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Lauter Irrtümer 12 – Niemand ist zu Gemeinschaft gezwungen

Neulich schrieb mir ein NT einen Kommentar zu meinem Blog, dem ich folgendes entnahm:

 

1

Dieser NT ist sehr sprachbegabt und auch sonst ziemlich gescheit.

 

2

Dieser NT neigt in überdurchschnittlichem Maße zu Manipulation. Sein Kommentar war geradezu gespickt mit Psychofallen – Einladungen zu Psychospielen, die zum Teil sehr geschickt verborgen waren.

 

Ich hatte ziemlichen Respekt vor dieser Leistung – um so schreiben zu können muss man schon ordentlich was drauf haben.

 

 

Abseits von Psychofallen und Manipulationsangeboten standen auch sehr viele kluge Sachen in diesem Kommentar. Auf einen Aspekt, der dort angesprochen wurde, will ich in diesem Text vertiefter eingehen. Ich habe den Eindruck, dass in dieser Sache sehr viele populäre Irrtümer kursieren.

 

Dieser NT schrieb mir unter anderem:

„Niemand ist zu Gemeinschaft gezwungen.“

 

Damit wollte er nach allem, was ich sehen kann, ausdrücken, dass ich mich nicht

a) so oft

b) so intensiv

c) in solch einer aggressiven Weise

über die Kontaktbedürfnisse beschweren solle, die die NTs ungebeten an mich herantragen.

Ich könne doch einfach darauf verzichten – z.B. eine Familie zu haben – und völlig alleine leben. Dass ich Familie und Kontakt zu NTs hätte, das hätte ich mir doch so ausgesucht. Immerhin sei niemand zu Gemeinschaft gezwungen.

 

Tatsächlich?

Ist das so?

Können sich Autisten aussuchen, ob sie in Gemeinschaft leben wollen oder nicht?

Und wenn ja – in welchem Maße können sie das?

 

In meinen Augen wird hier ein sehr populärer und weit verbreiteter Irrtum angesprochen:

AS haben kein Interesse an sozialem Austausch.

AS haben kein Interesse an Miteinander und Gemeinsamkeit.

AS sind am liebsten alleine – sie sind eben Autisten und die wollen keine Menschen um sich rum.

 

Ich erlebe das anders. Ich erlebe das sogar ziemlich anders. Deshalb will ich hier meine Sicht der Dinge darstellen. Wie üblich gilt:

a)  Ich habe zu wenige Interviews mit AS geführt, um sagen zu können, in welchem Maße meine Sicht der Dinge von anderen AS geteilt wird.

b)  Das hier ist nur meine Sicht der Dinge. Jeder darf eine andere haben.

 

Also los:

Meine Sicht der Dinge

 

 

1

Autisten sind genauso soziale Wesen wie alle anderen Menschen auch.

 

Das bedeutet nicht, dass wir dieselben sozialen Bedürfnisse haben wie die NTs. Trotzdem haben wir soziale Bedürfnisse.

 

Ich habe das mal in einem schriftlichen Dialog so verdeutlicht:

NTs sind wie Bäume, die darauf angewiesen sind, dass es täglich ausgiebig regnet.

AS sind wie Bäume, die dürrefest sind. Vielleicht sind sie sogar Bäume, denen es genügt, wenn es morgens und abends stark neblig ist und die auf Regen völlig verzichten können.

 

Dennoch brauchen auch diese Bäume Wasser – so wie alle anderen Bäume auch.

 

Die AS, die ich kenne, haben zum Teil ziemliche Probleme mit Einsamkeit.

Wir wollen Gemeinschaft. Wir brauchen Gemeinschaft.

Einsamkeit bringt uns auf Dauer um.

 

Wir brauchen Gemeinschaft, um überleben zu können. Wir brauchen Gemeinschaft, um nicht an Seele und Körper krank zu werden. Aber das, was uns die NTs an Gemeinschaft anbieten können, ist in den meisten Fällen nicht das, was wir brauchen. Im Gegenteil – es macht uns krank.

Wenn du einen dürrefesten Baum täglich beregnest, dann kannst du sicher sein, dass er in kurzer Zeit krank wird und eingeht.

