· 

Das wichtigste im Gebirge

So, Leute, ich bin wieder zurück aus dem Hochgebirge. Und wie jedes Jahr habe ich dazu was zu erzählen. Diesmal will ich euch berichten, was für die Menschen dort oben das mit Abstand wichtigste im Gebirge ist.

 

Um deutlich zu machen, worum es geht, muss ich einen kleinen Schlenker machen - in einen Spezialbereich der Archäologie. Es gibt einen Forschungszweig der Archäologie – den Fachbegriff habe ich vergessen -, der beschäftigt sich mit den Ernährungsgewohnheiten der Menschen. Mit den Ernährungsgewohnheiten heutiger Menschen, aber auch mit den Ernährungsgewohnheiten von Menschen vergangener Epochen.

 

Um wirklich valide (gültige) Aussagen über das Essverhalten von Menschen machen zu können, müsste man sie minutiös beim Essen beobachten – den ganzen Tag. Das ist zu aufwändig. Das geht also nicht.

 

Was gibt’s für andere Möglichkeiten?

Man könnte die Menschen befragen, was sie denn so essen. Oder – wenn man sich vergangene Epochen anschaut – man könnte schauen, was diese Menschen denn einander mitgeteilt haben, was sie so essen – in Briefen oder in anderen hinterlassenen Aufzeichnungen.

 

Das ist aber gefilterte Information. Denn das, was die Menschen sagen, und das, was sie tun, sind manchmal zwei ganz verschiedene Dinge. Bekommt man wirklich zuverlässige Informationen, wenn man die Menschen befragt, was sie essen?

Nein, bekommt man nicht. Nachweislich nicht. Die eigene Sicht auf das eigene Essverhalten ist immer eingetrübt durch soziale Erwartungen, die an uns herangetragen werden. Man muss sich also das Essverhalten der Menschen anschauen und nicht das, was sie über ihr Essverhalten berichten.

 

Sollte man sich also anschauen, was sie an Lebensmitteln einkaufen bzw. irgendwie beschaffen? Oder – wenn man vergangene Epochen anschaut – was angebaut bzw. gezüchtet wurde?

Nein, das geht auch nicht.

Dass Lebensmittel eingekauft werden, bedeutet nicht immer, dass sie auch konsumiert werden. Und wenn sie konsumiert werden, dann weiß man nicht von wem.

 

Und so weiter.

 

Um es kurz zu machen:

Dieser Zweig der Archäologie beschäftigt sich mit Müll, mit Abfall. Diese Leute gehen also her und schauen sich heutige oder historische Abfallhaufen an, und registrieren minutiös, was sie da an Hinweisen auf Essverhalten finden. – Pizzaschachteln, Konservendosen, Verpackungsmaterial von Lebensmitteln (heutige Zeit) oder Tierknochen, Scherben von Tongefäßen, Spuren von Essensresten (frühere Zeiten).

 

Dieser Zweig der Archäologie hat also einen Weg gefunden, aus dem ganz konkreten Verhalten von Menschen abzuleiten, was sie tatsächlich tun bzw. getan haben.

Und das ist auch für mich immer der Königsweg, um herauszubekommen, was Menschen tun bzw. was sie antreibt – befrage sie nicht dazu, sondern beobachte sie. (Natürlich ist es oft sinnvoll, sie nachher zu befragen, um ihre Sicht der Dinge zu erfahren).

 

 

Heute will ich darüber berichten, was für die Menschen im Hochgebirge das wichtigste am Gebirge ist.

Und es soll nicht darum gehen, was die Menschen mir (oder anderen) erzählen, warum sie ins Hochgebirge gehen oder was sie da oben so toll finden, sondern darum, was sie da oben ganz konkret tun. Ich habe sie beobachtet, ich habe Zählungen gemacht.

 

Wenn ich Menschen befrage, warum sie ins Hochgebirge gehen oder was das Hochgebirge ihnen bedeutet, bekomme ich eine Fülle von Antworten, die für mich aber kein klares Bild ergeben. Ganz anders sieht es aus, wenn ich ihr Verhalten beobachte. Da ergibt sich ein sehr klares Bild.

 

 

Ich bin in diesem Jahr wieder einmal – für meine Verhältnisse – ziemlich weit oben unterwegs gewesen. 2.500 Meter und mehr. Manchmal waren es nur Wanderungen in dieser Höhe. Oft genug bin ich aber auch zu irgendwelchen Gipfeln hochgegangen. Das war dann oft genug deutlich über 3.000 Meter hoch.

