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Ein langer Weg 11 - Schwielen

*** Disclaimer: In diesem Text taucht mehrfach auf, dass ich etwas nicht vergessen werde. Das gilt natürlich nur, falls ich nicht dement werde oder sonstwie einen Hirnschaden davontrage. ***

 

 

Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, als es mir zum ersten Mal auffiel:

Kein Kind in meiner Klasse hatte Schwielen an den Händen. Ich war der einzige. Meine Handinnenflächen waren von oben bis unten voll mit Schwielen, und für mich war das völlig normal.

 

Ich nahm mir viel Zeit, die Hände meiner Mitschüler zu beobachten: Tatsächlich – alle schwielenfrei.

 

Wie konnte das nur sein?

 

Ich war damals ein absoluter Außenseiter in meiner Klasse. Ich war gekleidet wie eine Vogelscheuche, mein Sozialverhalten war sehr anders als das der anderen, und ich gehörte nirgendwo dazu. Worüber die anderen auch immer in den Pausen sprachen: Fernsehen, Fußballvereine, angesagte Musik etc. – ich konnte nicht mitreden, denn ich hatte buchstäblich keine Ahnung. Fernseher hatten wir nicht daheim – bzw. später hatten wir dann einen, aber ich durfte praktisch nichts sehen -, Urlaub machten wir aus Kostengründen immer mit dem Fahrrad (und übernachteten irgendwo wild zeltend in Feld, Wald und Wiese) und Musik … reden wir besser nicht davon. Musikwiedergabegeräte hatten wir nicht daheim. Wir waren arm.

 

Meistens wollte ich auch lieber für mich sein, und so kam ich gar nicht auf die Idee, die anderen zu fragen, warum sie denn keine Schwielen an den Händen hatten. Aber irgendwann kam ich darauf:

Die anderen Kinder arbeiteten nicht körperlich.

 

Bei mir war das so:

Mein leiblicher Vater hatte seine gesamte Familie jahrelang in bitterer Armut leben lassen, um sich ein Grundstück kaufen zu können und da ein Haus drauf zu stellen. Ich habe auch heute keine Ahnung, wie er damals einen Kredit für das Haus hatte bekommen können. Aber irgendwie hatte er die Banken bequatscht. Das Haus war zu hundert Prozent finanziert, nur das Grundstück war bar bezahlt. Die Kreditzinsen fraßen uns alle bei lebendigem Leibe (Sprachbild).

 

Dann stand da also dieses Haus auf einem schmutzigen, wilden Grundstück, und meinen leiblichen Eltern wurde plötzlich klar, dass man auch Möbel braucht, um so ein Haus zu bewohnen. Dafür war dann aber kein Geld mehr da …

Es war auch kein Geld für Kleidung da oder für Essen oder für warmes Wasser oder für das Heizen … alles wie gehabt. Ich kannte es seit frühester Kindheit nicht anders. Früher hatte ich in einer gemieteten Wohnung gefroren und gehungert, jetzt fror und hungerte ich in einem Haus, das der Bank gehörte. Für mich war das Jacke wie Hose.

 

Wie auch immer:

Als ich zehn Jahre alt war, hatte mein leiblicher Vater auf einmal dieses große, erdige Grundstück. Aus dem wollte er einen Garten machen. Und er hatte auch sehr klare Vorstellungen, wie dieser Garten aussehen sollte. Sein Plan war genauso schlicht wie einleuchtend:

Er hatte ein Herz und eine Seele aus Beton, und dieser Garten sollte sein Inneres eins zu eins widerspiegeln.

 

Also machte er aus diesem Grundstück eine Wüste aus Beton.

 

Meine leiblichen Eltern haben nie begriffen, dass ihre Kinder von ihnen getrennte Menschen waren. Menschen mit eigenen Bedürfnissen, Zielen, Sehnsüchten und Ängsten. Menschen mit einer eigenen Würde, einem eigenen Stolz und eigenen Plänen.

Für sie waren wir immer Teil ihres beweglichen Besitzes.

