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Da verpasst du was

Prolog

Ich hab‘ in einem Buch mal eine Geschichte gelesen, die in etwa so ging:

 

Ein alter Frosch, der sein ganzes Leben in einem Brunnen verbracht hatte, bekam eines Tages Besuch von einem anderen Frosch.

„Wer bist du?“ fragte der Brunnenfrosch.

„Ich bin ein Meeresfrosch“, antwortete sein Besucher.

„Was ist ein Meer?“ wollte der Brunnenfrosch wissen.

„Das ist ein großes Wasser.“

Mit Wasser kannte sich der Brunnenfrosch aus. Da war er Experte.

„Ah!“, sagte er, „Du meinst sowas wie meinen Brunnen hier?“

„Nein“, sagte der Meeresfrosch. „Das Meer ist ein anderes Wasser.“

„Und wie groß ist das?“

„Riesig. Unvorstellbar groß.“

„Halb so groß wie mein Brunnen?“

„Nein, etwas größer ist es schon.“

„Also genau so groß wie mein Brunnen?“

„Nein, noch ein wenig größer.“

„Größer als mein Brunnen? Das geht nicht. Ich bewohne den größten Brunnen weit und breit. Jeder weiß das.“

„Dann ist ja gut.“

„Gib’s zu: Dein „Meer ist gar nicht so groß.“

„Doch.“

„Das will ich mit eigenen Augen sehen.“

„Na, dann komm‘ mit.“

 

Die beiden Frösche machten sich auf den Weg. Als der Brunnenfrosch das Meer sah, soll er in Ohnmacht gefallen und sein Kopf soll geplatzt sein.

 

Anmerkung:

Für alle, die sich am eher gewalttätigen Ende dieser Geschichte stören:

Ich bin sehr sicher, dass der, der sich diese Geschichte ausgedacht hat, an dieser Stelle übertrieben hat, und dass dem Brunnenfrosch in Wahrheit gar nichts passiert ist.

 

 

1

Als junger Erwachsener war ich für ein paar Monate in Israel und Arabien. Ich arbeitete als Freiwilliger in einem Kibbuz, und in meiner freien Zeit fuhr ich im Land herum und guckte mir die Gegend an. Als ich zum See Genezareth kam, übernachtete ich südlich von Karei Deshe in der Nähe der Jordanmündung in irgendeinem billigen Hostel in Ufernähe. Am nächsten Morgen ging ich ans Ufer und schaute mir den See an. Spontan beschloss ich, durch den See und auf die andere Seite zu schwimmen. Und so schwamm ich quer über den See nach Tiberias. Das werden so zehn bis fünfzehn Kilometer gewesen sein. Da ich keinerlei Erfahrung mit solch großen Schwimmstrecken hatte, war ich länger unterwegs als ich gedacht hatte. Aber nach etwas über acht Stunden krabbelte ich in Tiberias an den steinigen Strand. (Danach ging die Geschichte noch weiter. Ich merkte in Tiberias plötzlich, dass an diesem Tag Yom Kippur war, der höchste jüdische Feiertag, und dass buchstäblich kein einziges Fahrzeug fuhr. Und jetzt musste ich ja irgendwie über Land zurück nach Karei Deshe. Und das waren so um die 25 Kilometer. Aber das ist ein anderer Teil der Geschichte, und der soll ein anderes Mal erzählt werden).

 

Als ich wieder zurück in Deutschland war, luden mich Freunde ein, mit ihnen ins Schwimmbad zu gehen. Irgendwo hatte ein neues „Spaßbad“ aufgemacht, und das wollten sie unbedingt ausprobieren.

Ich sagte ihnen:

„Nee, du – lass mal. Keine Lust.“

Sie waren schrecklich enttäuscht und redeten auf mich ein. Zwei oder drei von ihnen waren schon mal dort gewesen, und für sie war das offenbar die ultimative Schwimmbaderfahrung gewesen. Aber nach meinem Schwimmen im See Genezareth kam mir jedes Schwimmbad vor wie eine etwas größere Badewanne: Du drehst dich einmal um, und dann hast du den Beckenrand auf der anderen Seite erreicht.

