Das Jahr der Geburt - Teil 4 – Der andere

*** Achtung bitte, dieser Text enthält Triggerkram. ***

 

 

Seit wir denken können zieht sich durch unsere Erinnerung, dass es ganz am Anfang unseres Lebens noch einen anderen gab, den wir aber verloren haben. Lange, lange Jahre gingen wir davon aus, dass wir mit einem Zwilling im Mutterbauch heranwuchsen, der aber nicht lebend auf die Welt kam.

 

Unser Problem war:

Niemals haben wir in all den Jahren bei unseren Erinnerungen an das, was wir im Mutterbauch erlebten, die Anwesenheit eines anderen Kindes gespürt.

Niemals.

Mit anderen Worten:

Sehr wahrscheinlich waren wir kein Zwilling.

Wir waren alleine im Mutterbauch.

Und dennoch war ganz vielen von uns völlig klar: Da war auch ein anderer gewesen.

Das war ein durchdringendes Gefühl – immer schon. Das war wie ein Geruch, den man ganz leicht und ständig in der Nase hat, von dem man aber nicht weiß, was es ist und wo er herkommt. Aber verdammt nochmal – da ist doch was!

 

Wir wussten, dass es diesen anderen gegeben haben musste, dass wir ihn aber verloren hatten.

 

Aber wir hatten keine Ahnung, um was es eigentlich ging. Was war die physikalische Wirklichkeit hinter dieser so sicheren aber diffusen Erinnerung und Empfindung?

 

Es war Frühling geworden im Jahr der Geburt 2021. Unsere Kleinen verlangten eines Abends von mir, zum Einschlafen eine Geschichte vorgelesen zu bekommen, die uns immer sehr, sehr bewegt hatte, als wir alle noch klein gewesen waren.

 

Diese Geschichte ist von Astrid Lindgren: „Allerliebste Schwester“

In dieser Geschichte geht es knapp gesagt um dieses:

Ein kleines Mädchen erzählt, dass es eine Zwillingsschwester hat, von der aber niemand weiß. Direkt nach der Geburt war diese Schwester in den Garten der Eltern gelaufen - unter einen Rosenbusch. Dort ist der Eingang in eine geheime, unterirdische Welt, von der nur die beiden wissen.

In dieser geheimen, unterirdischen Welt ist die Zwillingsschwester Königin in einem prachtvollen Schloss. Und das Mädchen, das seine Geschichte erzählt, ist sehr häufig bei ihr dort unten. Sie reiten auf eigenen Pferden, haben Hunde und andere Tiere – es ist ein Paradies für die beiden dort unten.

 

Das Mädchen erzählt weiter:

Als sie und ihre Zwillingsschwester das letzte Mal in ihrer geheimen Welt ausritten, hatte die Zwillingsschwester ihr gesagt:

„Wenn der Rosenbusch im Garten verdorrt ist, dann werde ich tot sein.“

 

Das Mädchen hatte davon nichts wissen wollen und war so schnell wie möglich zum Schloss zurückgeritten. Dort verlebten beide Schwestern noch einen sehr schönen Abend. Aber dann musste das Mädchen wieder nach oben zu ihren Eltern, damit sie sich keine Sorgen machten.

 

Als sie am nächsten Morgen wieder in den Garten geht, ist der Rosenbusch verdorrt und das Loch im Boden, das in die andere Welt führte, ist verschwunden.

 

Diese Geschichte hatte uns immer sehr bewegt, als wir noch klein gewesen waren. Dann hatte das Buch jahrzehntelang unberührt im Bücherregal am Kopfende unseres Bettes gelegen. Und jetzt wollten unsere Kleinen das vorgelesen haben.

Ich fragte sie:

„Wirklich? Ihr wollt das wirklich vorgelesen haben?

Sie bestanden darauf.

 

Also las ich ihnen das vor.

Und wir mussten ganz schrecklich weinen.

 

Dann wollten sie es nochmal vorgelesen haben.

Ich las es ihnen nochmal vor.

Und wir mussten ganz schrecklich weinen.

 

Dann wollten sie die Geschichte ein drittes Mal vorgelesen haben.

Und so las ich sie ihnen noch einmal vor.

Und wir mussten ganz schrecklich weinen.

 

In dieser Stimmung gingen wir am nächsten Tag in die Therapie, um zu schauen, was unser Körper dieses Mal freigeben würde. 

 

Was wir an diesem Tag in der Therapie wiederfanden, lässt sich so beschreiben:

 

Wir wurden geboren. Mit uns geboren wurde der andere. Wir wussten, dass unsere Welt schrecklich war, und dass schreckliche Dinge auf uns warteten.

 

Aber in all der Zeit im Mutterbauch (also seit ewig schon) war der andere zuverlässig an unserer Seite gewesen. Was immer auch gewesen war – er war da gewesen. Er hatte uns beruhigt und gewärmt. Wenn es uns ganz schlechtgegangen war, dann hatten wir immer unsere beiden Hände an ihn gelegt – er hatte uns gewärmt und beruhigt und alles war besser geworden. Ohne ihn hätten wir all die Abtreibungsversuche niemals überlebt.

 

Wir wussten:

Solange der andere da war, war alles gut – mochte es auch noch so schlimm kommen: Solange der andere da war, war alles in Ordnung.

