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Die Sprüche der Ahnungslosen 04 – Ich würde dich gerne kennenlernen

*** Ich bitte Menschen mit verwundbarer Seele um Vorsicht. Dieser Text enthält wieder jede Menge Triggerkram. ***

 

 

Das ist noch so eine Sache, die ich mir oft anhöre und nur denke: „Hä?!“

 

„Ich würde dich gerne kennenlernen.“

 

Ja, hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?

 

 

Da ich annehme, dass den meisten meiner Leser nicht direkt einsichtig ist, wovon ich hier spreche, will ich das etwas ausdetaillieren.

 

„Ich würde dich gerne mal kennenlernen.“ - Menschen sagen sowas zueinander, und sie meinen es in aller Regel auch völlig ernst:

Ich weiß, dass sie es in aller Regel völlig ernst meinen, und ich nehme es ihnen auch nicht krumm. Aber ich kann nicht sehen, dass sie wissen, wovon sie hier reden.

 

Um zu erklären, worum es mir geht, nehme ich mal mich als Beispiel. Aber ich komme im letzten Teil des Textes auch noch auf „normale“ Menschen zu sprechen.

 

Also – wie ist das mit mir?

 

Früher war das häufiger, heute ist es etwas seltener geworden, aber es kommt immer noch vor:

Menschen, die mich aus irgendwelchen Gründen interessant finden, kommen auf mich zu und sagen:

„Ich würde dich gerne mal kennenlernen.“

 

Was genau willst du da kennenlernen?

Meinen Namen? Meine Adresse? Mein Geburtsdatum?

Vermutlich nicht.

Denn sonst würdest du ja wahrscheinlich nicht sagen:

„Ich würde dich gerne kennenlernen“, sondern du würdest sagen:

„Kann ich mal deinen Personalausweis sehen?“

Denn da steht das ja alles drin.

 

Du willst also mich kennenlernen.

Aha.

Und was genau willst du kennenlernen?

Die diversen Masken, die zu nutzen ich in all den Jahren gelernt habe und die ich so weit perfektioniert habe, dass ich im Alltag kaum noch auffalle?

Vermutlich nicht.

Denn da lernst du ja nicht mich kennen, sondern meine diversen sozialen Rollen und Verkleidungen.

 

Was also dann?

Du willst sehen, was hinter diesen Masken ist? Du willst wissen, wer ich bin, wenn ich keine Maske trage?

Ich kann dir versichern:

Nein, das willst du nicht.

 

Warum willst du das nicht?

 

Du willst deshalb nicht kennenlernen, was hinter meinen Masken ist, weil dir das nicht möglich ist, ohne wirklich schweren Schaden zu nehmen. Wenn du nicht eine fundierte Ausbildung im Bereich der Psychotherapie und jahrzehntelange Erfahrung hast, dann rate ich dir dringend:

Lass‘ die Finger davon.

Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, was dich da erwartet.

 

Wenn ich dir auch nur einen Bruchteil dessen, was ich bin, ungefiltert zeige, dann kannst du dich einweisen lassen.

So jemanden wie mich lernt man nicht mal so nebenbei oder in alltäglichen Situationen kennen. Du übernachtest ja auch nicht freiwillig in einem Käfig voller Skorpione und Giftschlangen.

 

Wobei – das mit den Skorpionen und den Giftschlangen ist vermutlich die weitaus harmlosere Variante für dich.

 

Was also willst du genau von mir kennenlernen?