 

2

Schlechte Gemeinschaft ist in den meisten Fällen besser als gar keine Gemeinschaft.

 

Einsamkeit ist für alle Menschen tödlich. Das gilt auch für Autisten.

Wer das nicht glaubt, den lade ich ein, sich mit der wissenschaftlichen psychologischen Forschung zu diesem Thema zu beschäftigen.

 

Sehr eindrucksvoll gezeigt wird das, wovon ich hier spreche, z.B. in den sogenannten Harlow-Experimenten. Dazu gibt es einiges auf YouTube zu sehen. Aber ich bin sicher, dass die, die das vertiefter interessiert, im Netz auch die vollständige Dokumentation der Arbeiten von Harlow finden werden. 

 

Harlow war aber nicht der einzige Wissenschaftler, der zu diesem Thema forschte. Eine Fülle von Studien und Experimenten hat dieses belegt:

Einsamkeit macht erst krank und dann tot.

Das gilt für alle Menschen, auch für Autisten.

 

Wir Autisten können uns also nicht aussuchen, ob wir Gemeinschaft wollen oder nicht.

Wenn wir überleben wollen, dann sind auch wir auf Gemeinschaft angewiesen.

 

Wenn Autisten nicht die Gemeinschaft bekommen, die sie brauchen, dann sind sie um des schieren Überlebens willen darauf angewiesen, dass sie sich das an Gemeinschaft holen, was sie kriegen können.

 

Gemeinschaft, wie sie uns NTs anbieten können, macht uns oft krank. Deshalb sind AS häufig in einem ständigen Spannungsfeld: (a) Ich will Gemeinschaft – (b) ich kann Gemeinschaft nicht ertragen.

 

Nach allem, was ich sehen kann, erleben es die wenigsten AS, dass sie Gemeinschaft leben können, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Wenn sie sowas erleben können, ist es jedoch großartig für sie.

 

Und dann gibt es kein Gemaule.

Dann gibt es keine Flucht.

Dann gibt es kein: „Ich kann das nicht mehr ertragen und muss mich jetzt erst mal ganz lange erholen.“

 

3

Rauszukriegen, was für eine Form von Gemeinschaft für sie passend ist, kann für Autisten ziemlich schwer sein.

 

Da die meisten von AS von Geburt an niemals erlebt haben, dass ihnen Gemeinschaft angeboten wird, die zu ihnen passt, haben die meisten auch keine Ahnung, was sie denn nun genau für eine Gemeinschaft brauchen. Woher sollen sie das denn wissen, wenn sie es noch nie erlebt haben – nicht mal annäherungsweise?

 

Ich bitte um Nachsicht für die AS:

Das ist so, als würdet ihr euch schon euer ganzes Leben ganz intensiv nach einer bestimmten Farbe sehnen. – Aber diese Farbe habt ihr noch nie irgendwo gesehen, nicht mal annäherungsweise.

Oder noch schlimmer – aber häufig real für AS – ihr wisst nicht mal, dass es eine Farbe ist, nach der ihr euch da die ganze Zeit sehnt. Ihr spürt nur die ganze Zeit, dass euch irgendwas wichtiges im Leben fehlt, habt aber keine Ahnung, was.

Und jetzt kommt irgendsoein Farbapostel zu euch und sagt euch:

„Nun sag doch mal, was das für eine Farbe ist, nach der du dich die ganze Zeit so sehnst! Das kann doch nicht so schwer sein!“

 

Doch.

Das kann so schwer sein.

Das kann sogar ziemlich schwer sein.

Das kann sogar zum schwersten gehören, was es überhaupt gibt.

 

Ich wurde wie jeder AS von Kindesbeinen an intensiv darauf trainiert und gedrillt, meine vitalen Bedürfnisse zu verleugnen und mich mit jeder Faser meines Seins an die NTs anzupassen. Ich habe dadurch sehr viele meiner vitalen Bedürfnisse verlernt bzw. bin darauf geeicht, sie geradezu reflexhaft zu verleugnen oder zu unterdrücken. Zu lernen, das wieder sein zu lassen, dauert viele, viele Jahre.

