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Gerade du als Psychologe

Ich frage mich manchmal, ob es Menschen in anderen Berufsfeldern auch so geht: Dass andere Menschen ohne jede Sachkenntnis ihnen in ihren Beruf reinquatschen.

 

Bei mir hört sich das meistens so an:

 

Gerade du als Psychologe solltest doch wissen …

Und sowas sagt ein Psychologe!

Und sowas will Psychologe sein!

Als Psychologe weißt du ja auch, dass …

 

Also in Zeitlupe:

 

1

Ich will nicht Psychologe sein, ich bin einer. Ich habe mein Diplom mit der Note sehr gut abgeschlossen. Darüber hinaus habe ich zahlreiche Weiterbildungen und Zusatzausbildungen gemacht. Und mehr als dreißig Jahre Berufserfahrung habe ich mittlerweile auch.

 

2

Diese Menschen, von denen ich hier schreibe, die haben von meiner Profession keine Ahnung. Vielleicht hat sich mal ein Fachbuch auf ihren Schreibtisch verirrt. Oder sie haben in einer Sport- oder einer Frauenzeitschrift geblättert und dort weise Worte gefunden, die ihr Herz bewegten. Aber das war’s dann auch schon. Sie haben jede Menge Lebenserfahrung („Hab‘ schon alles gesehen“) oder ganz viel Menschenkenntnis („Ich kenne die Menschen“). Sehr gerne sind sie politisch korrekt drauf. Dann tragen sie ihr blütenweißes Gewissen, ihre edle Gesinnung und ihr weit überdurchschnittliches Bewusstsein wie eine Monstranz vor sich her. Sie sind mit missionarischem Eifer unterwegs. Schon allein durch ihre Anwesenheit wird diese Welt zu einem besseren Ort. Durch ihre Wortbeiträge natürlich noch viel mehr: Schau her, was für ein edler Mensch ich bin! Deine einzige Chance, ein guter Mensch zu werden, ist, mir so ähnlich wie möglich zu werden. Und deshalb werde ich dir jetzt ganz genau sagen, was du zu tun, zu denken und zu fühlen hast.

 

Und dann weisen sie mir meine zahlreichen Fehler nach, die ich als Psychologe so mache. Einfach grauenhaft, wie ich selbst die einfachsten Dinge nicht weiß und mich in grundlegendsten Dingen irre: Völlig unverantwortlich, wie ich das so mache.  

 

Geht das auch Ärzten, Ingenieuren, Biologen und Geologen so?

Dass irgendwer, befreit von jeder Sachkenntnis dafür aber

a)    sehr fest im Charakter und

b)    sehr meinungsstark und

c)    ausgestattet mit einer „felsenfesten Überzeugung“,

d)    politisch korrekt oder „woke“

genau weiß, wie sie ihren Job zu machen haben und nicht zögert, sie deshalb wirklich robust von der Seite anzumachen oder in längere Diskussionen zu verwickeln?

 

Das würde sich dann so anhören:

Als Ingenieur haben Sie ja wirklich Ihren Beruf verfehlt.

Also von einem Geologen hätte ich jetzt doch was anderes erwartet.

Gerade Sie als Biologe sollten doch wissen, dass …

 

Ich weiß es nicht. Ich habe sehr selten die Möglichkeit, andere nach ihren Erfahrungen in diesem Bereich zu befragen.

 

Ein Beispiel aus meiner Arbeit:

Anfang des Jahres habe ich beruflich in einem größeren, interdisziplinären Team mehrere Wochen intensiv daran gearbeitet, eine Direktive umzusetzen, die der Konzernleitung sehr wichtig war. Es ging um Verhaltensänderung in der Corona-Krise. Ich wurde ins Team geholt, um Hinweise zu geben, wie man die emotionalen Belastungen, die sich daraus ergeben, meistern kann, ohne daran zu zerbrechen oder psychisch krank zu werden. Nach allem, was bekannt ist, bin ich der einzige im Konzern, der das kann.

 

Wir machten zahlreiche digitale Besprechungen. Daran schlossen sich Workshops (im virtuellen Raum) an, an denen Menschen ganz unterschiedlicher Fachrichtungen teilnahmen. Dann wurde ich gebeten, die psychologische Seite unserer Ergebnisse zusammenzufassen. Diese Zusammenfassung sollte dann unternehmensweit veröffentlicht werden.

