Das Jahr der Geburt - Teil sechs – Der Weg der Verdammten

*** Achtung bitte, dieser Text enthält Triggerkram. ***

 

 

Was dann kam, muss unsere erste Begegnung mit unserer leiblichen Mutter nach unserer Geburt gewesen sein.

Sie schaute uns an.

 

Und das war auch schon alles:

Sie schaute uns an. Sie schaute uns direkt ins Gesicht, schon bald nach unserer Geburt.

Wir sahen ihre Augen (wenn auch ziemlich unscharf), und wir verstanden sofort.

Wir verstanden sofort alles.

 

Die ganze Szene hat fünf bis maximal dreißig Sekunden gedauert.

Aber sie war wirklich gravierend.

Mehrere Monate haben wir uns in der Therapie bei dieser Szene aufgehalten.

 

Und davon wollen wir in diesem Teil berichten.

 

 

Die beiden Augen unserer leiblichen Mutter vermittelten zwei sehr klare Botschaften. Das eine Auge vermittelte die eine Botschaft, das andere Auge vermittelte die andere Botschaft.

Wir nahmen als Säugling direkt nach der Geburt beide Botschaften unmittelbar wahr. Wir nahmen sie beiden unmittelbar ins uns auf. Zwischen den Botschaften und uns gab es keinen Puffer und keine Schranke. Beide Botschaften wurden von uns unmittelbar verstanden und fluteten direkt unseren gesamten Körper.

 

Und wir wussten, dass wir uns entscheiden mussten.

Das wussten wir mit einer Totalität und Absolutheit, wie sie nur Säuglinge erleben können.

 

Botschaft 1 – rechtes Auge

„Du musst sterben. Jetzt sofort, direkt und auf der Stelle.“

 

Das war keine Drohung, sondern ein klarer, nüchterner und banaler Fakt. So sicher, wie die Sonne auf- und wieder untergeht, würde ich sterben. Ich würde diesen Tag nicht überleben. Ich würde nicht mal die nächste Stunde überleben. Das war also das Ende. Ich schaute dem Tod ins Gesicht, und ich erkannte ihn. Und er erkannte uns.

Alles klar.

 

Als Säugling sah ich das direkt und ohne jeden Filter oder Puffer.

Ich wusste buchstäblich, was die Stunde geschlagen hatte.

 

Blieb also noch das andere Auge.

Was fanden wir da?

 

Botschaft 2 – linkes Auge

„Du darfst leben, aber …“

 

Natürlich haben wir uns als Säugling direkt der Botschaft 2 zugewandt. Wir wollten nicht sterben. Wir wollten leben. Also wählten wir die andere Alternative.

Doch diese andere Alternative, die, die sich hinter diesem „aber“ verbarg, die hatte es richtig in sich. Die war so gravierend, dass wir uns in der Therapie beinahe ein halbes Jahr ausschließlich damit beschäftigten.

 

Das, was wir im linken Auge lasen, nannten wir den „Weg der Verdammten“.

 

Wir wurden von unserer leiblichen Mutter verdammt und verflucht – in alle Ewigkeit.

Wir mussten nicht sterben, wenn wir in dieses Auge sahen, das nicht. Aber wir wurden verflucht.

 

Wir durften leben.

 

Aber …

 

… wir würden immer an der Schwelle des Todes stehen

… wir würden immer verzweifelt sein

… unsere Welt würde immer voller Angst, Schrecken und Gefahr sein

… unsere Welt würde Angst, Angst, Angst, Angst, Angst, Angst, Angst sein

… sie würden uns fürchterliche Schmerzen zufügen – jederzeit

… wir würden immer ein gejagtes und gehetztes Leben führen. Nie würden wir zur Ruhe kommen können.