Und das bitte ich sehr wörtlich zu nehmen:

Wir waren ihr Eigentum.

Wir waren ihr beweglicher Besitz.

 

Und als aus dieser erdigen Landschaft ein Garten – also eine Wüste aus Beton – werden sollte, wurde ich als Arbeitskraft eingesetzt.

 

Fünf lange Jahre ging das so:

Wenn kein Frost war und ich gerade nicht in der Schule war oder Hausaufgaben zu machen hatte, hatte ich an den meisten Tagen auf den Latifundien meines leiblichen Vaters anzutreten und den Bauarbeiter zu geben – von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.

Und auch das bitte ich sehr wörtlich zu nehmen.

 

Ich war zehn Jahre alt, als ich anfing, Zementsäcke durch die Gegend zu schleppen. Ich weiß nicht, ob ihr wisst, von welcher körperlicher Statur ein durchschnittlicher Zehnjähriger ist. Ich war recht unterernährt und ausgemergelt. Ärzte, die mich in Augenschein nahmen, sprachen meine leiblichen Eltern regelmäßig darauf an:

Der Junge ist unterernährt. Schicken Sie ihn zur Kur.“

Meine leiblichen Eltern wollten davon immer nichts wissen. Und ich auch nicht. Denn ich fürchtete mich davor, Menschen in die Hände zu fallen, die noch viel schlechter zu mir waren als meine leiblichen Eltern.

 

Wie auch immer – ich kann mich nicht erinnern, vor meiner Zivildienstzeit irgendwann in meinem Leben mal dauerhaft satt geworden zu sein. Meinen Zivildienst machte ich in einem Wohnheim, zu dem auch eine Großküche und ein größeres Kühlhaus gehörte.

Und die gesamte Küchenbesatzung hatte sich geschworen:

Den kriegen wir auch noch satt.“

Ich durfte tatsächlich ins Kühlhaus, wann immer ich wollte. Und ich kann euch sagen:

Ich habe sie ratzekahl gefressen. Ich war groß, ich war hungrig, ich war ein Heuschreckenschwarm.

 

Aber in der Zeit, von der ich jetzt schreiben will, war ich ausgehungert, ausgemergelt und dürr. Ein Strich in der Landschaft. Meine jüngere Schwester gab mir den Spitznamen „KZ-Häftling“.

Lange Zeit bestand das Mittagessen, das ich bekam, wenn ich aus der Schule kam, aus zwei dünnen Scheiben Brot, dünn mit Margarine bestrichen. Die Alternative war: Zwei dünne Scheiben Brot, dünn mit Margarine bestrichen und mit Salz bestreut. Und von Frühstück und Abendessen wollen wir hier lieber nicht reden.

Ich war ausgehungert, ich war durch. Chronisch.

 

In diesem Zustand schleppte ich also Zementsäcke. Einer wog 50 Kilo. Das war eine ziemliche Herausforderung für mich. Ich fuhr mit dem Schubkarren Sand und Kies durch die Gegend. Ich klemmte mich hinter diese riesigen Erwachsenenschaufeln und schippte Erde, Steine, Kies und Schotter durch die Gegend. Ich zimmerte Verschalungen für Mauern und Terrassen. Ich stand an der Mischmaschine. Ich mauerte Mauern mit Kalksandstein. Ich flocht Moniereisen, ich turnte auf irgendwelchen Baugerüsten rum … ich tat, was man halt auf einer Baustelle so tut. Natürlich trug ich keinerlei Schutz- oder Sicherheitskleidung – keinen Helm, keine Handschuhe, keine Sicherheitsschuhe.

 

An Wochenenden ging das häufig von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang so. Oft genug habe ich auch noch nachts beim Schein einer starken Laterne Beton gegossen. Jahrein, jahraus. Bei strömendem Regen – ich war nass bis auf die Haut, denn selbstverständlich hatte ich keine regendichte Kleidung. Bei brüllender Hitze – natürlich war ich völlig verbrannt. Sonnenschutzcreme konnte ich mir zum ersten Mal leisten, als ich 18 Jahre alt war.

