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Der Kampf ums Dasein

Das ist vermutlich das wichtigste in meinem Leben: Dass ich da bin.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mein Leben dann lebenswert und gut ist, wenn ich da bin. Wenn ich nicht da bin, dann bin ich in irgendeiner Form der Zwischenexistenz gefangen. Lebendig sein bzw. ein Leben führen, das diesen Namen auch verdient, bedeutet in meiner Welt da sein.

 

Das mag sich für manche Menschen schlank und banal anhören. Sie würden vielleicht sagen:

„Ja, und? – Du bist doch da. Da drüben sitzt du. Ich kann dich sehen. Du bist da.“

 

Nein, bin ich nicht.

Jedenfalls bin ich das viel zu oft nicht.

 

Vielleicht ist das für den einen oder anderen verwirrend – bin ich jetzt da oder bin ich nicht da? Und wenn ich nicht da bin, obwohl ich da sitze – wo bin ich denn dann?

 

Ich will versuchen, das auseinanderzuklamüsern.

 

1

Das, was ich mit da sein meine, beruht nicht auf irgendwelchen philosophischen oder esoterischen Betrachtungen, sondern auf der schlichten Erfahrung.

 

Das begann alles damit, dass ich an einem Sommerabend nach meiner Therapie noch in meinem Auto saß, das auf dem Parkplatz vor der Praxis des Therapeuten stand. Der Therapeut war Arzt und hatte ein riesiges Anwesen. Dieses Anwesen war von einer roten übermannshohen Backsteinmauer umgeben.

 

Ich saß da in meinem Auto und schaute mir nur die Backsteinmauer an. Sonst tat ich nichts, sonst war nichts. Ich schaute mir diese Backsteinmauer an – über eine halbe Stunde lang. Ich sah, wie die langsam sinkende Sonne Schatten zwischen den einzelnen Backsteinen warf, und wie sich diese Schatten beständig veränderten.

 

Und das war auch schon alles. Ich verfolgte keine bestimmte Absicht, ich hatte keine Pläne, ich dachte nicht nach, ich war nicht in Gedanken - ich war nur da und schaute diese Backsteinmauer an. Meine Kleinen, meine Innenteile und ich waren nur die reine Wahrnehmung – viele, viele Minuten lang.

 

Ich erlebte dieses Beobachten als derart intensiv und erfüllend, dass unsere Kleinen auf der Stelle beschlossen, nie mehr was anderes zu machen – ihr ganzes Leben nicht.

 

Das war ein Auftrag an mich als Großen, und den hatte ich auszuführen.

So jedenfalls dachten sich das unsere Kleinen.

 

 

2

Als wir auf der langen Heimfahrt nachdachten über das, was wir da erlebt hatten, wurde uns klar, was hier gerade gewesen war:

Wir waren da gewesen.

Wir waren die reine Wahrnehmung gewesen.

Wir hatten das, was wir da wahrnahmen, nicht kommentiert, bedacht, gefiltert oder was auch immer. Wir hatten diese Mauer so gesehen, wie sie war und sie mit nichts abgeglichen, was in unserer Vorstellung oder unserem Gedächtnis war.

 

Die Backsteine waren rot gewesen.

Wir hatten nicht ein einziges Mal „rot“ gedacht.

Da waren hier und da Gräser in der Backsteinmauer gewesen.

Wir hatten nicht ein einziges Mal gedacht:

„Oh, Gräser in der Backsteinmauer – wie schön! Wie sind die da wohl hingekommen?“

 

Wir hatten nur wahrgenommen und dabei nicht gedacht oder kommentiert.

 

 

3

Um zu erklären oder einzuordnen, was in Menschen innerpsychisch vorgeht, nutzen wir in aller Regel die Konzepte der Transaktionsanalyse. Wir kennen kein Modell, das klarer und in sich geschlossener beschreibt, welche psychischen Mechanismen in Menschen wirksam sind. Das ist sehr komplex, aber es ist nicht kompliziert.

