Ein langer Weg 10 – Die sechs Türen Teil 2/4

Achtung bitte, wer eine verwundbare Seele hat – dieser Text enthält wieder jede Menge Triggerkram.

 

 

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Hinter der dritten Tür begannen die Vergewaltigungen. Die drei Männer schienen ziemlich bedröhnt zu sein. Einer von ihnen war der Drahtzieher und Rädelsführer. Er war besonders bösartig. Und bis zum Schluss habe ich ihn praktisch nicht zu Gesicht bekommen, weil er sich eher im Hintergrund hielt. Er steuerte das ganze und sagte den anderen, was sie zu tun hatten. Und im matten Lichte der Kellerlampe wurde ich von ihnen oral und anal vergewaltigt.

 

Ich kann euch versichern, dass das ziemlich weh tut, und dass du in tausend Teilen davonfliegst, wenn sowas mit dir gemacht wird. Sowas steht niemand als knapp zweijähriges Kind durch. Wir wählten damals den Weg, uns tausende Male in Einzelteile zu zerlegen, um irgendwie mit dieser Situation klarzukommen. Und jedes einzelne dieser Teile trug in sich den ganzen Terror und den ganzen Schmerz des Bruchteils der Sekunde, in der er davongeflogen war.

 

Meine Aufgabe als Meister war es, das alles wiederzufinden und auf mich zu nehmen.

Das tat ich.

Der Andere schaute mir dabei etwas ungläubig zu.

Er hatte mir das absolut nicht zugetraut.

 

Einmal als ich gerade vergewaltigt wurde, kam er vorbei, setzte sich daneben, rauchte und schaute sich das an. Als die Therapieliegung vorbei war und wir begannen, aus dieser Szene wieder aufzutauchen, fragte er mich ein wenig höhnisch:

„Na, gibst du auf?!“

Ich schaute ihn unverwandt an:

„Was?! Mitten im Spaß?!“

Immerhin sprach er mit uns. Und wir stiegen allmählich in seiner Achtung. Unser Umgang war ruppig aber herzlich.

(Übrigens: Hier bei uns raucht keiner. Ich nicht und meine Kleinen auch nicht. Aber beim Anderen haben wir einige Raucher gefunden).

 

Wenn ich mich nach so einer Vergewaltigungsszene stöhnend und ächzend auf der Matte aufrichtete, um dann keuchend und wimmernd an der Wand gelehnt zu sitzen, habe ich so oft ungläubig unter mich gefasst, weil ich ganz sicher war, dass da unten Blut und Sperma wieder aus mir rauslief. Aber da war nichts. Denn es war heute. Wir hatten eine Erinnerung wiedergefunden. Dennoch – es dauerte jedes Mal ziemlich lange, bis wir Erinnertes von Gegenwärtigem trennen konnten.

 

 

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Seit wir denken können, leben wir von geborgter Zeit. „Von geborgter Zeit leben“ nennen wir es, wenn jemand eigentlich schon längst tot sein müsste (weil er so viel raucht, weil er so schlimme Botschaften und Befehle aus der Kindheit mit sich rumschleppt, weil er so krank ist, weil er so ein gefährliches Leben führt etc.) aber aus bislang unbekannten Gründen immer noch am Leben ist.

 

Ich habe es auch mal so ausgedrückt:

„Ich laufe so schnell ich kann über eine sehr lange Hängebrücke aus Holz, die eine sehr tiefe und sehr breite Schlucht überspannt. Hinter mir brennt die Brücke in voller Ausdehnung, und das Feuer kommt näher.“

 

Geruhsames und zufriedenes Leben geht anders, ich weiß das. Aber das Schicksal hat uns was anderes zugeteilt. Für uns ist das wie mit einem Kartenspiel: Mit den Karten, die du bekommen hast, musst du spielen. Ob du dich über diese Karten ärgerst oder nicht, tut nichts zur Sache – du bekommst keine anderen. Und so sagen wir Menschen, die sich bei uns über ihr Schicksal beklagen wollen, recht oft:

„Spiel dein Blatt!“

Die Frage „Warum gerade ich?!“ hat in unserer Welt nie irgendeine Bedeutung gehabt. Aber tatsächlich haben Menschen unseres Vertrauens, denen wir in Auszügen schilderten, was wir hinter den sechs Türen fanden, wiederholt die Frage an uns gerichtet, warum gerade wir das erlebt hätten. Sehr merkwürdig. Als müsste es dafür einen Grund geben. Vermutlich waren diese Menschen durch den weit verbreiteten Irrglauben angetrieben, dass diese Welt oder das Leben aus sich heraus gerecht sei. Wir haben mit unserer Standardantwort regiert:

