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Einmal Tod und zurück

(Enthält weniger Triggerkram als die Überschrift vermuten lässt).

 

Wenn ich mir anschaue, was Psychotherapeuten auf ihre Internetseiten schreiben, stelle ich fast immer fest, dass ich damit nichts anfangen kann.

 

Zum einen geht’s da häufig um irgendwelchen Flauschkram – Harmonie, Gemeinschaft, Frieden, Wolken, Blumen, Blüten, Pflanzen, liebliches Gesäusel, Sprüche aus dem Poesiealbum, ganz viel Liebe … damit kann ich nichts anfangen. Eure Harmonie ist nicht meine Harmonie, eure Gemeinschaft ist nicht meine Gemeinschaft.

Und so weiter.

 

Zum anderen fehlt mir da in der Regel eine Landkarte:

Worum geht‘s in dieser Therapie?

Wie kann ich mir diese Arbeit vorstellen?

Was kommt als erstes, als zweites als drittes?

Worauf muss ich mich bei der Reise nach innen einstellen?

Und so weiter.

 

Das sind für mich alles ganz essentielle Fragen. Dazu finde ich auf den Seiten der Psychotherapeuten entweder

 

a)   nichts – es scheint sie nicht zu interessieren oder sie haben auch keinen Plan und lassen sich einfach mal überraschen von dem, was da kommt

b)   völlig unverständliches Geschwurbel: Die Ich-Introjekte müssen mit dem Ideal-Ich abgeglichen werden, damit das idiosynkratische Größenselbst in realistischer Relation zu den frühkindlichen Bezugsobjekten … und so weiter. „Sprachlicher Stacheldraht“ sagen meine Kleinen zu sowas. Wir lesen sowas nicht. Entweder kannst du dich so ausdrücken, dass Kinder dich verstehen, oder du lässt es.

c)   Irgendwas ganz wolkiges: Zu sich selber kommen. Seine Mitte finden. Mit sich im Einklang leben … Und bla und blubb. Versteh‘ ich nicht, kann ich nichts mit anfangen. Meine Mitte ist in etwa da, wo mein Bauchnabel ist, und den finde ich sehr zuverlässig, wenn ich auf der Suche nach Flusen bin. Da brauche ich keinen Therapeuten für.

 

Deshalb will ich an dieser Stelle mal aufführen, wie nach meiner Erfahrung wirksame Psychotherapie funktioniert. Es ist vergleichsweise einfach.Die einer Heilung zugrundeliegenden psychischen Mechanismen sind recht simpel, und jedes normalbegabte Kind kann es verstehen.

 

Wie sieht also so eine Landkarte zur Heilung aus? Was kannst du dir vorstellen, was da kommt?

 

Dazu betrachten wir uns, was in einem Kind vorgeht, wenn es psychisch geschädigt wird: Es wird mit irgendwas konfrontiert, was für das Kind nicht bewältigbar ist. Das Kind reagiert dabei immer in der gleichen Abfolge von Stufen:

a)    Protest

b)    Verzweiflung

c)    Resignation

 

Wenn es resigniert hat, dann spaltet es diesen Teil von sich ab, und er wird vom Kind nicht mehr als zu ihm gehörig erlebt. Nach einer Weile verschwindet dieser Teil im Dunkeln in uns und wird von uns auch nicht mehr gefühlt. Dennoch ist er da – eine dauernde, nie heilende Wunde. Und entsprechend weh tut das auch. Und entsprechend schlecht geht es uns auch. Aber wir haben keine Ahnung mehr, worum es geht.

 

Wenn wir als erwachsene Menschen heilen wollen, müssen wir die Kinderteile von uns, die wir damals abgespalten haben, wiederfinden und annehmen. Das ist oft einer Adoption ähnlich: Dieser Teil gehört auch noch zu mir.

 

Wie gehe ich dabei vor?

Was sind die Schritte?

 

Normalerweise gehst du in der Therapie in der Reihenfolge vor, die ich oben beschrieben habe. Nehmen wir mal an, du hast in deiner Kindheit den Teil von dir abgespalten, der sich für dumm hält. Dann sieht das so aus:

 

a)  Protest: In dieser Phase wirst du vermutlich im Hader mit dem Therapeuten oder mit dir (oder der restlichen Welt) sein und dich mit Zähnen und Klauen (Sprachbild) dagegen verwahren, dass du dumm bist. Du wirst empört sein, dich aufregen oder was auch immer, nur um sicherzustellen, dass du alles mögliche bist, aber ganz sicher nicht dumm.

b)  Verzweiflung: In dieser Phase fängt dein System an, zusammenzubrechen. Du wirst von lauter Wellen des Dummseins überrollt. Phasen, wo du dich richtig undumm fühlst, werden abgelöst von Phasen, wo du glaubst, der dümmste Mensch der Welt zu sein. Dein ganzes Leben hast du dich dagegen gesträubt, dumm zu sein, aber allmählich geht dir die Kraft aus. Du weißt nicht mehr weiter. Suizidgedanken stehen im Raum. (Oder – wenn du die Gewalt nach außen richtest: Du könntest jeden umbringen, der dich auch nur in die Nähe dieses überwältigenden Gefühls bringt).

c)   Resignation: Du gibst jeden Widerstand auf und akzeptierst – vollumfänglich -, dass du dumm bist. Du machst Kontakt mit dem Kinderteil in dir, der das schon immer geglaubt hat. Zum ersten Mal in deinem Leben gibt es eine stabile Verbindung zwischen euch. Und du beginnst, diesen Teil von dir zu fühlen, zu begreifen und zu akzeptieren. Ihr wachst wieder zusammen. 

