Auf der anderen Seite

*** „Auf der anderen Seite – in der neuen Welt warten rote Zombies auf ihr Geld.“

Zitiert nach einer Musikgruppe, die zu ihrer Zeit in Deutschland sehr bekannt war. ***

 

1

Ich war 22 Jahre alt. Ich stand wenige Meter vor dem Eingang der Praxis des Mannes, der mir als Psychotherapeut empfohlen worden war. Ich schaute auf die riesige Eingangstür:

Würde ich da jetzt tatsächlich gleich reingehen?

Ich bestand zu 90 Prozent aus Angst, zu acht Prozent aus Unsicherheit und zu zwei Prozent aus irgendwelchen Spurenelementen.

 

In dieser Situation wurde mir ganz plötzlich bewusst, dass mir gar nicht klar war, was eigentlich mein Ziel war.

Was wollte ich in dieser Therapie überhaupt erreichen? Warum würde ich da gleich reingehen?

Und völlig spontan und absolut sicher kam ich zur felsenfesten Entscheidung:

„Ich will ein neues Leben.“

Mit sehr bangen Gefühlen aber mit deutlich mehr Festigkeit betrat ich die Praxis. Eine riesengroße Arztpraxis. Ich hatte ein Ziel. Ich hatte einen Termin.

 

 

2

Ich führte das Erstgespräch mit diesem Mann. Er saß auf der einen Seite des Tisches, ich saß auf der anderen Seite. Er fragte mich dies und das und jenes. Ich antwortete ihm dies und das und jenes.

 

Gleichzeitig beobachtete ich ihn intensiv – wie das so meine Art war. Irgendwas war an diesem Mann völlig anders als an jedem anderen Menschen, dem ich bislang begegnet war. Aber es dauerte viele Minuten, bis ich begriff, was so eigenartig an ihm war:

 

Dieser Mann schien völlig alterslos zu sein. Er konnte vierzig Jahre alt sein, aber auch sechzig oder siebzig. Ich fand keinerlei Anhaltspunkt, um sein Alter auch nur vage einschätzen zu können. Vielleicht war er auch nur 30? Immer, wenn ich glaubte, sein Alter einigermaßen fassen zu können, schien sein Gesicht in Fluss zu geraten und sich in etwas ganz anderes zu verwandeln. Sehr eigentümlich.

 

Er machte in diesem Gespräch beruhigend viele logische Fehler, so dass ich sicher sein konnte, hier nicht irgendeinem Supermenschen gegenüberzusitzen. Er war völlig normal und ziemlich begrenzt, wie alle anderen auch. Dennoch war es für mich, als würde ich mich mit einem Bach oder einem See unterhalten oder mit einem Buchenwald, durch den ein kräftiger Wind geht.

 

Er schilderte mir dann, wie er meine Lebenssituation einschätzte, und was ich erwarten konnte, wenn ich bei ihm in die Therapie ging. Er sagte:

„Ich nehme Sie dann an der Hand und gehe mit Ihnen durch einen zehn Kilometer langen Tunnel.“

 

Meine spontane und heftige innere Reaktion war:

„Das ist mir viel zu lang.“

Aber ich sagte nichts. Ich bin ein eher schweigsamer Mensch.

 

Während er weitersprach, gewann ich den Eindruck, dass er wusste, wovon er da redete, und dass er vielleicht selber durch so einen Tunnel gegangen war und jetzt auf der anderen Seite lebte.

 

 

3

Ich blieb viele, viele Jahre bei diesem Mann in der Therapie. Im Verlauf dieser Jahre wurde mir immer deutlicher:

Mal sehen, ob das mit den zehn Kilometern nicht eine viel zu optimistische Schätzung war.

 

Ich hatte wirklich ernste Zweifel, ob ich die andere Seite des Tunnels jemals erreichen würde. Ich machte Fortschritte in dieser Therapie – ohne jede Frage. Aber je tiefer ich da hineinging, je mehr ich mich einließ auf das, was in meinem Leben gewesen war, desto dunkler und hoffnungsloser schien das alles zu werden. Egal wie schlimm die Gefühle waren, die ich wiederfand – ich konnte absolut sicher sein, dass das, was ich zukünftig finden würde, weit, weit schlimmer sein würde.

 

Wie gesagt: Tunnel. Rings um dich ist alles stockdunkel. Kein Licht – nirgendwo. Und du gräbst dich weiter und weiter in diese absolute Finsternis. Du gräbst und gräbst, und gräbst und gräbst.

Kilometerlang.

Ohne Garantie, dass da auf der anderen Seite noch irgendwas anderes kommt.

Und du hast keine Ahnung, auf was du als nächstes stoßen wirst.

 

 

4

Ich war acht oder neun Jahre in dieser Therapie. Inzwischen hatte sich ein gewisser Stoizismus in mir breit gemacht:

Wenn das hier alles nötig war, damit ich ein neues Leben fand, dann musste das halt so sein.

