Die Sinfonie meines Lebens

Es gibt einen NT in meinem Leben. Er bedeutet mir viel, und er kennt mich gut. Neulich schrieb er mir:

„Durch dein Leben scheint es sich wie ein Thema einer Sinfonie zu ziehen, dass die Anderen was von dir wollen.“

 

Ich schrieb dem NT zurück:

„Korrekt. Andere in Ruhe zu lassen ist eindeutig nicht die Stärke der allermeisten Menschen.“

 

Das ist jetzt schon einige Wochen her, und ich hatte die Möglichkeit, intensiver darüber nachzudenken. Dabei habe ich dieses festgestellt:

 

1

Beinahe alle Menschen, denen ich begegne, wollen irgendwas von mir. Meistens wollen sie sozial und emotional betankt werden. Sie wollen Kontakt und sozialen Austausch. Sie wollen mir nahe sein und mir was erzählen. Sie wollen ihr Leben vor mir ausbreiten oder irgendwelchen Seelenmüll bei mir abladen.

 

Wohlgemerkt:

Sie wollen das.

Ich will das nicht!

Ich will einfach nur da sein und in Ruhe gelassen werden.

 

Dass ich einfach da sein kann, unbeschwert und unbekümmert und einfach mal keine Funktion für diese Menschen habe, kommt im Leben dieser Menschen beinahe nie vor. Es sind zwei Dinge, die bei ihnen beinahe immer zusammengehen. Das scheint unausweichlich zu sein:

a)    Sie nehmen wahr, dass ich da bin.

b)    Sie wollen mich ungefragt für ihre Bedürfnisse nutzen.

 

Und sie sind immer bedürftig.

 

2

Damit gehen sie mir tierisch auf den Geist.

Ich empfinde das als so furchtbar, dass es regelmäßig massives Entsetzen in mir auslöst, wenn ich merke, dass sich irgendwer mir nähert:

Da kommt jemand – was wird der jetzt wieder von mir wollen?!

Wie kann ich dem ausweichen oder entgehen?

 

Ein Beispiel:

Du kommst in einen Raum, in dem ich bereits schweigend sitze und für mich bin. Du begrüßt mich. Muss das sein?! Kannst du das nicht lassen?! Kannst du dich nicht einfach in diesem Raum bewegen, ohne Kontakt mit mir aufzunehmen?

 

Dass du da bist, das sehe ich. Dafür brauchst du keinen Kontakt aufzunehmen.

Und du hast gesehen, dass ich gesehen habe, dass du da bist. Was willst du also noch?!

Ach ja, richtig, ich vergaß – du willst sozial und emotional betankt werden. Ich soll eine Funktion für dich haben. Ich darf nicht einfach so da sein und einfach mal nicht für deine Bedürfnisse da sein. Und gleich wirst du anfangen zu reden - irgendwelche belanglosen Nichtigkeiten, damit es nicht mehr so still ist. – Volle Deckung: Geschwätz von vorn!

 

Du dringst einfach so in meine Welt ein und hältst das für völlig in Ordnung, ich weiß das. Das ist deine Art, in der Welt zu sein, das weiß ich auch.

Du verhältst dich wie ein lärmender Tourist, der sehr neugierig und aufgeschlossen in einen Tempel der Stille eindringt und allen Anwesenden distanzlose und übergriffige Fragen stellt, um sie mal näher kennenzulernen.

 

Kannst du nicht einfach da sein?

Kannst du nicht einfach für dich sein?

Bist du dir denn niemals selbst genug?

Brauchst du immer andere, um dich wohl fühlen zu können?

 

Für die allermeisten Menschen, denen ich begegne, ist die Antwort auf die ersten beiden Fragen beinahe durchgängig „Nein“. Und die beiden letzten Fragen beantworten sie beinahe durchgängig mit „Ja“.

 

Natürlich ist mir bewusst, dass es auch andere Menschen gibt. Aber denen begegne ich in aller Regel nicht. Ich begegne ihnen deshalb nicht, weil sie sehr gut für sich sein können. Die müssen nicht ausschwärmen, um irgendeinen anderen Menschen aufzutreiben, den sie kontaktieren können, damit er sie sozial und emotional betankt.