 

In dieser Höhe trifft man auf Menschen. Meist ist das ein bestimmter Schlag von Menschen:

Deutlich mehr Männer als Frauen

Eher junge als alte

Fast alle durchtrainiert, schlank und sehr sportlich (im Gegensatz zu mir)

Eher schweigsam als redselig

Fast alles Bergenthusiasten

Fast alles NTs

 

Was machen die da oben? Sie latschen da rum. Meistens haben sie ein ganz klares Ziel vor Augen – ein Gipfelkreuz, einen markanten Punkt, eine Hütte oder dergleichen.

 

Was machen sie, wenn sie dieses Ziel erreicht haben?

Über 95% der Menschen, die ich da oben beobachtet habe, kennen in so einer Situation nur eins:

Handy raus!

Bilder und Videos machen!

 

Und jetzt wird es spannend:

Was fotografieren sie da? Was nehmen sie per Video auf?

 

Richtig:

Sie fotografieren sich selber:

Ich vor dem Gipfelkreuz (in zehn verschiedenen Posen), ich vor der Bergkulisse (und das da an meiner rechten Schulter ist der Zwölferkogel), ich und meine Freunde vor …, ich und meine Frau vor …

ich …

ich …

ich …

 

Das wichtigste im Gebirge sind also fraglos sie selber.

Ich habe mir Bilder auf Handys zeigen lassen und habe durchgezählt:

Das war zwar nur eine kleine Stichprobe, aber auf ungefähr einem Drittel dieser Fotos sah ich vor allem diese Menschen. Kein anderes Motiv wurde von ihnen auch nur annähernd so oft abgelichtet.

 

Und das ist ihnen wichtig.

Sehr wichtig.

Überragend wichtig.

So wichtig, dass ich auf Gipfeln immer wieder gebeten werde, Fotos zu machen. – Da ist eine Gruppe von Leuten oben angekommen, und sie wollen alle vor dem Gipfelkreuz fotografiert werden. Da sie aber alle auf das Foto drauf wollen, ist es wichtig, dass jemand anders sie fotografiert.

Wir vor dem Gipfelkreuz.

Wir in dieser extrem hohen Scharte (der Aufstieg hat den ganzen Tag gedauert)

Wir vor Gipfelpanorama (und das da drüben ist das Andachtsjoch)

Wir …

Wir …

Wir …

 

Diese Menschen haben mich noch nie zuvor gesehen. Aber ich steh‘ da halt so rum, in Gipfelgegend, und guck schweigend in die Landschaft, und sie brauchen einen, der dieses Foto von ihnen macht, also sprechen sie mich an …

 

Ich.

Wir.

 

Die Berge sind austauschbar.

Die Gipfel sind austauschbar.

Das Panorama ist austauschbar.

Wichtig ist:

Ich.

Wir.

 

Bislang kann ich mir da keinen Reim drauf machen. Warum tun Menschen sowas? Mir ist das derart fremd, dass ich dazu noch keinen Zugang finde. Ich bin jetzt seit über einem Jahrzehnt im Sommerurlaub im Gebirge, und ich habe zahlreiche Fotos davon auf meinem Handy. Auf keinem einzigen bin ich zu sehen. Ich käme gar nicht auf die Idee, mich selber zu fotografieren (ich weiß gar nicht, wie das genau geht), es wäre vollkommen sinnlos für mich. Ich bin nicht im Gebirge, um mich selber abzulichten, sondern um in diesen Höhen unterwegs sein zu können – die Aussicht ist egal, ich steige auch im dichtesten Nebel auf, sofern die Sicherheitslage das zulässt. Das Gebirge ist wundervoll, wenn der Nebel so dicht ist, dass du nur zehn Meter weit sehen kannst.

 

Unten im Tal gibt es dann viele Läden, in denen du Andenken kaufen kannst – und Postkarten. Ich habe mir sehr viele Postkarten angeschaut. Beinahe alle zeigen irgendwelches Berg- oder Gipfelpanorama – und Menschen. Eine Postkarte zu bekommen, auf der keine Menschen abgebildet sind, ist im Hochgebirge fast unmöglich – sowas gibt es kaum.

 

Und egal, was sie sagen und wie sie sich nach ihren Hochtouren auf den sozialen Medien dazu äußern:

Für die allermeisten Menschen, die ins Hochgebirge gehen, gilt also ganz offensichtlich:

 

Das wichtigste am Gebirge, das bin ich.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0