 

Irgendeine brauchbare Alternative dazu hatte ich nicht – absolut nicht, nicht mal im Ansatz. (Und ich hatte mir wirklich viele Gedanken darüber gemacht, ob es nicht andere Möglichkeiten gäbe, zu einem Leben zu kommen, das diesen Namen wenigsten halbwegs verdiente).

 

Ich war gerade bei einem der sogenannten „Intensivs“ (drei Tage Therapie am Stück). Ich saß in einer Therapiepause in einem der vielen Nebenräume, die sie da hatten in einem riesigen und wuchtigen Lederfauteuil und saß da einfach nur so für mich hin.

 

Etwas entfernt saß eine Frau auf einem Ledersofa, die deutlich älter war als ich. Wir waren beide allein in diesem Raum. Sie wirkte recht in sich ruhend auf mich. Auch sie saß nur da und war da. Ich sprach sie an:

 

„Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

„Ja, ich komme auch nur noch selten.“

„Selten?“

„Ja, ich bin seit mehr als dreizehn Jahren bei [Name].“

 

Wir schwiegen beide eine Weile. Dann sprach sie weiter:

 

„Inzwischen habe ich so viel von mir befreit, dass ich nur noch alle vierzehn Tage komme. Öfter ist nicht mehr nötig.“

 

Wir schwiegen beide. Keiner von uns sagte ein Wort.

 

Dann nahm sie sich einen kleinen Korb, der neben ihr auf dem Boden stand. Es war ein kleiner Korb aus Weidengeflecht, wie ihn Ökos und bewusste Menschen nutzen, um darin ihr Zeug zu transportieren.

 

Sie stellte den Korb auf ihren Schoß, nahm in einer fließenden Bewegung ein Tuch weg, mit dem sie ihr Zeug abgedeckt hatte und griff sich einen Apfel. Nur selten hatte ich bis dahin erwachsene Menschen gesehen, die sich so fließend bewegten.

 

Mit der linken Hand hielt sie den Apfel, mit der rechten Hand schälte sie ihn. Sie benutzte dafür ein kleines Obstmesser mit abgerundeter Spitze. Sie schälte den Apfel, und ich schaute ihr zu. Und während ich ihr zuschaute, begriff ich:

„Diese Frau ist auf der anderen Seite angekommen.“

So in sich ruhend konzentriert auf eine Sache sein und sich so fließend bewegen, das konnte tatsächlich nur, wer auf der anderen Seite angekommen war.

 

Ich habe diese Frau nie wiedergesehen, und wir haben auch kein weiteres Wort miteinander gesprochen. Aber das Bild dieser Frau, wie sie da auf dem Sofa sitzt und ihren Apfel schält, ist auch heute noch sehr lebendig in mir.

 

 

5

Wenige Jahre später kam ich selber auf der anderen Seite an:

Willkommen auf der anderen Seite, willkommen in deinem neuen Leben.

 

Und tatsächlich – das war wirklich nicht schlecht. Dafür über ein Jahrzehnt zu ackern und zu graben, das hatte sich gelohnt. Auch im Nachhinein betrachtet hätte ich all die Zeit und all das Geld nicht anders investieren wollen.

 

In Filmen wird an dieser Stelle immer abgeblendet:

„And they lived happily ever after.”

Das ist natürlich der reine Quatsch.

 

In deinem neuen Leben geht es mit der Arbeit erst richtig los. Aber du weißt, wofür. Du lebst in deinen neuen Leben, und dieses Leben kann dir niemand mehr nehmen, denn dieses Leben ist in dir. Und du kannst immer besser und immer klarer sehen und spüren, worum es eigentlich geht. Du hast ein klares Ziel, und für die Zielerreichung stehen dir Energien und Möglichkeiten zur Verfügung, von denen die auf der – von dir aus gesehen – anderen Seite nur träumen können. So vieles, was Zwang und Illusion ist, ist dauerhaft von dir abgefallen – und wird auch nie wiederkehren. (Dafür hast du umso mehr mit Zwängen und Illusionen zu kämpfen, die dir vorher nicht mal ansatzweise bewusst waren … aber so ist das eben).

 

Am Anfang dieses Textes zitierte ich aus einem Lied:

„Auf der anderen Seite, in der neuen Welt warten rote Zombies auf ihr Geld.“

Deshalb schau, dass du auf der anderen Seite immer Zombie-Dollars bei dir hast, denn Zombies – speziell die roten – können echt stinkig werden, wenn sie zu lange auf ihr Geld warten müssen. Dann willst du denen nicht im Dunkeln begegnen.

 

Aber vielleicht ist das auch nur so ein Gerücht, und in Wirklichkeit verbreite ich hier wieder nur den reinen Unsinn.

 

Bei einem wie mir kann man das nie so genau wissen.

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