 

Und davon, dass ich ganz allmählich lerne, die reflexhafte Verleugnung und Unterdrückung meiner vitalen Bedürfnisse wieder aufzugeben, weiß ich ja noch nicht, was ich tatsächlich brauche.

 

Eine Analogie

Wenn ich mich mein ganzes Leben reflexhaft gehauen habe, sobald ein bestimmtes vitales Bedürfnis anfing, sich in mir zu regen, und ich dann lerne, mich in solchen Situationen nicht mehr zu hauen, dann weiß ich davon ja noch nicht, was das eigentlich für ein Bedürfnis ist. Ich habe nur aufgehört, mich reflexhaft zu hauen. Jetzt muss dieses Bedürfnis erst mal Zutrauen zu mir und dieser Situation fassen („Ist diese ewige Hauerei tatsächlich für immer und überall vorbei?“). Auch das kann Jahre dauern.

Und dann muss das Bedürfnis ganz allmählich lernen, sich zu entfalten und auszudrücken.

Das dauert dann auch nochmal ein paar Jahre.

Analogie Ende

 

Seit etwas über zehn Jahren weiß ich, dass ich ein Autist bin.

Seit dieser Zeit bin ich intensiv damit beschäftigt, herauszufinden, wer ich eigentlich bin, was ich eigentlich brauche und welches Leben eigentlich zu mir passt.

Dazu gehört selbstverständlich auch, dass ich seitdem prüfe, welche Art von Gemeinschaft eigentlich zu mir passt.

Vor meiner Diagnose war ich mein ganzes Leben mehr oder weniger damit beschäftigt, Gemeinschaft zu suchen, die möglichst wenig unpassend für mich war.

 

Aber

a)    etwas zu suchen, was wirklich zu dir passt und

b)    etwas zu suchen, was möglichst wenig unpassend für dich ist,

das sind zwei völlig unterschiedliche Herangehensweisen.

 

Ich brauche Gemeinschaft, wenn ich seelisch gesund leben will.

Ich bin genauso zu Gemeinschaft gezwungen wie jeder andere Mensch auch.

Aber diese Gemeinschaft muss zu mir passen.

Da ich aber noch nie erlebt habe, dass Gemeinschaft wirklich zu mir passt und ich dafür auch keine sozialen Vorbilder habe, muss ich mir mühsam und Schritt für Schritt erarbeiten, was das für eine Gemeinschaft sein könnte.

 

4

Passende Gemeinschaft zu finden ist für AS viel schwerer als für NTs

 

Manchmal begegne ich dem populären Irrtum, dass alle Autisten sich gut verstehen. Dass sie sich deshalb gut verstehen, weil sie eben alle autistisch sind.

 

Das ist aber nicht so.

 

An die NTs unter meinen Lesern:

Versteht ihr euch mit jedem NT? Kann automatisch jeder NT mit jedem anderen NT eine Beziehung eingehen oder Gemeinschaft haben, bloß weil beide NT sind?

 

Nach allem, was ich weiß, sind NTs bei der Wahl der Menschen, mit denen sie Gemeinschaft haben oder gar in einer Beziehung leben, sehr wählerisch. Ich habe zu diesem Thema zahlreiche Interviews geführt und habe den Eindruck, dass für einen NT, der nach Gemeinschaft sucht, ein NT unter hundert oder einer unter tausend in Frage kommt.

 

Das ist aber nicht weiter wild.

Da gibt es Vereinigungen, Verbände, Vereine und was weiß ich, wo sich Gleichgesinnte und ähnlich Gepolte treffen und beschnuppern können (Sprachbild). Und wenn es einem nicht passt, dann sucht man eben weiter, bis man was passendes findet.

Das kann zwar Jahre dauern, aber ich erlebe es sehr selten, dass mir ein NT sagt, die zu ihm passenden Menschen hätte er noch nicht gefunden.

 

Dadurch ist bei den NTs noch nicht alles das reine Glück oder die reine Harmonie – keineswegs. Aber sie haben zumindest schon mal Menschen um sich rum, die grundsätzlich zu ihnen passen.

 

 

Asperger-Autisten gibt es deutlich weniger als NTs. Deshalb an dieser Stelle ein paar Zahlen:

 

Schätzungen gehen dahin, dass ungefähr ein Mensch von tausend ein AS ist.

