestört“, „ungestört“, „normal“, „unnormal“ – das interessiert mich alles nicht. Das sind keine Kategorien, mit denen ich arbeite. Diesen Kategorien liegt eine normative Setzung zugrunde, die ich nicht teile.

 

Gefährdest du dich, gefährdest du andere, leidest du oder leiden andere?

Mehr muss ich nicht wissen.

Und dann kann ich tatsächlich sehr schnell und sehr sicher entscheiden.

 

Es ist gar nicht so selten, dass ich Coaching-Gespräche schon nach wenigen Minuten abbreche und klar mache:

„Wir machen hier nichts, wir gehen hier keinen Schritt weiter, bevor der Militärische Abschirmdienst sich das nicht angeschaut hat!“

„Davon muss die Polizei wissen, nicht ich. Schalte die Polizei ein, dann kannst du wiederkommen.“

„Das ist eine klinische Thematik mit Gefahr im Verzug. Das übersteigt meine Kompetenz bei weitem! Hast du einen Psychiater oder eine psychiatrische Klinik, an die du dich wenden kannst?“

 

Einschub

Und hier hat der Konzern, für den ich arbeite, ein hervorragendes Hilfspaket:

Er hat einen externen Dienstleister engagiert, an den sich jeder im Konzern wenden kann, wenn irgendein psychisches Problem vorliegt. Da ruft man an – rund um die Uhr erreicht man da jemanden. Dann wird man in einem ersten Interview behutsam aber professionell ganz viele Dinge gefragt. Danach kann man – wenn man das möchte – ein paar Minuten warten und wird dann zurückgerufen von irgendeinem Menschen, der ein ausgewiesener Experte in dieser Thematik ist. Und nach und nach wird dann alles weitere veranlasst.

 

Ich habe oft Menschen, die mit ihrer Thematik zu mir kamen, an diesen Dienstleister verwiesen und bislang nur positive Rückmeldung bekommen.

Einschub Ende

 

 

2

Ob jemand gestört ist oder nicht, das zählt in meinem Leben nicht. Gar nicht. Wenn überhaupt irgendwas in dieser Sache zählt, dann ist das:

a)    Würde ich so leben wollen wie du?

b)    Kann ich mir von dir irgendwas für mein Leben abgucken?

 

Und wenn ich eine dieser beiden Fragen bejahen kann, dann ist mir tatsächlich völlig schnuppe, ob du normal oder unnormal bist, ob du gestört oder ungestört bist, ob du lila Haare hast oder ein kleines blaues Schweineschwänzchen an jedem Ohr und in deiner Freizeit mit Kastanienbäumen sprichst. Völlig egal! Völlig wumpe!

 

Schon als Kind habe ich mir die Erwachsenen sehr genau angeschaut, die mir als „normal“, als „vorbildlich“, „erfolgreich“, „gut integriert“ oder als sonstirgendwie nachahmenswert geschildert wurden.

Ich stellte jedes Mal fest:

a)    Diese Menschen wirken abstoßend hässlich auf mich.

b)    Ich finde nichts, aber wirklich absolut nichts, was mich irgendwie zu diesen Menschen hinzieht. Eher im Gegenteil.

 

Und auch heute:

Nehmen wir mal an, dass du 25 Prüf- und Gütesiegel hast - von Professoren, Psychiatern, Nobelpreisträgern, Schamanen, Gurus, Heilkundigen, Netzgiraffen, Wasserläufern und Nebelkrähen -, dass du normal und ungestört bist.

Ja, und jetzt?

Du bist also normal und ungestört. Sogar die Netzgiraffen und die Nebelkrähen würden das unterschreiben. Aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass ich so leben will wie du oder dass ich mir von dir irgendwas für mein Leben abschauen kann.

Mein Lebensziel ist es nicht, normal oder ungestört zu sein.

 

Was ist mein Lebensziel?

Ich will ein erfülltes, zufriedenes und glückliches Leben leben, meine Potenziale entfalten, und das alles soll in einem ethisch gerechtfertigten Rahmen stattfinden. Und das war’s auch schon.

 

Gestört oder ungestört? – Wen kümmert’s?!

 

Aber Achtung, Leute – ich bin schizotypisch!

Und dass jemand mit einer Schizotypischen Persönlichkeitsstörung solche subversiven und merkwürdigen Ideen unters Volk bringt, ist zu erwarten.

Aber das sind alles die grundfalschen Ansichten eines zutiefst Gestörten.

 

Nehmt euch also in Acht (und wenn’s dafür nicht reicht, nehmt euch in Sieben), dass ihr normal und ungestört seid und bleibt, denn mehr kann man im Leben nicht erreichen. Mehr gibt’s nicht, und das sollte für jeden Menschen das höchste Ziel seiner irdischen Existenz sein.

 

Und wenn ihr in eurem Leben mehr oder anderes wollt, dann seid ihr vermutlich gestört.

Dann braucht ihr dringend Hilfe, damit ihr wieder normal werdet.

 

Ich für meinen Teil ziehe mich jetzt wieder ins Schweigen zurück und lebe hier mein kleines Leben so für mich hin. Und wenn ihr mich dabei in Ruhe lasst, dann tue ich das auch völlig ungestört.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Fischer (Sonntag, 20 November 2022 15:18)

    Kompliment, sie schaffen einen nicht nur Aufzuheitern sondernherzlichst zum Lachen zu bringen und gleichzeitig wieder Nachdenken zu lassen.
    Einen schönen ungestörten Sonntag!
    MfG
    P.Fischer