„Wieso eigentlich nicht?“

 

 

Jetzt kamen wir dem Tod immer näher, und wir hatten einigen Abstimmungsbedarf mit unserer Begleiterin, die immer wieder versuchte, uns zu bremsen. Sie sagte uns, dass es gefährlich sei, was wir da taten. Wir antworteten ihr, dass uns das voll bewusst sei. Wir informierten sie:

„Der Tod geht all in. Ich gehe all in. Und nun schauen wir mal, wer gewinnt.“

 

Offenbar gehören wir zu den schwereren Fällen der Begleiterin. Sie ist sehr kompetent und erfahren. Aber sowas wie uns hat sie anscheinend nicht alle Tage. Sie hat keine Probleme mit dem Tod und mit der Gefahr. Aber anscheinend hatte sie den Eindruck, dass wir viel zu schnell vorangingen. Und das ist natürlich genau das, was der, der über die brennende Brücke rennt, hören will:

„Lauf langsamer!“

(Ironie)

 

Manchmal vergessen Psychotherapeuten offenbar, dass der, den sie da begleiten, ganz real und buchstäblich mit dem Tod kämpft und nicht nur damit beschäftigt ist, irgendwas in seinem Leben zu ordnen. Und dass eine Reise ans Ende der Welt lebensgefährlich ist, dürfte auch den Unbedarften und Unerfahrenen klar sein.

Wir hatten diese Reise verschoben, so lange unsere Töchter uns brauchten. Jetzt waren sie volljährig und aus dem Haus – also Vollgas!

 

Ich als Meister zog diese Diskussion an mich. Ich sagte der Begleiterin, dass nicht ich steuern würde, was wir in welchem Tempo wiederfanden, sondern allein unser Körper. Als Meister hatte ich die Steuerung der Reise komplett an den Körper abgegeben. Und uns war vollkommen klar, dass unser Körper immer nur das freigab, was wir momentan verarbeiten konnten.

 

Auf der anderen Seite hatte es hinter der dritten Tür aber auch diese Situation gegeben:

Unser Körper hatte uns bei einem Therapietermin den für diesen Termin bestimmten Teil an alten Schmerzen, Empfindungen und Gefühlen zugeteilt. Als wir allmählich aus dieser Situation wieder auftauchten, war ich als Meister unzufrieden mit dem, was wir an diesem Tag erreicht hatten. Ich wollte den Körper dazu bewegen, noch mehr freizugeben. Plötzlich kam der Andere vorbei. Wie beinahe immer sagte er kein Wort. Er war der Meinung, dass ich dem Körper nicht reinzureden hätte. Und um mir das deutlich zu machen, hielt er mir ein kleines Plakat vor das Gesicht, das er gemalt hatte. Auf diesem Plakat stand:

„Fortsetzung folgt“

Mit anderen Worten:

Lass mal gut sein – was da noch kommt, das werden wir uns beim nächsten Termin anschauen.

 

Aber im Allgemeinen ließen wir unseren Körper das alles steuern. Er bestimmt die Inhalte, die wir wiederfinden und den Rhythmus, die Intensität und die Geschwindigkeit, mit der wir das wiederfinden. Und wenn unser Körper unsere Therapie steuert, dann sind wir tatsächlich nicht mehr zu bremsen.

 

Meine Aufgabe als Meister beschränkt sich in der Therapie darauf, sicherzustellen, dass wir regelmäßig die Therapietermine wahrnehmen und dass ich, wenn wir dort sind, in die Situation reingehe. Ich als Meister muss da reingehen. Das tut keiner für mich.

Und so wurde das für viele Wochen am Ende einer jeder Vorbesprechung zu einer stehenden Redewendung:

Die Begleiterin sagte etwas, um uns zu bremsen, und ich sagte ihr:

„Ich bin der Meister. Und der Meister geht da rein.“

Und dann ging ich da rein.

 

Als Meister bin ich mit der Technik, mit der diese Therapie arbeitet, sehr vertraut. So vertraut, dass ich meistens nur Sekunden brauche, um mich in Situationen zu begeben, die mal gewesen sind. Manchmal lag ich noch nicht richtig auf der Matte (während der Vorbesprechung sitze ich immer auf der Matte), als auch schon die ersten Schläge auf mich niedersausten oder mit der Penetration begonnen wurde.

 

Sehr unangenehm das alles, keine Frage.

Aber ich bin der Meister. Und der Meister geht da rein.

