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Kann man den Menschen vertrauen?

Aus Gründen, die ich nicht kenne, wird mir diese Frage in Gesprächen und in Coachingsituationen in letzter Zeit häufiger gestellt. Ich kann diese Frage nicht beantworten, aber ich merke, dass ich häufiger darüber nachdenke und will deshalb an dieser Stelle mal meine Sicht der Dinge darstellen. (Und wie immer gilt: Das ist meine Sicht der Dinge, jeder darf eine andere haben).

 

Also:

Kann man den Menschen vertrauen?

 

Diese Frage ist aus Kindersicht verständlich gestellt. Wenn wir ein Kind sind, dann müssen wir das wissen. Und wenn wir ein Erwachsener sind, dann muss das Kind in uns das wissen: Kann ich Menschen vertrauen?

 

Die Frage ist also wichtig, und der Grund, aus dem sie gestellt wird, ist absolut nachvollziehbar und aller Ehren wert.

Dennoch ist sie aus realer Sicht nicht sinnvoll zu beantworten.

Das hat aus meiner Sicht zwei Hauptgründe:

 

1

„Die“ Menschen? Wer soll das sein? Menschen sind immer Individuen, die sich in konkreten Situationen so oder so verhalten. Wenn du klären willst, ob du „den“ Menschen trauen kannst, dann musst du die einzelnen Individuen, auf die sich diese Frage bezieht, in den Blick nehmen. Sonst müsstest du buchstäblich Milliarden von Menschen prüfen.

 

2

„Vertrauen“? Was soll das sein? Woran wirst du erkennen, dass du einem Menschen vertrauen kannst oder nicht?

Das hat bei den Menschen, die ich dazu befragt habe, zahlreiche Facetten. Ich will einige wichtige skizzieren

 

a

Zutrauen / Kompetenz

Ich traue einem Menschen zu, dass er zum Beispiel mein Auto reparieren kann. Ich weiß, in dieser Sache kann ich ihm „blind“ vertrauen: Gebe ich ihm mein kaputtes Auto, dann macht er es mir wieder ganz. Das kann er. Da ist er kompetent.

 

b

Ehrlichkeit

Ich kann mich darauf verlassen, dass dieser Mensch mich nicht belügt bzw. dass er sagt, was er denkt und fühlt.

 

c

Verschwiegenheit

Ich kann mich darauf verlassen, dass dieser Mensch private Dinge und Geheimnisse, die ich ihm anvertraue, für sich behält.

 

d

Krisenfestigkeit

Ich kann mich darauf verlassen, dass dieser Mensch in Krisensituationen weiterhin der Situation angemessen reagiert und nicht spontan regrediert und auf einmal völlig dysfunktionales Verhalten zeigt.

Auf so einen Menschen kann ich mich jederzeit verlassen.

 

e

Zuverlässigkeit

Dieser Mensch tut, was er sagt, und er sagt, was er tut. Wenn er sagt, dass er um 09:00 da ist, dann ist er um 09:00 da. Da kann ich mich absolut drauf verlassen.

Wenn er mir sagt, dass er das wegräumen wird, dann wird er das auch tun, da kann ich ganz sicher sein.

 

f

Loyalität / Treue

Dieser Mensch wird treu an meiner Seite stehen, selbst wenn sich die ganze Welt gegen mich stellen sollte.

 

g

Hilfsbereitschaft

Wenn ich in Schwierigkeiten bin, dann kann ich darauf vertrauen, dass dieser Mensch mir helfen wird.

 

 

Natürlich hat das Verb „vertrauen“ im normalen Sprachgebrauch noch zahlreiche weitere Bedeutungen. Aber diese kurze Auflistung macht schon sehr deutlich, warum die Frage: „Kann ich den Menschen vertrauen“ nicht zu beantworten ist, bevor nicht wichtige Begriffe geklärt sind.

