Das Jahr der Geburt - Teil 0 - Prolog

Es ist mal wieder Sommer geworden in Mitteleuropa. Die Bienen summen durch die Luft und sammeln eifrig Honig. Die Vögel ziehen ihre Jungen groß und bringen ihnen das Fliegen bei. Die Kinder vergnügen sich in den Freibädern und sehnen die großen Ferien herbei. Die Rehe spielen in den schattigen Auen tief in den Wäldern Halma (wobei sie ständig mogeln, wenn das andere Reh grad nicht hinguckt), und viele Menschen bereiten sich auf die Urlaubszeit vor.

 

Wie zu dieser Zeit üblich, werde ich demnächst wieder für ein paar Wochen im Hochgebirge verschwinden. Dann bin ich weg und unerreichbar. Wie in den letzten Jahren auch werden an dieser Stelle dennoch weiterhin Texte von mir erscheinen, denn ich habe vorgearbeitet.

 

Solange es geht, will ich hier im immer gleichen Rhythmus einen Text pro Woche erscheinen lassen. Das liegt auch an meiner eigenen Befindlichkeit:

Ich habe die Blogs einiger anderer Autisten begleitet und mich immer daran gestört, wenn Texte unregelmäßig erschienen – ich wusste nie, wann der nächste kommen würde. Darüber hinaus pflegen solche Blogs irgendwann zu enden. Es erscheinen einfach keine weiteren Texte mehr. Das fühlt sich für mich dann immer so an, als würde ein interessanter Weg, dem ich seit Jahren ins Unbekannte gefolgt bin, abrupt im Nichts enden. Das finde ich dann immer sehr, sehr schade.

 

Ich weiß nicht, ob andere Autisten da ähnlich empfinden. Auf jeden Fall habe ich, bevor ich diesen Blog startete, intensiv darüber nachgedacht, wie ich so einen Blog – abseits von den Inhalten – gestalten wollte. Weit über ein Jahr habe ich im Stillen Text auf Text gehäuft, um zu schauen, in welcher Frequenz ich Texte produzieren konnte und wollte. Und erst als ich die Gewissheit hatte: Ja, ich kann jahrelang einen Text pro Woche produzieren, habe ich den Blog gestartet.

 

Aber natürlich weiß ich nicht, wie lange das so gehen wird. Da kann ich keinerlei Zusage machen und keinerlei Verpflichtung eingehen. Jedoch ist bislang kein Ende dieses Blogs in Sicht.

 

Irgendwann wird die Sommerzeit auch zu Ende sein. Dann ist der Honig gesammelt, dann können die Jungvögel fliegen. Die Kinder sind aus den Ferien zurück und gehen wieder in die Schule, und die Rehe haben den diesjährigen Meister im Waldhalma ermittelt und gebührend gefeiert.

 

Dann werden ganz viele Gespräche, Schulaufsätze, Facebookposts etc. sich um ein Thema drehen:

Wie ich meine Ferien verbrachte.

Oder im Englischen:

„How I spent my vacation.”

 

Hier in diesem Blog wird es genau andersherum sein.

Die folgenden zehn Texte werden sich alle darum drehen, wie ich das Jahr 2021 erlebte.

Aber nicht im Sinne von

„How I lived my mundane and everyday routines.”

Eher im Gegenteil.

 

Es hat sich in meinem / unseren Inneren einiges getan im Jahr 2021. Es begann sehr exakt mit dem Beginn des Jahres – und ob es mit dem Ende des Jahres 2021 auch endete, das kann ich bislang nicht sagen. Die Dinge sind im Fluss.

 

Was war 2021 Thema in unserem Inneren?

2021 war bei uns das Jahr der Geburt.

 

Im letzten Jahr habe ich an dieser Stelle im Sommer davon berichtet, dass ich einen Anderen in mir fand, der mir den Weg durch sechs Türen zu ihm wies. Das war alles geschehen im Jahr 2019 und in den ersten Monaten 2020. Siehe hier.