 

 

13

Nach der Therapie humpelten wir auf Krücken zu unserem Auto zurück. Danach ging es oft genug quer durch Deutschland – hunderte Kilometer -, zum nächsten Einsatzort: Seminare, Vorträge, Teamentwicklungen, Workshops, Training … Die Arbeit mussteja irgendwie weitergehen. Ich musste Geld verdienen, um mich und meine Familie wirtschaftlich durchzubringen. Und die Therapie musste ja auch von irgendwas bezahlt werden.

 

Aber ich kann euch versichern, dass es nicht zu den leichteren Übungen im Leben zählt, frisch gefoltert und vergewaltigt irgendwo anzutreten und Vorträge zu halten oder Seminare zu geben. Auch Konfliktmanagement und Teamentwicklungen sind unter solchen Bedingungen eher schwierig.

 

Aber ich kann mir das ja nicht aussuchen. Und ich bin auf meine Weise durchaus fähig. Ich kann vieles, was andere nicht können. Es war vergleichsweise unangenehm, aber irgendwie hat das immer funktioniert. Und die Rückmeldungen, die ich zu meiner Arbeit bekam, waren deutlich besser als die Rückmeldungen aus der Zeit vor unserer Reise.

 

Ein paar Mal habe ich mich während der Reise ans Ende der Welt aber auch krankschreiben lassen, weil es nun wirklich nicht mehr ging. Aber das blieb alles in einem Rahmen, in dem ich meinem Arbeitgeber in keiner Weise auffiel.

 

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Wir fuhren nach der Therapie über 400 Kilometer weit zum nächsten Einsatzort. Während der Fahrt kamen zahlreiche Überläufer des Anderen zu mir. Ich als Meister habe immer meine Kleinen um mich rum. Wenn die nicht gerade an dem Ort in unserem Inneren sind, den wir nur den Garten nennen, wuseln sie um mich rum, foppen mich, erzählen Geschichten oder machen irgendwelchen Blödsinn. Oder sie sind einfach nur da, schlafen eng an mich gekuschelt, erzählen mir was oder was auch immer.

 

Genauso hat der Andere Kleine um sich rum. Und manchmal liefen einige von ihnen zu mir über. Der Andere hatte nichts dagegen.

 

Während dieser Autofahrt waren 15 oder 17 von diesen Kleinen da. (Ich habe die genaue Zahl nie rausbekommen). Zwei von ihnen waren Mädchen, der Rest Jungs. Da meine Kleinen ausschließlich männlich sind, war das schon mal was ganz neues.

 

Die Autofahrt dauerte über vier Stunden und sie überschütteten mich mit dem, was in ihnen war:

1)     Sie waren emotional und intellektuell total verwahrlost. Das war echt schlimm.

2)     Sie hatten keinerlei Frustrationstoleranz.

3)   Und ihre Antwort auf alles, was ihnen nicht passte, war Gewalt - rohe, pure, schiere Gewalt. Sie kannten nichts anderes. Sie wollten nichts anderes. Und es gab sehr vieles, was ihnen nicht passte. Gewalt. Gewalt. Gewalt. Sie kamen aus dem Ghetto und ihr gesamtes Leben war Gewalt.

 

Ich weiß heute die Gründe nicht mehr – sie waren vollkommen nichtig –, aber diese Ghettogören begannen, auf mich einzuschlagen. Auch das war neu für uns, denn bei meinen Kleinen gilt:

„Hauen ist nicht.“

Und das setze ich als Meister auch rigoros durch.

Meine Kleinen wissen: Was der Meister anordnet, das wird gemacht.

Diese Kleinen, die jetzt dazugekommen waren, die hielten sich an nichts. Die reine Anarchie, die schiere Verwahrlosung und Gewalt, Gewalt, Gewalt, Gewalt, Gewalt.

 

Ich versuchte alles, was in meiner Macht stand, sie zu bändigen. Und es tat ziemlich weh, wenn sie auf mich einprügelten. Kurz bevor unsere Fahrt zu Ende war, wusste ich mir keinen Rat mehr. Ich sagte ihnen:

„Ich sehe, die einzige Sprache, die ihr versteht und die ihr verstehen wollt, ist Gewalt. Das kann ich auch. Dann woll’n wir mal!“

Und dann begann ich Ohrfeigen zu verteilen. Wuchtig. Wenn ich irgendwo hinhaue, dann ist was geboten. Ich war ziemlich unglücklich. Noch nie hatte ich irgendein reales Kind geschlagen, noch nie hatte ich in meinem Inneren Prügel angedroht oder sogar verteilt.