 

Also – ich war bei Wind und Wetter draußen und rührte buchstäblich tausende Kubikmeter Beton an, damit der Garten so aussah, wie die Seele und das Herz meines leiblichen Vaters. Schicht um Schicht wurde die Erde mit Beton bedeckt. Natürlich gab es am Ende hier und da auch Rasen, Sträucher oder Blumenbeete. Aber das alles beherrschende Element dieses Gartens war Beton.

Beton.

Beton.

Beton.

 

Gut ein Jahrzehnt später verkauften meine leiblichen Eltern dieses Haus, um in die Fremde zu ziehen und dort in Armut und Einsamkeit zu verrecken. Meine ältere Schwester erzählte mir, dass der neue Besitzer des Hauses angefangen hätte, den Beton vor der Haustür mit einem Presslufthammer zu bearbeiten. Ich antwortete ihr spontan.

Keine Chance! Der Beton ist an dieser Stelle über einen Meter dick. Für die Qualität dieses Betons verbürge ich mich.“

 

Mit diesem Haus ist nie jemand glücklich geworden. Immer kaufte das irgendwer, ließ sich scheiden und verkaufte dann das Haus wieder. In den dreißig Jahren, in denen das nun schon so geht, hatte das Haus mehr als fünf Besitzer. Als ich das letzte Mal nachschaute, stand es gerade mal wieder leer und zum Verkauf.

Und meine ältere Schwester informierte mich:

Jeder neue Besitzer rückt mit einem Presslufthammer an und will an den Beton ran!“

Ich sagte ihr:

Keine Chance. Absolut keine Chance. Eher wirst du einen Bunker aus dem zweiten Weltkrieg los. Diesen Beton habe ich angerührt. Den kriegst du nie wieder weg.“

 

Aber zurück zu der Zeit, wo ich als kindlicher Arbeitssklave auf dieser Baustelle zu schuften hatte:

 

Selbstverständlich wurde ich bei dieser Arbeit angebrüllt, fertig gemacht und geschlagen. Ich erzählte euch, dass ich diese schweren Säcke zu schleppen hatte. Wehe, wenn ich mal einen fallen ließ. Ich hab‘ mit Fieber (über 39 Grad) an der Mischmaschine gestanden und bin vor Schwäche umgefallen. Dreimal dürft ihr raten, wie mit mir verfahren wurde. Oder der Tag, an dem ich stundenlang Ziegelsteine geschichtet hatte. Irgendwann fiel mir einer dieser schweren Steine polternd aus der Hand. Ich besah meine blutenden Hände und stellte fest, dass ich meine rechte Hand nicht mehr schließen konnte. Es war, als wären die Sehnen auf einmal zu lang geworden. Ich stand da und mühte mich, aber ich bekam meine Hand einfach nicht mehr zu.

Dreimal dürft ihr raten, wie’s dann weiter ging. (Aber die ersten beiden Male zählen nicht).

 

Ich wurde bei dieser Sklavenarbeit mit den Händen geschlagen, mit einem Hammer, mit einem Spaten, mit verschiedenen Schaufeln, mit einer Wasserwaage, mit einem leeren Eimer, mit einer Raspel, mit einer Baumsäge, mit einem Paar Handschuhe, mit einem Gartenschlauch, mit einem Schraubenschlüssel …

Alles, was meinem leiblichen Vater in die Hände kam, konnte völlig selbstverständlich als Waffe gegen mich eingesetzt werden.

Und selbstverständlich wurde ich sehr oft angeschnauzt und angebrüllt.

 

Bitte nicht vergessen:

Ich war der bewegliche Besitz meiner leiblichen Eltern.

Und als solcher wurde ich auch behandelt.

 

Auf diese Weise habe ich viele tausend Stunden meiner Kindheit zugebracht.

Und natürlich sahen meine Hände dann auch dementsprechend aus.

Ich kannte es nicht anders.

Irgendwann habe ich dann begriffen, dass die Kindheit anderer Menschen substanziell anders aussehen konnte.