 

Ich habe im letzten Jahr davon berichtet, wie ich Erinnerungen an Folter, Missbrauch, Vergewaltigung und Tod fand, die vollkommen verloren gegangen waren. Nur unser Körper erinnerte sich noch. Er erinnerte sich detailliert und gut – und hätte ich all diese Erinnerungen nicht wiedergefunden, dann hätten sie weiterhin zu chronischen Krankheiten und zu einem zu frühen Tod geführt.

 

Als ich damit durch war, fragte ich mich, wie es denn noch schlimmer kommen könnte.

Denn das scheint ein Naturgesetz bei wirksamen Psychotherapien zu sein:

Das, was du wiederfindest, wird immer schlimmer.

 

Noch schlimmer, als vergewaltigt und zu Tode gefoltert werden?

Noch schlimmer, als ohne die Gabe von Schmerzmitteln operiert zu werden und dann in diesen höllischen Schmerzen wochenlang auf der Intensivstation in Agonie zu vegetieren – in einer Wirklichkeit, in der sich Minuten zu Tagen dehnen? Was soll da noch schlimmer werden?

 

Aber ich kann euch versichern:

Das geht.

Das geht alles.

Bislang habe ich keine Grenze dessen gefunden, was ein Mensch überleben kann.

Natürlich: Wenn ein Haus auf dich drauffällt, dann bist du platt. Dann bist du tot. Aber das, was die Seele alles in sich aufnehmen kann, ohne dabei zu sterben, das überrascht mich immer wieder.

 

Das Jahr der Geburt also.

2021 war bei uns das Jahr der Geburt.

Die Psychotherapie, mit der wir arbeiten, führt dich immer weiter zurück in deine Vergangenheit, und du erlebst, was du damals erlebt hast. Das erlebst du nicht alles am Stück, sondern immer nur in Fragmenten. Dennoch ist das alles sehr real. Das ist also nicht so, als würdest du dir einen Film über dich anschauen, sondern du bist dann tatsächlich in diesen Situationen wieder drin.

Wir kennen keine Psychotherapie, die härter ist als diese. Gleichzeitig scheint es uns die einzige zu sein, in der wir heilen können. Unsere Kleinen lehnen bislang jede andere Therapieform ab. Sie wollen diese. Das darf natürlich ergänzt werden durch andere Techniken und Therapieformen, keine Frage. Aber Kernpunkt ist immer: Wir dürfen nochmal in diese Situation rein.

 

Und wir fühlten uns tatsächlich wie neugeboren.

Wir laden die Leser, die das interessiert, in den nächsten Wochen ein, sich mal anzuschauen, was das in unserem Fall bedeutete:

„Ich fühle mich wie neugeboren.“

 

Allerdings ist das natürlich wieder alles angefüllt mit Triggerkram. Wer eine verwundbare Seele hat, sollte auf sich achtgeben.

 

Wir haben vergleichbare Texte bislang nicht im Internet (oder sonstwo) gefunden – weder auf Deutsch noch auf Englisch. Vielleicht gibt es sie irgendwo, und wir finden sie nur nicht. Aber vielleicht gibt es sie bislang auch noch nicht.

Deshalb lade ich speziell die, denen es ähnlich gegangen ist wie uns, dazu ein, sich das mal anzuschauen und mit der eigenen Erfahrung zu vergleichen.

 

Und an alle anderen, die sowas nicht lesen wollen:

Irgendwann, wenn der Sommer zu Ende geht (und der König oder die Königin im Waldhalma ermittelt ist), kommen auch wieder andere Texte. Und ich lade euch ein, bis dahin einen wunderschönen Sommer zu erleben, der angefüllt ist mit allem, was es braucht, damit es für euch ein Sommer wird, an den ihr euch ein Leben lang gerne zurückerinnert.

 

Niemand muss das hier in den folgenden Wochen lesen.

Das ist nur für die gedacht, die sowas interessiert.

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