Ein langer Weg 10 – Die sechs Türen Teil 3/4

Achtung bitte, wer eine verwundbare Seele hat – dieser Text enthält wieder jede Menge Triggerkram.

 

 

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Der Sauhaufen traute sich am nächsten Tag kaum, mir unter die Augen zu treten. Sie fühlten sich als schreckliche Versager und schämten sich fürchterlich.

Ich schaute sie mir an:

„Das ist völlig normal“, sagte ich ihnen.

Und dann erzählte ich ihnen ausführlich, wie ich das Kämpfen gelernt hatte und wie viele Jahre es gedauert hatte, bis mir meine Kleinen den Titel „Meister“ gegeben hatten.

Ich sagte ihnen:

„Wenn es überhaupt einen Feigling hier gibt, dann bin ich das. Ich bin der König der Feiglinge. Und wenn man mit Angst haben Geld verdienen könnte, dann wäre ich heute schon Milliardär. Egal, wie feige ihr seid – ich bin feiger. Egal, wieviel Angst ihr habt – bei einem Wettbewerb, sich vor Angst in die Hose zu machen schlage ich euch um Längen.“

Das baute sie wieder auf.

Sie lachten verlegen. Sie besprachen sich.

Sie beschlossen, es beim nächsten Mal erneut zu versuchen.

Und das haben sie gemacht.

 

Sie haben mich nie wieder enttäuscht oder im Stich gelassen.

Ohne den Sauhaufen hätte ich die letzten drei Türen niemals gemeistert. Ich erinnere nochmal an die Schweregrade:

 

Tür 1  - Schweregrad 1

Tür 2  - Schweregrad 5

Tür 3  - Schweregrad 25

Tür 4  - Schweregrad 125

Tür 5  - Schweregrad 625

Tür 6  - Schweregrad 3.125

 

Wir waren jetzt hinter der vierten Tür – Schweregrad 125. Das schafft vermutlich niemand alleine. Ohne Unterstützung durch kampfstarke Truppen geht das nicht. Der Sauhaufen war gut. Und er wurde immer besser. Und ab jetzt galt:

 

Der Meister geht da rein. Und der Sauhaufen geht mit.

 

 

17

Hinter der vierten Tür schlugen sie mich bewusstlos. Sie droschen auf mich drauf und machten sich einen Spaß daraus, mich immer wieder aus der Bewusstlosigkeit zu wecken, um dann erneut auf mich draufzuhauen. Nach allem, was ich sehen konnte, hatten sie einen Wettbewerb:

Wer bekommt noch Töne aus ihm heraus?

 

Der Tod war jetzt im Raum. Das war eindeutig zu spüren. Manchmal war er sogar nur noch eine Armeslänge entfernt.

 

Sie gossen mir Wasser aus einem Eimer oder einer Gießkanne direkt ins Gesicht, um mich wieder wach zu kriegen.

Ich habe mal davon gelesen, wie die Erfahrung beim „Waterboarding“ ist. Das hier war ähnlich. Sie freuten sich, als sie merkten, wie es mir ging.

Und dann hauten sie wieder auf mich drauf.

 

Wenn ich hinter der vierten Tür am Ende einer Therapieliegung aus diesen Situationen wieder auftauchte und versuchte, mich in der Realität zu orientieren, brauchte ich noch deutlich länger als sonst. Wenn ich dann stöhnend, wimmernd, ächzend und nur halb bei Bewusstsein auf der Matte saß, mühsam gegen die Wand gelehnt, dann tastete ich meinen Körper ab:

Handgelenk gebrochen, mindestens drei Rippen gebrochen, Arm gebrochen, Knie schwer in Mitleidenschaft gezogen, Fußgelenk zertrümmert … das nahm gar kein Ende mehr.

 

Immer wieder war uns in diesen Situationen vollkommen klar: Wir sind so schwer verletzt – das wird nie wieder heilen. Wir werden sterben. Wir werden das nicht überleben.

 

Ich kann mich erinnern: Ich saß da bei der Nachbesprechung auf der Matte und fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare, hielt mir die Hände vor die Augen und starrte sie ungläubig an. Die Begleiterin sah das, und es entwickelte sich einer unserer kurzen Dialoge:

„Blutet?“

„Ziemlich!“

 

Ich konnte es jedes Mal nicht begreifen:

Meine Hände waren voller Blut. Aber wenn ich sie mir anschaute, konnte ich keins sehen.

Meine Rippen waren gebrochen. Und wenn ich sie abtastete, tat das alles nur höllisch weh. Aber sonst war dort alles so, wie es sein sollte.

Ich hatte sehr schwere Treffer auf den Kopf bekommen. Aber wenn ich da rumtastete, dann fand ich keine Furchen oder Dellen im Kopf.

Mein Handgelenk war gebrochen. Das tat höllisch weh. Aber wenn ich meine Hand bewegte, war alles so, wie es sein sollte.

Und so weiter.