 

Aber ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen.

Und nachdem ich fast drei Stunden lang verprügelt und verhauen worden war, sorgte ich jetzt innerhalb von acht Minuten für Ruhe. Es war Ruhe und es blieb Ruhe. Denn ich sagte ihnen:

„Das kann ich nochmal. Und wenn ich auch nur eine einzige Beschwerde über euch kriege, dann gibt es wieder Dresche.“

Dann schickte ich sie in den Garten zum Akklimatisieren.

Ich war sehr unglücklich. Ich hatte Kinder geschlagen.

 

Die Begleiterin fand bei unserem nächsten Termin – wie so oft – ganz spontan die passenden Worte:

„Das war Notwehr von Ihnen.“

Und das konnten wir sofort akzeptieren.

Ich schaute rüber zu den Ghettogören und sagte nur:

„Seht ihr? Notwehr!“

Sie sahen. Sie schwiegen. Sie hatten Respekt vor mir, weil ich sie hauen konnte.

 

An diesem Wochenende machten wir wie üblich eine unserer langen Wanderungen im Taunus. Ich unterhielt mich mit den Ghettogören. In den Garten passten sie nicht. Das war ihnen zu friedlich dort. Zurück zum Anderen wollten sie auf keinen Fall. Dort sei „alles scheiße.“

Und dann legten sie wieder in ihrer verwahrlosten Ghettosprache los und ließen mich intensiv teilhaben an ihren Gefühlen und Gedanken. – Die reine Verwahrlosung, sehr viel Not, ganz viel Elend. Und Gewalt, Gewalt, Gewalt, Gewalt.

 

Ich schaute in den frühmorgennebligen Taunus und seufzte tief:

„Ihr seid ein Sauhaufen!“

 

Was jetzt kam, überraschte mich vollkommen.

Die Ghettogören sprangen sofort auf diesen Begriff an. Das war ein Begriff, mit dem sie sich absolut identifizieren konnten.

„Wir sind der Sauhaufen!“

„Wir sind der Sauhaufen!“

„Wir sind der Sauhaufen!“

Sie kicherten und jubelten und lachten. Sie fühlten sich geliebt, gemeint und angenommen. Sie hatten ihren Platz gefunden. Sie wollten für immer bleiben. Nie wieder würden sie von mir weggehen. Ich war der Meister und sie waren mein Sauhaufen.

 

Wir unterhielten uns.

„Ok“, fragte ich sie, „ihr seid also der Sauhaufen. Aber was wollt ihr denn machen? Der Garten ist euch ja zu langweilig und friedlich.“

„Ja, voll die ätzende Oberscheiße!“

„Aber was gefällt euch denn besser?“

„Kämpfen!“

„Kämpfen?“

„Ja, kämpfen. Kämpfen können wir wirklich gut.“

Ich blieb stehen und stemmte mich schwer atmend auf meine beiden Wanderstöcke:

„Bei aller Liebe, ihr könnt alles mögliche, aber nicht kämpfen. Ihr könnt euch vielleicht rumprügeln im Ghetto. Aber das ist nicht kämpfen. Kämpfen ist etwas ganz anderes.“

 

Das empfanden sie als ehrabschneidende Beleidigung. Sie machten einen ziemlichen Aufruhr. Das, was Ghettogören in so einem Fall eben so tun.

Riesengeschrei, Imponiergehabe, beleidigt bis zum Anschlag, Drohgebärden – ach du liebe Güte … tausendmal gesehen, als wir noch im Ghetto lebten.

 

Ich schnitt ihnen das Wort ab:

„Ok. Ihr wollt kämpfen. Dann lasst euch zum Kämpfen ausbilden. Ich hab‘ da jemanden, der das kann. Und wenn ihr kämpfen könnt, dann kommt zurück. Ich bewaffne euch, und ihr könnt als meine Leibgarde anfangen.“

 

Das war weit mehr als sie erwartet hatten. Sie waren es absolut nicht gewohnt, mit konstruktiven Vorschlägen Probleme zu lösen. Das war mal eine neue Erfahrung für sie. Ich schickte sie zu einem Teil von mir, den wir nur den Krieger nennen. Und der Krieger weiß Bescheid. Wenn wir in die Schlacht gegen den Feind ziehen, dann vertraue ich ihm meistens meinen rechten Flügel an, während ich selber unser Zentrum und den linken Flügel kommandiere. Und wenn der Krieger und ich losschlagen, dann ist wirklich was geboten. Dann stellt sich besser niemand in den Weg. Auch der Feind nicht.