… unser Leben würde immer sehr grau, trostlos und einsam sein. Ein Leben in einer grauen, düsteren, öden, völlig trostlosen und völlig einsamen Stacheldrahtwüste

… Hunger und Durst würden unsere ständigen Begleiter sein

… es würde viel zu kalt sein

… wir würden ein ewiger Wanderer in dieser Wüste sein und nie ankommen

 

Das alles und noch mehr fanden wir im linken Auge der leiblichen Mutter. Wir nahmen das alles in buchstäblich einem Augenblick in uns auf. Das war kein rationales Erkennen oder Abwägen, sondern es war als Gesamtpaket von jetzt auf gleich in unserem Körper. So fühlte sich unser Körper an. Es war in unserem Körper, und wir wussten Bescheid. Und wie wir Bescheid wussten! Mit mehr Sicherheit kann man Dinge gar nicht wissen.

 

Wir wollten das alles nicht.

Wir wollten nicht verflucht werden.

Wir wollten nicht den Weg der Verdammten gehen.

Also wandten wir uns wieder dem anderen Auge zu.

Aber dort stand in felsenfester Sicherheit:

„Du bist tot.“

 

Aber wir wollten leben.

Also wandten wir uns wieder dem anderen Auge zu.

Und dort standen all diese Verfluchungen.

Das wollten wir nicht – also wieder zurück zum anderen Auge.

Dort stand aber unser Tod so klar, fest und sicher wie ein riesiger Fels.

Aber wir wollten leben!

Also ließen wir uns verfluchen.

Wir wussten, dass wir den Rest unseres Lebens dazu verflucht waren, den „Weg der Verdammten“ zu gehen.

Also würden wir ihn gehen.

 

Wir würden den Weg der Verdammten gehen – das war so sicher wie nur irgendwas.

Wir waren gerade geboren worden, und wir wussten, dass unser Leben eine nicht endende, quälende Hölle werden würde – Schmerzen, Angst, Kälte, Einsamkeit, Angst, Angst, Angst, Angst, Verzweiflung, höllische Schmerzen, niemals irgendwo ankommen  

 

Wir wussten das alles. Es war absolut unausweichlich und genauso würde es kommen. Es gab keinen Ausweg. Aber wir wollten leben. Also fügten wir uns. Wir fügten uns mit einer Totalität, die nur Säuglinge kennen.

 

Wir gingen den Weg der Verdammten.

 

 

***

 

Erweiterung und Erläuterung

 

Mit dieser Szene hielten wir uns in der Therapie fast ein halbes Jahr auf. Es war derart schrecklich, dass wir das nur in ganz kleinen Puzzlestücken wiederfinden konnten.

 

Was uns damals, als wir ein Säugling gewesen waren, in drei bis maximal fünf Sekunden absolut klar geworden war, konnten wir als baumstarker Erwachsener nur in mehr als zwei dutzendTherapieliegungen zusammenpuzzeln, sonst hätte uns das zerrissen und umgebracht.

 

Als wir mit dieser Thematik beinahe durch waren, begriffen wir aber auch dieses:

 

Die leibliche Mutter hatte es nur gut mit uns gemeint.

Das war die Welt gewesen, in der sie gelebt hatte – sie hatte nie etwas anderes gekannt:

Entweder du bist tot, oder du gehst den Weg der Verdammten.

Etwas anderes kannte sie nicht. Etwas anderes konnte sie sich gar nicht vorstellen.

 

Sie hatte gewollt, dass wir leben.

Deshalb hatte sie uns den Weg der Verdammten gewiesen – den einzigen Weg, den sie kannte, den einzigen Weg, den sie sich vorstellen konnte.

 

Es war ihre Form gewesen, uns ihre ganze Liebe zu zeigen und zu geben.

 

Manchmal haben Mütter nicht mehr zu geben als dieses.

Und wenn du so eine Mutter hast, dann ist das dein Schicksal.

Das kannst du gemein und hässlich finden, das ändert aber nichts an den Tatsachen:

Es ist dein Schicksal – ein anderes bekommst du nicht -, und du musst das beste daraus machen.

 

 

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