  • Wie oft ich als Kleinkind und Kind von wem auf welche Weise vergewaltigt wurde? Was sie genau taten, wie’s mir dabei ging und was danach geschah?
  • Willst du wissen, wie das ist, für Missbrauch und Folter vermietet zu werden? Willst du dieses durchdringende Gefühl kennenlernen, als Sklave verkauft zu werden und nicht zu wissen, ob du dein Zuhause je wiedersehen wirst?
  • Willst du wissen, wie das ist, vor Angst verrückt zu werden? Wenn dir danach ist, dann kann ich dich im Detail da heranführen, wie das ist, wenn im kindlichen Gehirn die ersten Sicherungen rausfliegen und wie dein Gehirn allmählich Matsche wird.
  • Oder interessiert dich eher, wie das ist, wenn die Dunkelheit lebendig wird, wenn du in einem dunklen, völlig lichtlosen Keller eingekerkert bist?
  • Interessieren dich Nachtoderfahrungen und Foltererlebnisse?
  • Oder steht dir eher der Sinn danach, wie du Mordversuche schon im Ansatz erkennst und irgendwie mit ihnen fertig wirst? – Ich geb‘ dir aber an dieser Stelle schon mal einen Hinweis: Ewiges Misstrauen und nie endende Wachsamkeit in einer Ausprägung, die dir völlig unbekannt sein dürfte.
  • Dann hätten wir da noch die intrauterinen Erfahrungen eines Fötus`, der erlebt, wie er im Mutterbauch ermordet werden soll. Das prägt für`s Leben, das kann ich dir schriftlich geben. Und wenn du mich kennenlernen willst, dann kommst du da nicht drumrum, dich damit zu konfrontieren.
  • Oder willst du wissen, wie das ist, wenn du langsam erstickst und dabei das Bewusstsein verlierst? – Wenn du das in deiner frühen Zeit oft genug erlebst, dann prägt auch das dich für’s Leben. Wenn du mich kennenlernen willst – das ist ein wichtiger Teil von mir.
  • Oder ist es interessanter für dich, wie das ist, wenn dir solche Schmerzen zugefügt werden, dass du aus deinem Körper heraustreten musst (nicht ein bisschen, sondern komplett, versteht sich), weil du in deinem Körper nicht mehr sein kannst? Interessiert es dich, wie das ist, wenn dir das so oft passiert, dass du ein Wanderer zwischen den Welten wirst?
  • Dann gibt’s da noch die tödliche Eiseskälte, die entsteht, wenn du als kleines Kind begreifst, dass da lauter Leute um dich herum sind, aber kein einziger Mensch, der irgendwie erreichbar oder menschlich wäre. Keine menschliche Nähe, keine Beziehung – nichts! Gar nichts! Du existierst beziehungsmäßig komplett im luftleeren Raum. Willst du wissen, wie das ist? Du brauchst mich nur kennenzulernen.
  • Und so weiter.

 

Also – du willst mich kennenlernen? Du willst wissen, was hinter meinen üblichen Masken steckt?

Was genau willst du von mir kennenlernen?

 

Wenn du mich kennenlernen willst – hinter all den Masken … das geht, keine Frage. Aber ich bezweifle doch stark, dass du das willst bzw. dass du dafür passend ausgerüstet bist.

 

Natürlich gibt es hinter meinen Masken nicht nur Not, Schmerz, Leid und Elend. Ganz im Gegenteil – hinter meinen Masken findet sich auch jede Menge, wofür ich von manchen Menschen glühend beneidet werde. Aber das eine gibt es nicht ohne das andere. Wenn du meine Kraft, meine Lebensfreude, meinen Frieden, meine Ruhe, meine Gelassenheit, meine Ausgeglichenheit oder was auch immer kennenlernen willst, dann geht das nicht ohne ausgedehnte Streifzüge durch Not, Schmerz, Leid und Elend. Und das hat es echt in sich. Dass du dich dem aussetzen willst und es ganz nah an dich heranlassen willst, das halte ich für extrem unwahrscheinlich.

Und nochmal, weil das so wichtig ist:

Das eine gibt es nicht ohne das andere.  

 

Wenn ich als Kind, als Jugendlicher und als junger Erwachsener von mir erzählt habe, dann hat mir das nie jemand geglaubt. Nicht mal im Ansatz. Die Menschen, denen ich mich in dieser Zeit anvertraute, haben selbst das, was ich ihnen nur andeutete, so wenig vertragen können, dass sie mich der Lüge, der Fantasterei oder der Übertreibung bezichtigen mussten, um sich das irgendwie vom Hals zu halten. (Oder sie haben das ganz bzw. teilweise ausgeblendet, ignoriert und gar nicht wahrgenommen).

 

Ich musste 22 Jahre alt werden, bis ich auf einen Menschen stieß, der mir glaubte und der sich traute, das wahrzunehmen. Er wurde mein erster Psychotherapeut.

Er glaubte mir nicht vollumfänglich – auch er musste sich vieles, von dem, was in mir war, mit allem Energieeinsatz vom Hals halten. Aber grundsätzlich glaubte er mir. Grundsätzlich war er in der Lage, das, was in mir war, wahrzunehmen. Und das war sehr wertvoll für mich.

 

Er schilderte mir mal, was es für ihn bedeutete, jemanden kennenzulernen. Er würde dann immer wissen wollen

 

  • Was der andere gerne isst
  • Was seine Lieblingsfarbe ist
  • Wie er gerne seine Freizeit verbringt
  • Wonach er sich sehnt
  • Was seine Träume sind
  • Und so weiter.

Ja, das kann man so machen, keine Frage.

Und das ist sicher ein reiferes und intimeres Kennenlernen als das übliche „Und du? Was machst du denn so beruflich?“

Aber ganz ehrlich?