 

Die Transaktionsanalyse verfolgt als Hauptziel bei der Arbeit mit Menschen das, was sie „Autonomie“ nennt. Autonomie wird beschrieben als das Freiwerden oder die Wiedergewinnung von drei seelischen Vermögen:

a)    Wache Bewusstheit

b)    Spontaneität

c)    Intimität

 

Wache Bewusstheit beschreibt die Fähigkeit, Dinge als reine Sinneseindrücke wahrzunehmen (sehen, hören, riechen usw.) so, wie ein Neugeborenes das tut. Es geht also darum, wahrzunehmen, ohne diese Wahrnehmung zu filtern – durch Begriffe, Konzepte, Gedanken, Werthaltungen oder was auch immer.

 

Spontaneität beschreibt die Fähigkeit, frei auszuwählen aus einer großen Zahl von Alternativen im Fühlen, Denken und Handeln. Die Betonung liegt hier auf „frei“.

 

Intimität beschreibt die Fähigkeit, seine Gefühle und Wünsche offen mitzuteilen. Die Gefühle, die mitgeteilt werden, sind echt, so dass Kunstgefühle und Psychospiele ausgeschlossen sind.

 

 

Wenn wir in diesem Text also vom da sein sprechen, dann tun wir das im Sinne von „wacher Bewusstheit“ – wir sind da, und wir nehmen die Welt so wahr, wie das ganz kleine Kind in uns sie wahrnimmt.

 

Keine Gedanken. Keine Begriffe. Keine Konzepte. Keine Werthaltungen. Keine Vergleiche mit irgendwas anderem. Keine Meinungen. Nur die Welt auf uns wirken lassen – ohne Filter.

 

 

4

Die Gedanken anzuhalten und den Verstand in den Leerlauf zu schalten gehört nach unserer Erfahrung zum schwierigsten, was es überhaupt gibt. Wenn ich denke, dass ich nicht denken will, dann denke ich ja auch schon. Und wir haben bei uns im Kopf keinen Schalter, den wir umlegen können, so dass wir auf einmal nicht mehr denken.

 

Es geht also darum, da zu sein, sich einzulassen auf das, was gerade ist (nicht an gestern denken, keine Pläne für morgen machen, nicht die Gedanken einfach umherschweifen lassen …) und konzeptlos wahrzunehmen.

 

Wir trainieren das seit Jahrzehnten. Anfangs waren wir in dieser Sache völlig hilflos: Sobald wir versuchten, irgendwas tatsächlich wahrzunehmen, drängten von unten Gedanken hoch und schwemmten uns irgendwohin. Es war wirklich zum Verzweifeln! Es gelang uns nicht, uns auch nur für eine halbe Minute auf irgendeine Wahrnehmung zu konzentrieren, ohne dass uns der beständig hereinströmende Schwall von Gedanken forttrug.

 

Wir wurden dann ärgerlich auf uns selber.

 

Aber das half auch nicht weiter.

 

 

5

Mit den Jahren merkten wir, dass das, was uns aus dem da sein fortriss, sehr häufig angetrieben war von alten seelischen Verletzungen, die wir mit uns herumtrugen. Wenn man seine alten seelischen Verletzungen nicht spüren will, dann hilft beinahe nichts so gut wie ständig in Gedanken zu sein. Das ist ein Reflex. So wie man sich den Finger in den Mund steckt, wenn man sich schneidet, aktiviert man das Gedankenkarussell, wenn alte seelische Verletzungen sich bemerkbar machen. Schnell was planen, schnell eine Meinung zu was haben, schnell über irgendwas nachdenken, was man noch nicht begriffen hat, schnell sich über irgendwas aufregen und empören … und schon tut die Seele nicht mehr so weh.

 

Zum Glück waren wir bereits in unserer ersten Psychotherapie, als wir das begriffen. Und so hatten wir einen Ort, wo wir mit unseren alten seelischen Verletzungen hingehen und sie fühlen konnten.

 

Aber es waren so viele Verletzungen!

 

Und sie waren so tiefgehend und so schwer!

 

 

6

Aber dann kam dieser Abend, den wir unter Punkt 1 beschrieben haben, wo wir ohne jede Absicht über eine halbe Stunde die reine Wahrnehmung waren, und wir begriffen, dass wir das wollten und nichts anderes.

 

Wir begriffen, dass das, was die Transaktionsanalyse als „wache Bewusstheit“ beschreibt, für uns nicht ein Ziel, sondern eine Daseinsform ist. Also nicht: „Da wollen wir hin!“, sondern: „So wollen wir sein!“

 

Und das ist schon ein ziemlicher Unterschied.