 

Manchmal brauchte ich Stunden, um wieder vollkommen in der heutigen Realität angekommen zu sein.

Und dennoch:

Wenn mich jemand Tage nach so einer Therapieliegung auch nur leicht berührte, war es sehr wahrscheinlich, dass der Schmerz in mir wie eine glutheiße Fontäne hochschoss. Und du konntest mich buchstäblich berühren, wo du wolltest – alles tat weh, überall. Und ich kann euch versichern:

Es tat ziemlich weh.

Monatelang ging das so.

 

Mittlerweile hatte ich begriffen, dass meine leiblichen Eltern mich vermietet hatten. Man konnte mich mieten, um mich zu vergewaltigen und zu foltern. Es war nicht das erste Mal, dass ich sowas erlebte. Aber dieses Mal hatten sie meinen leiblichen Eltern offenbar etwas mehr gezahlt und durften mich am Ende töten.

 

Die Begleiterin hatte uns vor Monaten gesagt:

„Wenn Sie ein starkes Trauma bearbeiten wollen, das aus einer ganzen Kette von Ereignissen stammt, dann brauchen sie oft nicht jede einzelne Situation wiederzuerinnern. Oft genügt es, wenn Sie drei Situationen bearbeiten:

Das erste Mal.

Das letzte Mal.

Das schlimmste Mal.“

 

Wir begriffen allmählich, dass wir es hier mit dem schlimmsten Mal zu tun hatten.

 

Vergewaltigt hatten sie uns schon. Mehr konnten sie schon rein körperlich nicht. Viagra und solches Zeug gab es damals noch nicht. Sie waren bedröhnt, sie waren erschöpft. Aber speziell der Drahtzieher wollte das ganze dadurch krönen, dass ich umgebracht wurde.

 

Wie würden sie das anstellen?

Die Antwort fandenwir hinter der fünften Tür.

Schweregrad 625.

 

 

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Sie schleppten mich über eine Treppe raus aus dem Keller auf irgendeinen Rasen. Da lag ich. Ich konnte Grashalme sehen. Dahinter drei Birken. Und hinter den Birken stand die bleiche Sonne. Ich konnte das sehr genau sehen. Ich weiß heute nicht mehr, welche Uhrzeit ich damals wiederfand. Aber am Stand der Sonne konnte ich das sehr genau einschätzen. Ich glaube, dass es zehn Uhr Vormittag war. Aber es gibt auch Teile in mir, die sagen vier Uhr Nachmittag. Wie gesagt – obwohl ich das damals (Dezember 2019) wiedergefunden habe, ist dieses Detail mittlerweile wieder verblasst.

 

Ich lag auf dem Rücken, der Kopf zur Seite gefallen. Der Drahtzieher stand ein wenig abseits und guckte zu. Die beiden anderen Männer standen direkt neben mir. Dann begannen die beiden Männer gegen meinen Kopf zu treten, wie man gegen einen Fußball tritt. Erst trat der eine, dann der andere. Sie wechselten sich ab. Ich verlor wieder das Bewusstsein. Dann wurde ich wieder wach. Sie traten weiter.

 

Aber sie waren zu bedröhnt, um ihr Werk zu vollenden. Darauf reagierte der finstere Drahtzieher ausgesprochen gereizt und wütend. Mein Tod sollte der krönende Abschluss dieser Szene sein. Darauf hatte er sich vorbereitet. Darauf hatte er sich so gefreut. Darauf hatte er die ganze Zeit hingearbeitet, dafür hatte er bezahlt.

Aber er hatte dabei zugucken wollen.

Nun war er gezwungen, das selber zu machen.

Er war sehr ärgerlich.

 

Er kam zu mir rüber, stellte sich neben mich und hob sein rechtes Bein. Er trug braune Stiefel mit Absätzen. Mit der Ferse voran trat er mit aller Kraft auf meinen Brustkorb. Ich weiß nicht, ob er schwankte, ob er nicht richtig zielte oder ich mich bewegte. Aber er traf mich nicht richtig. Der Fuß rutschte ab. Weitere Rippen brachen.

 

Dann hob er das Bein erneut und trat wieder mit aller Kraft zu. Ich sah den Fuß über mir immer größer werden und sah, dass er genau in der Mitte meines Brustkorbs treffen würde.

 

Und an dieser Stelle reißen meine Bilder ab. Ich habe gesucht, ich habe nichts wiedergefunden. Offenbar sind die Erinnerungen an das, was jetzt folgte, tatsächlich komplett verloren gegangen.

 

Vom Öffnen der fünften Tür bis hierhin hatten wir ungefähr sechs Wochen gebraucht. Der Tod war die ganze Zeit extrem präsent. Erst war er auf Armlänge entfernt. Dann stand er direkt vor uns. Und dann konnten wir reinsehen in den Tod. Das geht. Man kann in den Tod hineinsehen. Dass das nicht allgemein bekannt ist, liegt vermutlich daran, dass Tote wenig von dem berichten, was sie in ihren letzten Sekunden erlebt haben.