 

Oft begegne ich solchen Menschen im Hochgebirge:

Wenn man sich auf einem Gebirgspfad weit oberhalb der Baumgrenze begegnet, dann geht man wortlos aneinander vorbei, allenfalls wird freundlich genickt. Und das war’s dann auch schon. Der andere geht seiner Wege, und ich gehe meiner Wege. Besser könnte es nicht sein.

 

Ich bin ausgesprochen gerne im Hochgebirge unterwegs.

 

Es gibt dann noch einen weiteren Bereich, aus dem sich dieses Thema der Sinfonie speist. Und das sind die verwahrlosten Kleinen in den Menschen, die mir begegnen.

 

Wenn Menschen mich unabgesprochen für ihre Bedürfnisse nutzen wollen, dann tun sie das sehr oft aus der Kinderposition: Sie sind das kleine, verwahrloste, bedürftige, rat- und hilflose Kind, und ich soll jetzt für sie der Erwachsene sein. Ich soll für sie denken, ich soll für sie Verantwortung übernehmen, ich soll ihnen sagen, wie’s richtig ist, ich soll für sie all das sein und tun, was ein guter Vater für seine Kinder ist und tut.

 

Aber sie sind nicht meine Kinder.

Und ich bin nicht ihr Vater.

Das ist leicht einzusehen, aber das interessiert die verwahrlosten Kleinen in diesen Menschen nicht. Und die verwahrlosten und schwachen Großen in diesen Menschen sind tatsächlich niemand, an den ein Kind sich wenden kann. Beinahe alle Erwachsenen, denen ich begegne, erlebe ich als verwahrloste Kinder, um die die Hülle eines Erwachsenen gewachsen ist.

 

Wo sollen also die verwahrlosten Kleinen in diesen Menschen hingehen, wenn sie bedürftig sind? An die „Großen“ können sie sich nicht wenden, denn die sind nicht groß. Also wenden sie sich an mich. Aber da sind sie auch an der falschen Adresse. Manchmal fragen mich diese Kleinen verzweifelt, wo sie denn hingehen können. Aber das weiß ich auch nicht. Wenn diese Menschen nicht lernen, selber groß und erwachsen zu sein, dann werden sie immer ein Problem haben. Vielleicht finden sie einen Guru oder einen Führer, der ihren Wunsch nach permanenter Kindheit ausbeuten will und sich deshalb ihrer annimmt. Aber damit habe ich nichts zu schaffen.

 

Und so muss ich in meinem Alltag sehr oft verwahrlosten Kleinen ihre Grenzen aufzeigen, sie zurückweisen und ihnen deutlich machen, dass ich nicht der Vater bin, den sie brauchen und dass ich nicht dazu da bin, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Hinter ihren Anforderungen an mich verbirgt sich sehr viel Leid, Not und Elend – ich weiß das. Aber ich bin nicht der gute Mensch von Sezuan. Ich habe nichts zu geben. Ich bin nur da. Und wenn ich diesen Menschen helfen würde, weiterhin nicht erwachsen zu werden und immer ein Kind zu sein, würde dadurch auch nichts besser.

 

Ihre Kleinen sind verwahrlost. Sie wollen von dem, was ich ihnen sage, nichts wissen. Und so kommen sie weiterhin zu mir.

 

Ja, es zieht sich durch mein Leben wie das Thema einer Sinfonie:

Wenn Menschen in meinem Leben auftauchen, dann wollen sie was von mir.

Wenn Menschen in meinem Leben auftauchen, dann löst das intensiven Stress und Alarmstimmung in mir aus.

 

Sie können nicht für sich sein.

Sie wollen nicht groß und erwachsen sein – das soll ich für sie sein.

Sie müssen mich für ihre Bedürfnisse instrumentalisieren. (Und sie sind immer bedürftig).

Das tun sie mit großer Selbstverständlichkeit und sehr rücksichtslos.

Sie tun es meistens sehr laut und ruppig.

