Die Grenzen des Sagbaren verschieben

„‘N bisschen viel Psychokram hier in der letzten Zeit“, denke ich manchmal, wenn ich in diesen Blog gucke. Eigentlich war ich mit diesem Blog ja gestartet, um irgendwas Autistisches zu schreiben.

 

Aber …

 

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Zum Thema Autismus gibt es in meinen Augen gar nicht so schrecklich viel zu sagen. Irgendwann ist das, was zu sagen ist, gesagt, und dann ist Ende mit diesem Thema.

 

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Das hier ist ja der Bericht über eine Forschungsreise – meine Forschungsreise. Mein Leben ist eine lange, lange Forschungsreise. Und was ich auf dieser Forschungsreise erlebe und lerne, das kann ich mir nicht aussuchen und auch nicht im Vornherein planen.

 

Wenn in meinem Leben also Psychokram dran ist, dann gibt’s auch in diesem Blog jede Menge Psychokram, und wenn in meinem Leben wieder was anderes dran ist, dann gibt’s in diesem Blog auch mal wieder was anderes. Wer weiß - vielleicht begeistere ich mich in der nächsten Zeit für die unergründlichen Tiefen des Makramee, und dann gibt’s hier statt „jede Menge Psychokram“ auf einmal „jede Menge Makrameekram“. (Aber eigentlich rechne ich nicht damit).

 

Und ich zwing‘ ja niemanden, das zu lesen.

 

Also geht’s auch in diesem Text um „jede Menge Psychokram“ und im speziellen darum, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.

 

Wenn ich versuche aufzuschreiben, was ich auf meiner Forschungsreise sehe und erlebe, stelle ich immer wieder fest, dass ich nur ein Prozent von dem, was ich eigentlich zu berichten hätte, in Worte fassen kann. (In ganz seltenen Fällen kann das auch mal auf fünf Prozent steigen. – Aber dann ist definitiv Schluss).

 

Ich sitze da also vor meinem Laptop, starre intensiv auf die weiße Fläche vor mir (die das leere, weiße Blatt Papier symbolisiert) und warte darauf, dass sich da jetzt Buchstaben materialisieren werden. (Ich schreibe „blind“ – mit anderen Worten: Ich gucke nicht auf die Tasten, während ich tippe, sondern auf den Bildschirm).

 

Ja, da sitze ich also.

Ich bin randvoll mit Bildern, Geschichten, Erlebnissen und Gefühlen. Ich kann das alles ganz genau sehen, erinnern und fühlen. Meine Finger ruhen auf den Tasten …

 

… und das lässt sich alles nicht mit Worten ausdrücken.

 

Wie beschreibt man das Unbeschreibbare?

Wie sagt man das Unsagbare?

 

Man sollte jetzt meinen, dass das, was ich nicht in Worten ausdrücken kann, andere Wege finden kann – Musik, Tanz, Malerei, Bildhauerei …

 

… weit gefehlt.

 

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Ich kenne nicht ein einziges Kunstwerk, das auch nur in die Nähe dessen kommt, was ich ausdrücken will.

 

Ein Beispiel:

Ich kenne Menschen, die sind zutiefst beeindruckt von Edvard Munchs „Der Schrei“. Das hat für sie wirklich Gehalt und Aussagekraft. Das, was hier ausgedrückt wird, ist für sie von unauslotbarer Tiefe – dieser Schrecken! Diese Not! Diese Angst!

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) schauen auf dieses Bild und zucken nur die Achseln:

Der schreit nicht. Dieser Schrei ist stumm. Da ist jemand mitten im Schrei steckengeblieben. Wir kennen das, das ist in unserem Leben alltäglich und wirklich nicht irgendwas, was besonders oder bedeutsam für uns wäre.

 

Die Schreie und die Schrecken, die in uns sind, sind derart weit weg von dem, was Munch da auf die Leinwand gebannt hat, dass wir achselzuckend an diesem Bild vorübergehen:

Ja, wenn das für dich was Intensives, Schlimmes und Bedeutsames ist, dann nehm‘ ich das zur Kenntnis. Aber das ist nicht das, was wir meinen. Das ist nicht das, was wir ausdrücken wollen – nicht mal näherungsweise.