Wenn du mich kennenlernen willst, und du kommst mir auf diese Tour, dann ist meine innere Reaktion:

„Geh mir aus den Augen.“

Meine kostbare Lebenszeit ist mir viel zu schade, um mich mit sowas zu beschäftigen. Nicht mal eine Sekunde will ich dafür aufbringen.

 

Wenn ich jemanden kennenlernen will, dann will ich ihn tatsächlich kennenlernen. Das kommt nur sehr selten vor, aber das kommt vor.

Und da ich die Fähigkeit habe, in Menschen hineinzuschauen, weiß ich vieles von ihnen, was andere über sie nicht wissen bzw. sie selber von sich nicht wissen.

 

Und dennoch:

Wenn ich in andere Menschen hineinsehe, dann sehe auch ich nur Bruchteile. Den Rest muss ich erforschen, ertasten, erwandern. Und ich kann dir versichern, dass in buchstäblich jedem Menschen Bereiche sind – große Bereiche – da willst du lieber nicht so genau hingucken. Aber die sind da. Die sind wichtig. Die machen diesen Menschen aus. Und wenn ich einen Menschen kennenlernen will, dann muss ich mich auch mit diesen Seiten konfrontieren. Dann muss ich mich gerade mit diesen Seiten konfrontieren.

 

Wenn ich jemanden kennenlernen will, dann will ich ihn wirklich kennenlernen.

Und ich weiß, dass das ein sehr langer und sehr gefahrvoller Weg ist.

Das ist es immer und in jedem Fall. Auch bei den sogenannten „normalen“ Menschen.

Bei manchen dieser „normalen“ Menschen scheint mir dieses Risiko und diese Mühe lohnend.

Und dann mache ich mich auf den Weg.

 

Wenn andere Menschen einander erzählen:

„Ich würde dich gerne mal kennenlernen“ und sich das glauben, dann schaue ich mir sehr genau an, was sie da sagen, und was sie da tun. Sie vertrauen einander an, keine Frage. Aber in meiner Welt geht es beim Kennenlernen nicht darum, die Teile kennenzulernen, die der andere von sich bereits kennt. Es geht in meiner Welt beim Kennenlernen darum, die Bereiche des anderen wahrzunehmen, die er nicht kennt.

 

Das dauert lange.

Das ist gefahrvoll.

Das ist schmerzhaft, sehr schmerzhaft.

Das erfordert sehr viel Geduld, Ausdauer, Mut und Frustrationstoleranz.

Das ist immer wieder enorm verstörend – für beide Seiten.

 

Aber das, was in meiner Welt „echte Begegnung“ ist, ist ohne dies nicht möglich.

Sich einander die auf Hochglanz polierten Oberflächen und die perfekt sitzenden Masken zu zeigen, ist in meiner Welt nicht „kennenlernen“.

Sich einander nur das zu zeigen, was man bereits von sich kennt bzw. für sozial akzeptabel hält, ist in meiner Welt nicht „kennenlernen.“

Das ist in meiner Welt Schaulaufen auf hohem Niveau. Damit will ich meine Lebenszeit nicht vergeuden müssen.

 

In meiner Welt ist einander Kennenlernen eine lange Reise. Sie dauert so lange, wie die Beziehung bzw. das Leben dauert.

 

Und dass du mich kennenlernen willst, das halte ich für derart unwahrscheinlich, dass es vollkommen ausgeschlossen sein dürfte.

 

Wenn du also unbedingt jemanden kennenlernen willst, dann schlage ich vor, dass du dich erst mal selber kennenlernst. Ich kann dir versichern, dass es da sehr vieles gibt, was du noch nicht kennst, und was sehr fruchtbringend für dich ist.

 

Falls du das nicht willst und stattdessen lieber jemand anderen kennenlernen willst, dann empfehle ich dir, mit diesem Bedürfnis nicht zu mir zu kommen, sondern dich an einen anderen Menschen zu wenden.

 

Das ist sehr wahrscheinlich besser für uns beide.

 

 

 

 

P.S.

Ich danke meiner Testleserin. Ich verneige mich vor ihrer Lebensleistung.

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Kommentare: 2
  • #1

    PolizistundAutist (Sonntag, 14 November 2021 20:31)

    Kann nicht anders: Nochmal danke für Deine tiefbewegende Texte. Und das alles für "lau". Würde gerne irgendwann ein Buch von Dir kaufen.
    Beim Dank an Deine Testleserin musste ich an deinen Text vom 18.05 2019 " Die Frau, die sieht " denken, welcher einen sehr langen Nachhall in mir ausgelöst hat.
    Danke

  • #2

    Pascale (Dienstag, 16 November 2021 15:39)

    …….Ich danke meiner Testleserin. Ich verneige mich vor ihrer Lebensleistung.

    Und wir verneigen uns vor der deinen.