 

Da wir ein internationaler Großkonzern sind, darf hier niemand einfach veröffentlichen, was er will. Kein Wort darf nach außen, das nicht vorher von den Juristen geprüft und freigegeben worden ist. Das halte ich für vernünftig. Ich schickte meinen Text also an die Leiterin des Projekts, die damit zu den Juristen ging.

 

Die Juristen prüften das und überschritten ihre Kompetenzen.

In ihren Kommentaren zu meinem Text fand ich einige Stellen wie diese:

„Weiß nicht, ob das ein politisch korrekter Vergleich ist …“

„Das bezweifle ich …“

„Provokant formuliert“

„Ich verstehe ja, dass man Verständnis suggerieren will. Auf mich wirkt das sehr negativ.“

„Der andere hat eh schon Sorgen, und nun bestärkt ihn der Psychologe auch noch darin.“

 

Nochmal und in Zeitlupe:

Diese Menschen sind Juristen, und sie hatten den Auftrag zu prüfen, ob das, was ich geschrieben hatte, juristisch in Ordnung sei. Das taten sie auch. Aber darüber hinaus fühlten sie sich bemüßigt, mir vorzuschreiben, wie ich als Psychologe zu arbeiten und zu formulieren hatte. Aus dem, was sie schrieben, wurde deutlich, dass mein kompletter Ansatz in dieser Sache falsch war. Ich hatte als Psychologe nicht über reale Risiken aufzuklären, die sich aus der Corona-Krise für die Psyche ergeben, sondern die Leute zu beschwichtigen, dass schon alles gut werden würde.

 

Ob sie das umgekehrt auch so erleben?

Dass Nichtjuristen ihnen bis ins Detail vorschreiben wollen, wie sie in ihren juristischen Schreiben zu formulieren haben, weil sie als Juristen davon ja keine Ahnung haben?

 

Ich schrieb der Projektleiterin:

„Nach allem, was ich sehen kann, gehen die Kollegen bei dem, was sie hier tun, mehrfach über ihre Grenzen. (…) Ich schaue, dass ich Formulierungen finde, die sachlich richtig sind aber weniger deutlich.

Sollte ich aber dazu benutzt werden, die Wahrnehmung der Realität zu verfälschen und die Dinge schönzureden, müsst ihr euch jemand anderen dafür suchen. Ich stehe dafür nicht zur Verfügung.“

 

Geht das Architekten, Apothekern, Mathematikern und Chemikern auch so?

Dass sie immer wieder sehr deutlich werden müssen - bis hin zur vollkommen ernst gemeinten Drohung, die Zusammenarbeit sofort und dauerhaft zu beenden -, bevor Laien aufhören, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihren Job zu machen haben?

 

An einer großen Universität im Norden Deutschlands brachten Studenten, die ebenso politisch korrekt wie politisch bewusst waren (dafür aber befreit von so ziemlich jeder Sachkenntnis), vor ein paar Jahren sogar ein Flugblatt gegen mich in Umlauf. Sie waren der Überzeugung, dass es meine Aufgabe als Psychologe sei, angehenden Fach- und Führungskräften beizubringen, vorurteilsfrei mit Menschen umzugehen. Und ich würde genau das Gegenteil tun. Ich würden den Menschen ihre Vorurteile bestätigen und sie ermutigen, ihnen zu folgen.

 

Wie gesagt:

… befreit von so ziemlich jeder Sachkenntnis.

 

Wie kam das mit dem Flugblatt zustande?

 

In Vor-Corona-Zeiten habe ich jedes Jahr mehrwöchige Vortragsreisen an Universitäten gemacht. Meistens sprach ich vor vollen Sälen. Aber ich saß auch mit vier oder sechs Leuten in irgendwelchen Seminarräumen zusammen. Das eine war mir genauso recht wie das andere. Meine Aufgabe war, Laien in verständlichen Worten deutlich zu machen, wie man psychische Hürden im Beruf meistern kann. Sowas mach‘ ich gerne. Ich halte mich in diesem Bereich für kompetent.