 

Anderes Beispiel:

Vor einiger Zeit war irgendwas mit Beethoven. Jubiläum oder sowas. Jedenfalls hörten wir auf langen Autofahrten im Radio auf einmal ganz häufig irgendwas von Beethoven. Ein ganzes Jahr ging das so. Und damit meine ich nicht, dass da ein ganzes Jahr lang „die üblichen Verdächtigen“ runtergedudelt wurden wie die fünfte oder die neunte Sinfonie. Nein, das ganze Spektrum seines weinseligen Schaffens wurde intensiv ausgeleuchtet. Beethoven hier, Beethoven da, Beethoven überall. Und ganz viele Musiksachverständige wurden interviewt:

Ja, so viel Empfindung! So viel Tiefe! So viel Ausdruck! So viel Elend, Not und Leid!

Da waren sich diese Experten alle einig.

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich), wir hören uns das an. Wir lassen uns diese Musik erklären und erläutern. Und wir erleben dabei immer dasselbe:

Ja, diesem Beethoven ging’s nicht gut, keine Frage. Aber das, was er ausdrückt, ist derart weit weg von dem, was wir erleben und ausdrücken wollen, dass wir uns buchstäblich nichts zu sagen haben. Wenn das, was Beethoven da ausdrückt, für dich von unauslotbarer Tiefe ist und total gesättigt ist mit Empfindung, Gefühl und Gehalt, dann wird das wohl so sein. Und dagegen ist absolut nichts zu sagen. Aber wir sind woanders unterwegs. Ganz woanders. Dieser Beethoven kommt nicht mal in die Nähe dessen, was wir ausdrücken wollen.

 

Ja, und mit den anderen Künsten ist das nicht anders.

 

Da, wo wir unterwegs sind, da ist keiner unterwegs.

Oder die, die da unterwegs sind, äußern sich nicht dazu.

Oder sie äußern sich, und wir bekommen’s nicht mit.

Oder sie äußern sich, und wir bekommen es mit, aber wir verstehen es nicht.

Das ist alles möglich.

 

Wir erleben es so:

Da, wo wir sind, sind wir vollkommen alleine. Da, wo wir forschungsreisen, treffen wir auf keinen anderen Forschungsreisenden. Das ist nicht weiter schlimm. Aber wir würden gerne mal von einem anderen Forschungsreisenden Hinweise bekommen, wie man die Grenzen des Sagbaren verschieben kann. Denn wir können nicht ausdrücken, was wir sehen und erleben.

 

Und wenn wir dann bei einem weltbekannten (und weithin vergötterten und völlig überschätzten) Schriftsteller lesen:

„Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an !“,

dann denken wir:

Ja, sicher. Ganz bestimmt. Der Menschheit ganzer Jammer. Der fasst dich an. Ausgerechnet dich. Mhm - selbstverständlich. Du hast die Tiefen des menschlichen Leids wirklich durchmessen. Du kennst dich aus mit Seelenfinsternissen aller Art. Gleich morgen werden wir anfangen, dir das zu glauben.

Was du alles erlebt hast in deinem Leben … welche Erkenntnisse du gewonnen hast … welche Tiefen du erreicht hast - geradezu unglaublich. (Alles Ironie).

Und so geht es uns mit sämtlicher Literatur, die wir bislang gefunden haben. (Keine Ironie)

 

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„‘N bisschen viel Psychokram hier in der letzten Zeit“, denken wir manchmal, wenn wir in diesen Blog gucken. Andere mögen in vergleichbarer Situation um Fassung ringen, wir ringen um Worte.

 

Wir haben auf unserer Forschungsreise so viel gesehen und erlebt, wovon wir noch niemals Spuren bei anderen gefunden haben – keine Worte, keine Bilder, keine Musik, keine was auch immer. Nicht mal näherungsweise. Wir würden gerne schildern, was wir erlebt und gesehen haben. Aber das können wir nicht. Wir können es immer nur andeuten.

 

Oft sagen wir:

„Dem, der da war, dem brauchen wir nichts zu erklären. Der weiß, wie’s da ist. Und dem, der nicht da war, dem können wir nichts erklären. Denn all unsere Worte werden für ihn hohl, nichtig und leer bleiben.“

 

Und dennoch versuchen wir, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Worte sind das einzige Medium, das wir haben. Prosa wohlgemerkt. Unsere Gedichte sind so schlecht, dass du mit ihnen Weinflaschen entkorken kannst. – Einfach der Flasche eins von unseren Gedichten vorlesen und – popp! – schon ist der Korken draußen.

 

So sind wir oft tagelang damit beschäftigt, passendere Worte, Metaphern und Analogien zu finden. Und wir bitten alle Leser um Verständnis, wenn das, was wir an Worten finden, weit, weit hinter dem zurückbleibt, was eigentlich zu sagen wäre.

 

Wir haben einfach keine besseren Worte gefunden.

 

Und wie sagt der Dichter:

„Der Rest ist Stille.“

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