Das bedeutet – statistisch gesehen -, dass ein NT in Deutschland, der unter seinesgleichen nach Gemeinschaft sucht, unter ungefähr 80 Millionen Menschen wählen kann. Und er kann – statistisch gesehen – davon ausgehen, dass so ziemlich jeder Mensch, den er dabei unter die Lupe nimmt, NT ist.

 

Ein AS, der in Deutschland unter AS auf die Suche geht, kann unter 80.000 Menschen wählen. Und er kann – statistisch gesehen – davon ausgehen, dass so ziemlich jeder Mensch, auf den er trifft, kein AS ist.

 

Wenn für einen NT ein NT unter tausend für Gemeinschaft in Frage kommt, dann hat er in Deutschland – statistisch gesehen – 80.000 Mal die Möglichkeit, einen Treffer zu landen.

 

Wenn für einen AS ein AS unter tausend für Gemeinschaft in Frage kommt, dann hat er in Deutschland – statistisch gesehen – 80 Mal die Möglichkeit einen Treffer zu landen – statistisch gesehen fünf pro Bundesland. Herzlichen Glückwunsch. Viel Erfolg bei der Suche.

 

Das erinnert mich stark an die Blauwale, die zwar nicht ausgestorben sind, die aber so wenige sind, dass sie immer wieder Schwierigkeiten haben, sich in den Weiten der Ozeane überhaupt zu finden.

 

Für die AS gibt es keine „Vereinigungen, Verbände, Vereine und was weiß ich, wo sich Gleichgesinnte und ähnlich Gepolte treffen und beschnuppern können (Sprachbild)“, die haben nur das Internet. Das Internet als Begegnungsplattform ist natürlich weit besser als gar nichts. Aber wo sonst sollten die AS sich begegnen? Den NTs bieten sich da weitaus mehr Möglichkeiten.

 

Natürlich sind die Dinge nicht so simpel, wie ich sie in meinen Zahlenbeispielen dargestellt habe, ich weiß das. So gibt es z.B. auch NTs, die durchaus AS-kompatibel sind. Sie sind extrem selten, aber es gibt sie.

 

Ich wollte mit den Zahlenbeispielen (be)greifbar machen, um wieviel schwerer es für AS sein kann, Gemeinschaft zu finden, die zu ihnen passt.

 

5

Schlusswort

 

Und was meine eigene Situation betrifft:

Mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, bin ich seit 35 Jahren zusammen. Vor 35 Jahren hatte ich noch keinen blassen Schimmer von Asperger-Autismus, geschweige denn davon, dass ich AS bin.

Dass ich Autist bin, weiß ich erst seit gut zehn Jahren.

 

Ja, dass ich diese Frau geheiratet habe und mit ihr Kinder in die Welt gesetzt habe, das habe ich mir so ausgesucht. Diese Frau ist mit nicht zugelost worden, und ich habe sie auch nicht in der Wundertüte gefunden. Das war meine Entscheidung.

Aber damals habe ich auf der Basis von Informationen entschieden, von denen ich heute weiß, dass sie mindestens unvollständig, meist jedoch krass falsch waren. Doch wenn du Kinder in die Welt setzt, dann gehst du langfristige Verpflichtungen ein. Diesen Verpflichtungen hast du nachzukommen.

 

 

An alle NTs da draußen, die das in vergleichbarer Situation viel besser gemacht hätten als ich und die überhaupt nicht nachvollziehen können, warum ich mich in diesem Blog so häufig und so heftig über die Kontaktversuche der NTs beklage:

Ich gratuliere euch.

Ihr seid wunderbare Menschen, und eure Fähigkeiten, komplexe Probleme zu lösen und das Leben selbst unter schwierigsten Bedingungen zu meistern, sind wahrhaft beispielgebend.

Ihr seid eine Quelle der Inspiration für uns alle. Euer Licht strahlt uns in der Dunkelheit.

Es sollte viel mehr von euch geben.

Das wäre besser für uns, das wäre besser für die ganze Welt.

 

An alle AS da draußen:

Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr genau das an sozialer Gemeinschaft findet, was ihr braucht und was zu euch passt.

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