Wenn ich sie zurückweise und mich abgrenze, dann sind sie schwer beleidigt, verstört oder sogar aggressiv.

Sie erleben und beschreiben sich fast immer als soziale Wesen.

Sie meinen es nur gut.

Ich erlebe sie fast immer als extrem unsozial, als grobschlächtige und unsensible Trampel.

Ich erlebe sie fast immer als ziemlich gewalttätig und laut.

Ich erlebe sie fast immer als sehr übergriffig und distanzlos.

Ich erlebe sie fast immer als emotional und kognitiv stark verwahrlost.

Sie können mich nicht in Ruhe lassen.

 

Ich muss mich vor ihnen schützen.

Ich muss mich vor ihnen verbergen.

Da, wo sie sind, da kann ich nicht sein.

Da kann ich nicht leben.

Da kann ich allenfalls überleben.

 

Und ja, das zieht sich tatsächlich wie das Thema einer Sinfonie durch mein gesamtes Leben.

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Kommentare: 2
  • #1

    NeoSilver (Dienstag, 04 Januar 2022 08:20)

    Hallo Stiller,

    mich interessiert wo die Grenze ist ab wann du Dinge so empfindest, wie oben beschrieben.

    Beschreibst du im o.g. Text nur den realen physischen Kontakt oder bezieht sich dies auch auf digitalen Kontakt?
    Antworten hier im Blog sind in erster Linie auch egoistisch, da sie entweder eine Meinung mit dem Autor teilen oder Fragen an den Autor ausdrücken sollen.
    Aber einen Mehrwert für dich hat dies nur, wenn du mit der Veröffentlichung auch den Wunsch nach so etwas hast.

    Daher die Frage: "Stören dich solche Beiträge hier in dem Grade wie oben von dir beschrieben?"

    Sind deine Empfindungen tagesformabhängig? Also, stört es dich an einigen Tagen mehr und an anderen kannst du sie besser ertragen?

    Empfindest du einen Mehrwert für dich in einem fachlichen Austausch auch wenn nicht direkt klar ist, ob es eine Wissenssteigerung für dich bedeutet?

    Die Menschen deiner Familie werden, so vermute ich, auch das ein oder andere mal so agieren, wie du es oben beschrieben hast.
    Unterscheidet sich dein Empfinden dorthingehend oder ist deine Reaktion nur eine andere?

  • #2

    Stiller (Dienstag, 04 Januar 2022 10:09)

    Hallo NeoSilver,

    deine Fragen ehrten dich, ich verneige mich.

    Im einzelnen:

    1
    Das, was ich hier beschreibe, erlebe ich vor allem im physikalischen Kontakt. Im digitalen Kontakt kann ich das, was an mich herangetragen wird, einfach wegklicken und mir dann anschauen, wenn mir danach ist. Im physikalischen Kontakt soll ich zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jeder Stimmung für die Bedürfnisse der Menschen da sein, die da an mich herantreten. Das kann ich nicht einfach wegklicken.

    2
    Beiträge wie der deine stören mich nicht. Dieser Blog lädt zur Reaktion ein, sonst hätte ich diese Funktion abgeschaltet.

    3
    Meine Empfindungen sind tagesformabhängig. Wenn ich weiß, dass ich unter die NTs gehe, schaue ich, dass ich innerlich dafür gerüstet bin. Aber das gelingt mir nicht immer.

    4
    Ein fachlicher Austausch ist in meiner Welt genau das: Ein fachlicher Austausch. Mit anderen Worten - wir tauschen Informationen, Beobachtungen, Hypothesen, Fragen etc. aus. Aber das dient nicht primär der sozialen und emotionalen Betankung, sondern der Erweiterung des Horizonts, der Vertiefung des Wissens, der Vernetzung von Wissensinhalten etc.
    Sowas empfinde ich beinahe immer als Mehrwert.

    5
    Die Menschen in meiner Familie agieren häufig so, wie ich das hier beschrieben habe, ja. Wenn ich nicht ihr Vater bin, erlebe ich ihr Verhalten dann als genauso ausbeutend und verwahrlost wie das aller anderen.