 

Ich habe einen Heidenrespekt, wenn ich in Filmberichten sehe, wie Kinder in Pakistan oder Bangladesch auf Baustellen arbeiten. Ich bin sehr bewegt, wenn ich in Filmberichten sehe, wie Kinder in Arabien in glühender Hitze Lehmziegel herstellen: Ich weiß, wie schweineschwer diese Arbeit ist.

 

Der Garten, in dem ich jahrelang arbeitete, war von sämtlichen Nachbarn frei einsehbar. Wenn ich vorne vor dem Haus zu arbeiten hatte, konnte auch jeder Passant sehen, was ich tat und wie mit mir umgegangen wurde.

Alle Nachbarn haben Bescheid gewusst. Jeder hat gesehen, was vorging. Jeder hat es gehört. Wenn mein leiblicher Vater rumbrüllte und uns schlug, dann war das wirklich sehr weit zu hören. Buchstäblich jeder, der nicht blind und taub war, wusste Bescheid.

 

Diese Nachbarn waren eifrige Kirchgänger, engagierten sich im Tierschutz, waren Polizisten, Professoren und auch ansonsten angesehene und allseits geschätzte Mitbürger. Sie alle wurden Mittäter und Mitverbrecher.

Nie hat sich eine Hand für mich oder meine Geschwister gerührt, nie hat jemand seine Stimme für uns erhoben.

Das werde ich nie vergessen.

 

Anders als andere Kinder – zum Beispiel in Asien oder Arabien – bekam ich dann aber eine Chance. Ich nutzte sie.

Ich machte Abitur und ergatterte später ein Stipendium, mit dem ich studieren konnte. Als Student habe ich noch lange als Landschaftsgärtner gearbeitet, aber das war nicht weiter wild. Das war eine Arbeit, die mir gut gefiel.

 

Heute sieht es so aus, als wäre ich der Armut und der Sklavenarbeit dauerhaft entronnen – auch, wenn mich meine Vergangenheit heute noch manchmal einholt. Zum Beispiel wenn ich jemanden mit schwieligen Händen sehe. Oder wenn ich in Filmberichten sehe, wie Kinder auf Baustellen oder in Fabriken schuften. Und diese Kinder bekommen meist keine Chance. Ich bekam eine und nutzte sie.

Das werde ich nie vergessen.

 

Vor einiger Zeit sah ich auf YouTube einen Filmbericht aus dem Sitz der Vereinten Nationen in New York.

Eine offensichtlich sehr wütende junge Schwedin rief den versammelten Männern (und Frauen) zu:

How dare you! You‘ve stolen my childhood!”

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) schauten uns das an.

Wir schauten uns diese junge Schwedin sehr genau an.

Und meine Kleinen murmelten leise und drohend:

Ja, dir haben sie die Kindheit gestohlen. Du hast den Überblick. Du weißt Bescheid.“

 

Und wir dachten an die Kinder, die wir in den anderen Filmberichten gesehen hatten – aus Bangladesch, Pakistan und Arabien. Das stand uns alles sehr genau vor Augen.

Wir dachten an die vielen Mädchen, die zwangsverheiratetes Vergewaltigungsfreiwild werden und an all die anderen Kinder, die nie eine Chance bekommen. Gerne hätten wir dieser aufgebrachten jungen Schwedin gesagt, dass gestohlene Kindheit anders geht. Ganz anders. Aber wir haben es gelassen.

 

Wir schauten uns unsere Hände an:

Keine Schwielen mehr. Schon lange nicht mehr.

Wir haben eine Chance bekommen. Wir haben sie genutzt.

Für diese Chance sind wir über alle Maßen dankbar.

 

Wir werden das nie vergessen.

 

 

 

Fazit und Zusammenfassung

 

Manchmal braucht ein Kind nicht mehr als das:

Eine Chance, eine einzige. Nur eine einzige, winzige Chance.

Und dann können die Dinge anders werden.

Ganz anders.

 

Das werden wir nie vergessen.

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