 

Und je voller der Hörsaal war, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach dem Vortrag über eine Stunde damit zubringen würde, politisch bewussten und korrekten Studenten zuzuhören, die zu mir ans Rednerpult kamen, um mir meine wirklich zahlreichen Fehler nachzuweisen.

 

Ich war über 50 Jahre alt, sie waren so um die 20. Es war also so, als würden sie in einer Schule einen Vortrag über ihre Profession halten (mit dem Hintergrund jahrelangen Studiums und jahrzehntelanger intensiver Weiterbildung und Berufserfahrung) und nach ihrem Vortrag würden sie Schüler umringen, die weniger als halb so alt waren wie sie (ohne jedes Studium, ohne jede Berufserfahrung). Und diese Schüler würden wirklich ernste Worte an sie richten, um sie auf ihre zahlreichen Fehler hinzuweisen. Wie würden diese Studenten auf so eine Situation reagieren?

 

Was soll ich solchen Menschen sagen?

Ich sage ihnen nichts. Denn ich würde eh nicht zu ihnen durchdringen. Ich höre ihnen zu. Ich rechtfertige mich nicht. Ich argumentiere nicht mit ihnen. Ich gehe nicht her und weise ihnen im Gegenzug ihre zahlreichen Fehler nach. Jemandem, der schon alles weiß, dem kann ich nichts erklären. Da spar‘ ich mir lieber die Worte. Wenn du dein Hirn und dein Herz schon vor Jahren versiegelt hast, so dass die Wirklichkeit nur noch zu dir durchdringen kann, wenn sie deinem Weltbild entspricht, dann ist das deine Sache. Darüber habe ich nicht zu befinden. Aber ganz sicher gehe ich dann nicht in das Gespräch mit dir (außer du bezahlst mich anständig dafür).  

 

Und eben solche Studenten hatten ein Flugblatt angefertigt, in dem vor mir gewarnt wurde. Ich war ein böser Mensch. In früheren Zeiten hat man solche wie mich der Heiligen Inquisition überantwortet. Heute ist man politisch korrekt („woke“) und greift zu anderen Methoden. Die (a) Ausgangslage und die (b) Ziele sind aber dieselben wie damals:

 

a) Ausgangslage

Es gibt eine Sicht der Dinge, die wissenschaftlich begründbar und unwiderlegbar ist.

Diese Sicht der Dinge passt nicht zur eigenen Religion.

Merkmal dieser Religion ist unter anderem, dass sie Aussagen macht, die allenfalls pseudowissenschaftlich begründbar sind und keinesfalls einer kritisch-rationalen Prüfung standhalten.

 

b) Zielsetzung

Diese Realität soll wieder verschwinden. Das geht aber nicht. Wissenschaftlich fundierte Realität hat es so an sich, nicht wieder zu verschwinden. Die bleibt. Die bleibt dauerhaft. Also versucht man, ihre Protagonisten irgendwie mundtot zu machen. (Verbrennen – Scheiterhaufen und so - wäre ja ganz nett und meinem Häretikertum sicher auch angemessen (jedenfalls schließe ich das aus dem heiligen Zorn, mit dem ich regelmäßig überhäuft werde), aber aus irgendwelchen Gründen ist das in neuerer Zeit aus der Mode gekommen).

 

 

Die Hochschulleitung ließ bei mir anfragen, wie ich denn auf dieses Flugblatt reagieren wolle. Ich antwortete:

„Ja, gar nicht. Mit Flugblättern diskutiere ich nicht.“

 

Ich spüre, wie ich mit den Jahren immer weniger gewillt bin, meine kostbare Lebenszeit damit zu vergeuden, Menschen zuzuhören, die keine Ahnung von meinem Beruf haben, die mir aber ganz genau sagen können, wie ich ihn zu machen habe.