 

 

7

Natürlich leben wir in einer Umwelt, die alles mögliche fördert, aber ganz sicher nicht das da sein.

 

Da sind zum Beispiel die lieben Mitmenschen, die uns ansprechen, egal welche Tätigkeit wir gerade ausüben.

 

Wir stehen in der Küche am Waschbecken und füllen Wasser in ein Glas und hören genau zu, wie das ist, wenn sich das Glas mit Wasser füllt? Wir schauen gleichzeitig, wie das Wasser sich im Glas verwirbelt und dabei ganz eigenartige Lichtreflexe wirft? (Und so weiter)

Sobald ein NT hinzukommt, wird er sehr sicher das Wort an uns richten, denn wir füllen ja nur Wasser in ein Glas und das ist nicht weiter wichtig.

 

Wir sitzen irgendwo und schauen den Wolken zu, die am Himmel entlangtreiben?

Sobald ein NT hinzukommt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er uns anspricht, denn wir tun ja gerade nichts.

 

Wir stehen am geöffneten Fenster und hören, wie draußen der Regen niedergeht und riechen, wie sich die Farben verändern, wenn die Wiesen im Regen allmählich kühler werden?

Sobald ein NT hinzukommt – naja, Seufzer – ihr wisst schon.

 

 

Und dann gibt’s da diese schier allgegenwärtigen elektronischen Tonwiedergabegeräte (Hauptsache, es ist nicht still !!!). Wo die NTs sind, da ist es beinahe nie still. Und dann sind da natürlich die unruhig flackernden Lichter, die die NTs so mögen. Und die knallig-poppigen Farben, die so grell sind, dass sie selbst durch die geschlossenen Augen nochweh tun.

 

Und so weiter. Und so weiter.

 

 

8

Es gibt für uns also einen Haufen guter Gründe eher für uns zu sein. Menschen, die uns da sein lassen, gibt es nur sehr wenige, und die sind häufig auch eher für sich.

 

Wenn wir für uns sind oder mit Menschen zusammen sind, die uns da sein lassen, dann müssen wir uns nicht laufend verteidigen, abgrenzen und schützen. Dann darf es auch gerne stundenlang still sein, ohne dass sich jemand sorgt, dass jetzt irgendwas nicht in Ordnung ist („Sag mal, hast du was gegen mich?!“)

 

Wir wollen uns nicht gegen die Übergriffe von NTs schützen müssen, die uns aus dem da sein reißen, weil sie

a)    keine Ahnung haben, was sie damit in uns auslösen

b)    so voller eigener sozialer Bedürfnisse sind, dass es ihnen egal wäre, auch wenn sie es wüssten.

Es reicht uns völlig, wenn wir uns beim Kampf ums da sein mit unserer eigenen Beschränktheit beim da sein auseinandersetzen müssen. Glaubt mir, das ist wirklich Kampf genug.

 

Mittlerweile sind wir in einem Zustand, wo wir beinahe nach Belieben das Denken für viele, viele Minuten anhalten können und in die reine Wahrnehmung wechseln können. Das ist zwar noch nicht da sein, aber es ist ein Vorgeschmack darauf. Und meistens geht es uns wirklich gut, wenn wir für diese kurze Zeiten da sein können.

 

Wir wissen nicht, was andere in ihrem Leben so anstreben. Wir hören von Macht, Erfolg, Reichtum, Beliebtheit, Millionen Followern, der großen und einzigartigen Liebe, wir hören von Rache und von Vergeltung, von großen Aufgaben und Projekten, von den Kindern, die ja noch groß werden sollen, der Immobilie, die noch abbezahlt werden muss und der Katze, die noch zu impfen ist.

 

Interessiert uns alles nicht.

 

Wir wollen da sein.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    AutistundPolizist (Sonntag, 16 Oktober 2022 13:29)

    Danke für die spannenden Momente jeden Sonntag, wenn ich Deinen Blog in der Hoffnung öffne, dass der neue Text schon eingestellt ist. Jedes Mal ein Highlight der Woche, sich darauf in Ruhe einzulassen !

  • #2

    Stiller (Dienstag, 18 Oktober 2022 08:00)

    Wir verneigen uns.