Er war ein Teil von uns und wir waren ein Teil von ihm. Wir beide waren eins und doch zwei. Und es war beinahe paradiesisch, wenn er da war. Wenn wir in dieser Hölle des Mutterbauchs überhaupt etwas gefunden hatten, was an ein Paradies erinnerte, dann war das immer er gewesen. Mit ihm zusammen konnte uns nichts passieren – mochte es auch noch so schrecklich kommen. Mit ihm zusammen konnten wir durch’s ganze Leben gehen. Wir würden auf immer mit ihm zusammen sein – immer, immer, immer -, und obwohl wir buchstäblich in der Hölle leben würden - alles würde gut sein.

Ja! – Wir würden immer zusammen sein, und alles würde gut sein!

Das war gewiss.

 

Er hatte uns immer gewärmt, wenn uns so schrecklich kalt gewesen war. Er war immer für uns da gewesen. Er hatte uns immer beruhigt, wenn die Welt aus den Fugen geriet und es alles so schrecklich war und so schrecklich weh tat. Immer, wenn es uns schlecht ging, konnten wir unsere Hände an ihn legen und uns wärmen, und alles wurde besser.

Es war eine innige, innige, innige Beziehung und sie durchzog buchstäblich jede Faser unseres Seins.

 

Niemals in unserem Leben nach der Geburt haben wir irgendwas erlebt, was dem auch nur entfernt nahegekommen wäre.

 

Er wurde geboren und wir wurden geboren. Wer von uns beiden zuerst auf die Welt kam konnten wir nicht feststellen.

Aber dann waren wir da außerhalb des Mutterbauches. Und er war da. Wir legten wie gewohnt unsere Hände an ihn, um uns zu wärmen und zu beruhigen.

 

Und zu unserem Entsetzen stellten wir fest, dass er starb!

„Wohin gehst du?!“

„Ich gehe. Ich werde tot sein, damit du leben kannst.“

„Nicht! Ich kann ohne dich nicht sein!“

 

Wir waren voller Entsetzen und Verzweiflung. Wir legten unsere Hände an ihn und unsere kleinen Arme um ihn, um ihn zu halten. Aber dabei spürten wir, wie er immer weniger wurde. Er starb.

Er starb und wir konnten nichts dagegen tun.

 

Es war das furchtbarste, was wir je erlebt haben.

Mit ganz großem Abstand war es furchtbarste, was wir je erlebt haben.

 

Er starb, und wir konnten nichts dagegen tun.

Er wusste, dass er sterben würde, und er merkte auch, wie es uns ging. Aber er konnte es auch nicht ändern.

Seine letzten Worte waren:

„Es muss sein.“

 

Und dann war er tot, und wir waren ganz alleine!

Und das war viel mehr als so ein kleines Herz und so ein kleiner Körper aufnehmen und ertragen können.

Unser Leben endete an dieser Stelle.

Trauer, Entsetzen, Schmerzen …

 

Er war immer ein Teil von uns gewesen und wir ein Teil von ihm und jetzt war er tot.

Aber wir konnten doch ohne ihn nicht sein!

 

Wir schwammen in einem Ozean aus Trauer, Entsetzen und Tränen.

Der andere war tot, und wir waren völlig alleine.

 

Wir würden einsam und verloren durch diese Welt gehen, und das würde sich niemals ändern.

Wir würden nie wieder lieben.

Wir würden uns nie wieder an jemanden binden oder jemandem anvertrauen.

Der andere war tot, und damit war jede weitere Existenz für uns völlig sinnlos geworden.

Wir würden einsam und grau durch dieses graue, trostlose, öde und leere Leben stolpern und irgendwann sterben. Vielleicht würden wir dann den anderen wiederfinden.

 

Es war das Ende.

Wir hatten den anderen verloren – die ultimative Katastrophe.

 

****

 

Erweiterung und Erläuterung

 

Als wir an diesem Tag in der Abschlussbesprechung der Therapeutin stockend und in Tränen erzählten, was wir erlebt hatten, konnte sie uns erklären, was passiert war.

 

Sie sagte nur:

„Plazenta.“

Wir fragten:

„Was?“

Und dann erklärte sie es uns:

 

Sie sagte uns, dass viele Kinder, die im Mutterbauch heranwachsen, die Plazenta als einen Teil von sich erleben. Als einen Teil von sich, der aber nicht sie selber sind. Beide teilen Blut und Nährstoffe.

 

Nach der Geburt, sagte sie, muss das Blut aus der Plazenta an das Kind zurückgegeben werden. Geschieht das nicht, weil die beiden zu früh getrennt werden, kann das als traumatischer Verlust erlebt werden. Dann erlebt das Kind es so, dass ein Teil von ihm stirbt.

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Fischer (Montag, 20 Februar 2023 22:56)

    Das macht mich nachdenklich. Ist das die Erklärung warum hypersensible Menschen, oft als Kind dieses Gefühl des Zwilling haben. Das da jemand sein müsste. Oder das man falsch ist. Das was als autistische Wahrnehmung angesehen wird aber evtl. halt auch mit der Linkshändigkeit und dem anderem Denken bei manchen noch intensiver wahrgenommen wird?
    Ich kenne das Gefühl. Es ist sehr tief im innersten. Danke für diese Erklärung. Nichts falscher Planet und Einsam...Naja, nicht gleich übertreiben ;). Aber danke.
    MfG
    P.Fischer