 

Ich hab‘ mal gehört, dass es Fußballtrainern so geht wie mir. Dass jeder, der in der Lage ist, daheim auf der Couch ein Fußballspiel im Fernsehen anzuschauen, ein besserer Trainer ist als sie. Diese Menschen haben keine Trainerlizenz erworben, und sie haben auch nicht jahre- und jahrzehntelang Erfahrung auf dem Platz gesammelt. Aber sie sind die besseren Trainer. Ganz eindeutig. Von der Mannschaftsaufstellung über die taktische Einstellung der Mannschaft bis hin zur Optimierung der Laufwege: Sie könnten diesen Job viel, viel besser machen. Und das geben sie auch aller Welt kund und zu wissen – ungefragt und vor allem wortreich.

 

Willkommen in meiner Welt.

Aber ich sage mir, dass Fußballtrainer – speziell in der ersten Bundesliga – so viel Geld bekommen … da ist das einfach mit abgegolten. Da müssen die durch.

 

Ich bekomme aber nur mein kleines Psychologengehalt. Und damit ist nicht abgegolten, dass ich mir jedes Jahr dutzende Stunden Zeit nehme, um Laien zuzuhören, die die besseren Psychologen sind.

 

Echt nicht, Leute.

Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.

Mein Leben ist zu kurz und meine Lebenszeit ist zu kostbar, um damit auch nur eine Minute zu verschwenden.

 

Wenn ihr euer Herz und euer Hirn versiegelt habt, so dass ihr schon alles kennt und wisst, was ihr kennen und wissen müsst, dann ist das eure Art, in der Welt zu sein, nicht meine.

 

Argumente und Fakten bringt ihr bei dem, was ihr mir sagt und schreibt, niemals. Nicht ein einziges Mal habe ich das erlebt. Alles, was ihr mir zu erzählen habt, ist, dass das, was ich sage und schreibe (und das basiert meistens auf Fakten), euch nicht gefällt und nicht zu eurem Menschen- und Weltbild passt. Ach ja – politisch korrekt ist das, was ich sage und schreibe auch oft nicht. Was für ein Jammer! (Ironie). Daraus den logischen Schluss zu ziehen, dass euer Menschen- und Weltbild (so politisch korrekt es auch sein mag) nicht zur Realität passen könnte, scheint euch nicht in den Sinn zukommen.

 

Oft vermute ich, dass es euch einfach zu mühsam ist, Fakten zu sammeln, sie auszuwerten und dann ergebnisoffen abwägend zu gewichten, welche Schlüsse aus diesen Fakten gezogen werden können. Sowas ist ein langwieriger Prozess, und er kann recht mühsam sein. Eine felsenfeste Überzeugung zu haben und sie wortreich nach außen zu vertreten – völlig losgelöst von der Faktenlage – ist dahingegen sehr viel einfacher, schneller und leichter.

 

Und angesichts dessen:

Was hätte ich mir mit euch zu sagen?

Warum soll ich mir euer politisch korrektes Menschen- und Weltbild schildern lassen, das nicht zu den Fakten passt?

Warum sollte ich mich an dieses Menschen- und Weltbild anpassen?

 

Also gilt bis auf weiteres folgendes:

Ihr zahlt mich anständig dafür, dass ich euch zuhöre, dann will ich das gerne tun.

Oder ihr tut das nicht, dann geht ihr eurer Wege.

Oder präziser:

Dann geht ihr eurer Wege, ohne mich vorher vollgetextet zu haben. Und euer politisch korrektes Welt- und Menschenbild, das so wenig realitätskompatibel ist, das nehmt ihr dabei gleich mit.

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Kommentare: 1
  • #1

    NT-Aushalter (Dienstag, 07 Dezember 2021 09:36)

    Dass Fachfremde dem Experten in den Job reinreden - oh ja, das gibt es auch anderswo!
    Da empfehle ich mal einen Besuch bei einer Wohneigentumsgemeinschaft (WEG-) Versammlung! Es wird reingeredet, coreferiert und gerechthabert, vom Allerfeinsten.
    Vorschriften müssen angeblich nicht umgesetzt werden. Wenn überhaupt irgendwas dort Vorschrift ist, dann, dass Dezibel und Airtime die Marschrichtung bestimmen. Ansonsten: Instandsetzungsarbeiten sind grundsätzlich unnötig, lieber fällt die Heizung an Weihnachten aus, als dass was getauscht wird. Keller sind auch niemals feucht...
    "Jeder quatscht rein" - Universalproblem der Arbeitswelt!