 

Aber wenn Menschen im Coaching auf mich zukommen und mich fragen, ob sie den Menschen vertrauen können, dann wollen sie von mir keinen Ausflug in die Semantik. Sie kommen nicht zu mir, um sich die deutsche Sprache erklären zu lassen. Der Grund, aus dem sie mich fragen, ist ein ganz anderer:

Eine alte Verletzung aus ihrer Kinderzeit ist wieder wach geworden. Und jetzt ist dem, der mich hier fragt, das Urvertrauen, dass die Menschen es schon gut mit ihm meinen werden, wieder mal abhanden gekommen.

 

Wenn du mich fragst, ob du den Menschen vertrauen kannst, dann fragst du mich das, weil Teile in dir wissen, dass sie Menschen nicht (mehr) vertrauen können. Würdest du dein altes Urvertrauen aus Kindertagen noch haben, dann würdest du mir diese Frage nicht stellen. Sie käme dir nicht mal in den Sinn. Du fragst mich ja auch nicht, ob es morgen noch Schwerkraft auf der Erde geben wird.

 

Irgendwas schwerwiegendes ist also in dir wach geworden.

Irgendwas schlimmes ist dir vor langer Zeit passiert.

Und wenn du jetzt Sicherheit im Außen suchst, dann kann ich dir versichern, dass du da nichts finden wirst. Wenn du die Sicherheit, die du im Inneren brauchst, im Außen suchst, bist du wie ein Adipöser, der frisst und frisst und frisst und frisst, weil seine Seele ständig hungert und der deshalb den Eindruck hat, nie satt werden zu können.

 

Wenn du den Eindruck hast, innerlich völlig verarmt zu sein und deshalb im Außen Reichtümer anhäufst, dass du der kleine Bruder von Dagobert Duck sein könntest, dann bleibst du trotzdem bitterarm. Da kannst du noch zehn weitere Fantastilliarden in deinen Geldspeicher schaffen – an deinem Grundgefühl, dass du arm bist, wird sich nichts ändern.

 

Vertrauen ist also ein innerer Zustand, nicht ein äußerer.

 

Kannst du den Menschen vertrauen?

Woher soll ich das wissen?

Zwei andere Fragen sind viel wichtiger:

a)  Was um alles in der Welt ist damals passiert? Welche Wunden von damals sind nicht geheilt?

b)  Willst du die Menschen, denen du heute begegnest, mit denen von damals gleichsetzen oder willst du den Menschen heute eine Chance geben? (Du entscheidest das, nicht ich).

 

In der Wohnung unter mir wohnt eine Frau, die ihr Glaubensbekenntnis an die Wohnungstür gepinnt hat:

„Seit ich die Menschen kenne liebe ich Tiere“ steht da.

Sie kennt vermutlich ein paar dutzend Menschen. Die anderen Milliarden kennt sie nicht. Der Mensch, den sie mit Abstand am besten kennt, ist sie selber. Was findet sie so verabscheuungswürdig an sich, dass sie sich statt sich selber lieber den Tieren zuwendet?

Ich weiß das nicht. Es interessiert mich auch nicht. Diese Frau legt ein recht unangenehmes Verhalten an den Tag, und als sie neulich versuchte, unsere Wohnungstür einzutreten, habe ich mich von der Polizei in das neue Verfahren einweisen lassen, wie man online Anzeigen erstellt. Da habe ich dann mal wieder etwas sehr praktisches gelernt.

 

Diese Frau sagt, dass sie die Tiere liebt. Neben ihrer Wohnungstür hängen ein paar Bilder an der Wand, die sie aus der Zeitschrift „Ein Herz für Tiere“ ausgeschnitten hat. Alle so süß, dass man schon vom bloßen Anschauen Karies bekommt.

Sie hat auch einen Hund, diese Frau. Der ist genauso neurotisch wie sie und hat hier in der Umgebung schon zig Leute gebissen. Dass sich dieser Hund von dieser Frau geliebt fühlt, kann ich nicht mal im Ansatz erkennen.

Ich sage:

Wer nicht lieben kann, der liebt auch die Tiere nicht.

 

Aber zurück zu den Menschen, die mich fragen, ob man den Menschen trauen kann.