 

Der Tod ging all in. Wir gingen all in.

 

Als es dann in den Tod ging und wir durch diesen schwarzen Vorhang gingen, zögerten wir keine Sekunde und wichen keinen Millimeter zurück. Mit der Begleiterin hatten wir besprochen, was sie zu tun hatte, falls wir auf der Matte bewusstlos wurden. Wir hatten in uns Notfallprogramme installiert.

 

Wenn das im Tod enden sollte, dann sollte das eben so sein. Aber auf keinen Fall war die Aussicht auf den Tod irgendein Grund, zurückzuzucken oder was ganz anderes zu machen. Das galt für alle in uns. Jeder in uns zog mit.

Wir wichen keinen Millimeter zurück.

 

Wir gingen in den Tod. Wir starben. Wir waren tot. Das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Konkreter oder detaillierter will ich an dieser Stelle nicht werden.

Zum einen will ich das nicht ausführen, weil ich nicht weiß, ob ich das überhaupt irgendwann öffentlich machen will. Und zum anderen haben wir nicht die Worte, die verständlich machen können, was ist, wenn man tot ist. Wer dort war, dem brauchen wir nichts zu erklären, der weiß das. Wer nicht dort war, dem können wir es nicht erklären. Er würde so ziemlich nichts begreifen.

 

Das nächste, was wir erinnern, war ungefähr eine Viertelstunde später. Irgendein Mann kniete oder saß neben uns und hatte uns „aufgebockt“. Ich lag auf seinen Beinen oder seinen Knien, auf jeden Fall war ich immer noch auf diesem Rasen, lag aber nicht mehr auf dem Rasen, und das, worauf ich da lag, das war nicht eben.

 

Der Mann hatte sein Gesicht ganz dicht vor meinem und schrie mich an. Ich hörte nichts. Absolut nichts. Aber mir war deutlich, dass dieser Mann nichts Böses wollte. Eher im Gegenteil. Er schien um mich zu kämpfen. Reanimation und solches Zeug. Es ging ziemlich ruppig zur Sache. Aber ich spürte nichts mehr. Neben ihm war ein anderer Mann, der anscheinend sein Vorgesetzter war. Der machte nichts. Der stand nur da und schaute zu. Die drei Männer, die mich vergewaltigt und gefoltert hatten, waren auch irgendwo da, konnten jetzt aber nicht mehr an mich ran. Von ihnen ging keine Gefahr mehr für mich aus. Ich spürte ihre Sorgen. Als Großer heute interpretiere ich diese Sorgen so:

„Wie erklären wir bloß den Zustand dieses Jungen?“

Ich bin sehr sicher, dass sie irgendeine plausible Erklärung für meinen Zustand gefunden haben. Jedenfalls habe ich nirgendwo auch nur den kleinsten Hinweis gefunden, dass irgendwer von den Erwachsenen für irgendwas belangt worden wäre. Wir vermuten sehr stark, dass sie gesagt haben, dass wir beim Spielen diese steinerne Kellertreppe runtergefallen wären.

 

Dieser Mann – Rettungssanitäter oder sowas – wollte einfach nicht aufgeben. Ich verlor wieder das Bewusstsein und war komplett weg. Rein in den Tod. Dann wurde ich wieder wach. Raus aus dem Tod. Diesmal waren nicht 15 Minuten vergangen, sondern eine bedeutend kürzere Zeitspanne. Er schrie mich beschwörend an. Ich hörte absolut nichts. Er machte irgendwas mit mir. Ziemlich ruppig. Ich weiß nicht, was er machte. Aber ich erlebte es nicht als feindlich. Und dann schrie er mich wieder so beschwörend an. Er gab einfach nicht auf.

 

Dann wurde ich offenbar in einen Krankenwagen verladen und irgendwohin gebracht. Ich verlor wieder das Bewusstsein, wieder war dieser Mann zur Stelle. Der andere Mann, von dem wir glauben, dass er sein Vorgesetzter war, hatte uns anscheinend völlig aufgegeben. Aber dieser Mann kämpfte um uns, als ob es um sein eigenes Leben ginge. Er wollte uns einfach nicht gehen lassen. Uns war das egal. Jetzt war sowieso alles egal. Völlig egal.

 

 

Das alles erlebten wir hinter der fünften Tür. Schweregrad 625.

Von der ersten Tür bis hierhin hatten wir neun Monate gebraucht.

Die 20 Minuten waren vorbei.

 

Jetzt sollte noch die sechste Tür kommen, an der / hinter der der Andere auf uns „seit Anbeginn der Zeiten“ auf uns wartete. Schweregrad 3.125.

Wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, was fünfmal schrecklicher, schwerer und schmerzhafter sein sollte, als das, was wir bereits erlebt hatten.

 

Was konnte fünfmal schrecklicher sein?

 

Wir sollten es bald erfahren.

 

*****

 

Fortsetzung folgt

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