Sie wollten mich aber unbedingt dabei haben. Sie waren so begeistert von ihrem Zeug. Sie sagten mir:

„Da verpasst du was!“

 

Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich mich ihnen verständlich machen konnte.

 

 

2

Vor einiger Zeit erzählte mir ein AS von einem Erlebnis:

Er war zu dieser Zeit in einer Ausbildung zu einer sprachgebundenen Therapieform. Gleichzeitig machte er selber eine intensive Psychotherapie, die eher mit nicht sprachgebundenen Techniken arbeitete.

 

Die Ausbilder in der sprachgebundenen Therapieform zählen zu den ganz Großen ihrer Kunst in Deutschland. Sie sind bekannt und gelten als Koryphäen. Einer dieser Ausbilder lud den AS ein zu einem „Minithon“. Bei einem Minithon kommen Therapeuten und Klienten zusammen und reden ein Wochenende lang über Gefühle.

 

Der AS hatte aber zeitgleich seine eigene nicht sprachgebundene Therapie und lehnte dankend ab.

Dazu sagte der Ausbilder:

„Da verpasst du was!“

 

 

3

Ich erlebe es oft in meinem Leben, dass NTs, die in Sachen Psychotherapie – verglichen mit mir – nur über eine sehr begrenzte Erfahrung verfügen (davon aber reichlich!) mir irgendwas andienen wollen, wovon sie absolut überzeugt sind, weil sie es für den Gipfel des überhaupt Möglichen halten.

 

Letztens kam einer ungefragt auf mich zu (er kennt mich überhaupt nicht), und ließ mich wissen, er habe den Schlüssel zu meinem Problem gefunden. Ich antwortete ihm spontan:

„Das ist fein. Aber der Schlüssel ist gar nicht mein Thema. Schlüssel zu meinem Problem habe ich dutzende. Meine Schwierigkeit ist, dass ich das Schloss nicht finden kann.“

Und damit ließ ich ihn stehen.

 

Wenn ich mit solchen Menschen spreche, stelle ich jedes Mal fest, dass ich mich ihnen in keiner Weise verständlich machen kann. Wie soll ein Meeresfrosch einem Brunnenfrosch nachvollziehbar von seiner Welt berichten?Ich kann solchen Menschen nicht deutlich machen, um wieviel größer die Welt der Psychotherapie ist als ihre Erfahrung. Ich kann ihnen nicht mal ansatzweise verdeutlichen, was alles wiederfindbar, erinnerbar, erfahrbar und erreichbar ist. Deshalb bemühe ich mich schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Wenn sie ihre sehr begrenzte Welt aufgrund ihrer sehr begrenzten Erfahrung für das Weltall halten wollen – bitte sehr.

 

Und sehr oft sagen sie mir etwas, was sich zusammenfassen lässt mit:

 

„Da verpasst du was!“

 

Sie sind restlos überzeugt von dem, was sie da sagen und bedauern mich ernsthaft. In ihrem Universum bin ich eine unglückliche und verlorene Person.

 

Mittlerweile schweige ich dazu nur noch.

 

Aber hier an dieser Stelle (wo ich schreibe und nicht spreche), kann ich dir versichern:

Was in deiner Welt der Mount Everest der Psychotherapie ist, das ist in meiner Welt vermutlich grade mal ein Hügel. Und grundsätzlich ist gegen eine Wanderung in hügeliger Landschaft nichts zu sagen. Jedoch zieht es mich deutlich mehr ins Hochgebirge als in die Hügel.

 

Aber ja, vielleicht verpasse ich was.

Das ist immerhin möglich, denn auch meine Welt ist sehr begrenzt und ich begreife sehr wenig.

 

Aber ich lasse eseinfach mal drauf ankommen.

 

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