Manchmal frage ich sie, ob ihnen denn zu trauen sei. Bislang hat das jeder dieser Menschen sehr spontan bejaht. Ich lasse mir dann immer schildern, warum das so ist – warum man ihnen vertrauen kann.

 

Denn es gilt dieses:

Wenn du tief im Inneren die Grundüberzeugung hast, ein nicht liebenswerter Mensch zu sein, (oder nur dann liebenswert zu sein, wenn du bestimmten Anforderungen genügst – Gewicht, Aussehen, Intelligenz, sozialer Status etc.), dann ist es sehr wahrscheinlich, dass du das auch auf andere Menschen überträgst.

 

Auf unsere Thematik übertragen bedeutet das:

Wenn du tief im Inneren weißt, dass du ein Mensch bist, dem zu trauen ist – aus welchem Grund solltest du dann anderen Menschen diese Eigenschaft (grundsätzlich vertrauenswürdig zu sein) absprechen? Was macht dich so anders als die anderen Menschen? Warum ist ausgerechnet dir zu trauen und allen anderen Menschen nicht?

 

Wenn wir als Kind die Entscheidung trafen, der Menschheit unser Urvertrauen zu entziehen, dann ist das schwerwiegend. Irgendwas ganz schreckliches ist passiert – ein Kind entscheidet sowas ja nicht einfach so und aus einer puren Laune heraus. Bei vielen Menschen heilt diese Wunde ihr ganzes Leben nicht zu. Als Erwachsene versuchen sie, anderen Menschen zu vertrauen, aber ihr ganzes Leben gehen sie auf ganz dünnem Eis (Sprachbild). Der andere kann sich in zehntausend Situationen als absolut vertrauenswürdig erwiesen haben, eine einzige Situation, in der er versagte, macht das alles wieder zunichte. Es ist dann so, als hätte es die zehntausend anderen Situationen nie gegeben.

 

Real gestellt müsste die Frage also anders lauten.

Nicht:

„Kann man den Menschen vertrauen?“, sondern

„Kann diese uralte Wunde wirklich heilen (und nicht nur irgendwie zuwuchern und von was anderem überdeckt werden)? Kann sie so heilen, dass ich wieder völlig arglos und vorbehaltlos vertrauen kann?“

 

Die Antwort ist:

Ja.

 

Das geht. Auch das kann heilen.

Aber das heilt nicht mal so eben nebenbei. Das erfordert konzentrierte, aufmerksame, disziplinierte und behutsame Beschäftigung über viele, viele Jahre.

Und nein, du kannst dir dieses Vertrauen nicht erdenken oder erkaufen oder irgendwas Gescheites lesen, und dann ist auf einmal diese Wunde verheilt. Heilung geht anders.

Heilung findest du in deinem Herzen oder nirgends.

Du findest sie nicht in Büchern, bei Wunderheilern oder spirituellen Paradiesvögeln.

Du findest diese Heilung in deinem Herzen oder nirgends.

 

Aber auch diese Wunde kann heilen.

 

Das bedeutet dann nicht, dass du dann wie ein reiner Tor (vulgo: Volldepp) durch die Gegend läufst und blindlings buchstäblich jedem Menschen vertraust.

 

Wenn du heilst, bedeutet das, dass du dir jeden Menschen mit wachem Bewusstsein sehr genau anschaust und einschätzt, in welchem Maße ihm zu vertrauen ist und in welchem eher nicht.

 

Es bedeutet, dass du grundsätzlich jedem Menschen eine Chance gibst (oder mehrere), vertrauenswürdig zu sein. Es bedeutet, dass du die Menschen, die dir heute begegnen, nicht mit denen verwechselst, die du in deiner Kindheit getroffen hast.

 

Es bedeutet, dass du die heutige Realität dazu nutzt, Erfahrungen zu machen und zu lernen und nicht dazu, in ewig gleichen Rollenspielen Situationen aus deiner Kindheit nachzuerleben.

 

Was du aus dieser Sache machst, ist allein deine Entscheidung.

Ich kann dir die Menschen nicht besser oder schlechter machen als sie eben sind.

Aber ich kann dir versichern:

 

Auch diese Wunde kann heilen.

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