 

Das liest sich hier recht einfach, ist aber in der Realität vergleichsweise langwierig. Und unangenehm ist es auch. Aber es ist nicht kompliziert.

Und erst, wenn du als Erwachsener innerlich resignierst und die Botschaft, die du damals bekommen hast: „Du bist dumm!“ so vollumfänglich akzeptierst und annimmst, wie du sie damals als Kind akzeptiert und angenommen hast, bist du in der Lage, dich zu befreien und zu heilen.

 

Oft genug ist es in der Therapie mit einem Durchlauf durch

a)    Protest

b)    Verzweiflung

c)    Resignation

nicht getan, sondern du musst mehrfach da durch. Dann wird jeder Durchlauf schlimmer als der vorherige. Und bei jedem Durchlauf kommen neue unangenehme Aspekte hinzu.

Das Ganze ist dann ein wenig wie ein Siebdruck. Im Siebdruck werden unterschiedliche Schichten des Bildes, das man drucken will, nacheinander auf das Papier gedruckt. Jedesmal kommt eine andere Farbe dran, bis dann schlussendlich das fertige und komplette Bild entstanden ist.

 

Wenn die Lebensverbote, die du als Kind bekommen hast, besonders schwerwiegend sind, dann stehen noch zwei weitere Phasen an, die durchlaufen werden müssen:

 

d)    Das namenlose Entsetzen

e)    Der Tod

 

Nein, du stirbst nicht wirklich, aber du musst in den Tod, der in dir ist, hineingehen, um deinen abgespaltenen Kinderteil wiederzufinden - denn damals hast du ihn in den Tod abgespalten. Grundsätzlich ist es immer dasselbe: Dahin, wo du damals diesen Teil von dir abgespalten hast, musst du als Erwachsener wieder hingehen, um ihn wiederzufinden. Und im schlimmsten Fall – wenn das, was du erlebt hast, für dich als Kind so schrecklich war, dass es nicht anders ging -, hast du diesen Teil von dir getötet. Er durfte nicht mehr sein. Dieser Teil fehlt dir seitdem, aber du hast es komplett vergessen. Also musst du in den Tod in dir, um ihn wiederzufinden.

 

Das namenlose Entsetzen ist wie ein dichter Vorhang vor dem Tod oder wie eine Schranke. Der Tod, den wir in uns tragen, ist uns in aller Regel nicht frei zugänglich, sondern er ist abgeschirmt. Das namenlose Entsetzen ist der Wächter oder die Schranke, die überwunden werden muss, wenn man zum Tod will. Aus Mangel an Worten kann ich das namenlose Entsetzen nicht näher beschreiben. Meine Kleinen haben sich diesen Begriff vor Jahrzehnten ausgedacht, und bislang haben wir keinen besseren gefunden. Grundsätzlich gilt: Stell dir das schrecklichste vor, was du je erlebt hast – das namenlose Entsetzen ist deutlich stärker und schrecklicher. Wenn du in der Therapie in das namenlose Entsetzen hineingehst, wirst du sofort wissen, was ich meine.

 

Hinter dem namenlosen Entsetzen kommt dann der Tod, und wenn du in den hineingehst, dann findest du die Kinderteile von dir wieder, die du damals abgetötet hast.

 

Das alles ist natürlich nicht angenehm, und ich kann dir versichern, dass der Tod dich nicht kalt lässt, auch wenn du schon hunderte Male in ihn hineingegangen bist. Aber so ist das nun mal. Und ich kenne tatsächlich keinen anderen Weg zur Heilung. (Wichtig: Das bedeutet nicht, dass es keine anderen Wege zur Heilung gibt. Aber ich kenne halt nur diesen).

 

Ich kann euch versichern, dass der Gang in den Tod wenig mit Harmonie, Flausch und Gesäusel zu tun hat. Und auch die reine Liebe und das lichtplätschernde Wohlfühlen und das ganz wunderbare der freien Spiritualität findest du hier eher nicht. Und auch sonst – das, was ich finde und erlebe, wenn ich in den Tod in mir gehe, finde ich nicht mal in Ansätzen auf den Seiten der Psychotherapeuten. Entweder waren sie noch nie da, oder sie schreiben nicht davon.

 

Aus diesem Grund habe ich euch das hier mal aufgeschrieben.

Der Weg zur Heilung ist nach meiner Erfahrung immer derselbe:

a)    Protest

b)    Verzweiflung

c)    Resignation

**********************

d)    Namenloses Entsetzen

e)    Tod

 

Wenn du heilen willst, dann musst du da durch. In aller Regel musst du da mehrfach durch.

 

Du solltest auf gar keinen Fall versuchen, diesen Weg ohne kompetente Begleitung zu gehen. Das wäre lebensgefährlich. Es gibt einen Unterschied zwischen „Ich gehe in den Tod in mir“ und dem tatsächlichen Sterben. Aber wenn du nicht kompetent begleitet wirst, dann kannst du das eine vom anderen nicht unterscheiden. Und wenn du tatsächlich manifest stirbst, dann würde ich das nicht als Heilung bezeichnen.

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