 

Zwei Wochen später war der Sauhaufen wieder da. Ich schaute sie mir an. Ganz überzeugend wirkte das nicht auf mich, aber mehr konnte man unter diesen Umständen vermutlich nicht erwarten. Ich ließ sie in der Waffenkammer ihre Bewaffnung wählen. Sie entschieden sich für amerikanisches Zeug. Das AR 15 wurde Standardbewaffnung, einige nahmen sich zusätzlich noch einen M203.

 

Ich schaute mir das an:

„Ihr seid jetzt also Marines, wie?“

Sie nickten stumm. Ghettogören machen vielleicht ein Riesengeschrei. Marines sind schweigsame Kämpfer.

Auch gut.

 

15

Wir waren jetzt in der Therapie unmittelbar vor der vierten Tür. Schweregrad 125. Niemand wusste, was das bedeutete und was uns hinter dieser Tür erwartete. Der Sauhaufen war jetzt meine Leibgarde. Ausnahmslos alle hatten sich freiwillig verpflichtet, da mit mir reinzugehen.

„Das wird ungemütlich, Jungs (und Mädels)“ hatte ich ihnen gesagt. „Bis jetzt habt ihr da immer nur von weitem zugeguckt. Wenn ihr da mit dem Meister reingeht, dann geht ihr da mitten rein. Da geht’s dann zur Sache. Niemand weiß, ob wir da lebend rauskommen. Wollt ihr das?“

Sie nickten stumm. Sie wollten da mit rein. Sie liebten ihren Meister, der ihnen eine Heimat und eine Aufgabe gegeben hatten – und wo er hinging, da gingen auch sie hin. Das war völlig selbstverständlich. Und wenn er in den Tod ging – sie würden mitgehen. Er war der Meister. Sie waren der Sauhaufen.

 

Am Tag vor der Therapie traf ich sie an einem Lagerfeuer. Sie waren hochnervös. Über allem lag ein Gebirge der Angst. Kaum jemand sagte was. Sie überprüften dauernd ihre Waffen, ließen sich Patronen klackernd durch die Finger gleiten und stierten ziemlich viel ins Leere.

Schweigen.

 

Ich setzte mich zu ihnen. Ich sagte auch nichts. Ich ließ mir die eine oder andere Waffe geben und schaute mir das an. Ich kämpfe immer ohne Waffen. Ich habe von diesem ganzen Schießkram keine Ahnung. Aber diese schweren Patronen und diese Gewehre fühlten sich ganz gut an. Ich gab sie ihnen zurück. Sie waren der Sauhaufen, nicht ich.

 

In der nächsten Therapieliegung fanden wir nach wenigen Minuten die vierte Tür. Ich zog meine Leute zusammen:

„Ok, ich reiß jetzt diese Tür auf. Zwei von euch sichern die Tür, damit sie nicht wieder zufällt. Da drin wird es vermutlich erst mal vollkommen finster sein. Es kann Wochen dauern, bis wir wirklich was sehen. Aber der Feind ist da drin, und er wartet auf uns.“

Meine Leibgarde nickte.

Ich fuhr mit meiner Instruktion fort:

„Ok. Zwei sichern die Tür. Ich geh als erster rein. Drei von euch direkt hinter mir. Drei gehen links hinter mir rein und sichern den Keller nach links. Vier von euch nach rechts. Ihr sichert den Keller nach rechts. Ich bin sehr sicher, dass der Feind direkt vor uns ist. Aber gebt acht – der Drahtzieher stand die letzten Male hinten rechts. Alle anderen kommen dahinter und sind die Reserve. Verstanden?“

„Verstanden, Chef.“

(Der Sauhaufen nennt mich nur selten „Meister“. Die meisten von ihnen sagen einfach „Chef“. Chef ist für sie ein höherer (und greifbarerer) Rang als Meister).

„Also los!“

 

Ich riss die Tür auf und drang in das vollkommene Dunkel. Ich spürte wie drei vom Sauhaufen direkt hinter mir in das Dunkle drängten. Mir schlug sofort eine Welle von Todesangst und vernichtenden Schmerzen entgegen. Ja, das war der Keller. Ja, wir waren mitten drin in den zwanzig Minuten. Aber ich hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde. Nur nach vorne in das Dunkle, da musste irgendwo der kleine Junge sein, der ich mal gewesen war.

 

Hinter der vierten Tür wurde ich weiterhin vergewaltigt. Aber ich erlebte jetzt die deutlich schlimmeren Seiten der Vergewaltigung, vor allem diese durchdringenden Schmerzen, wenn sie dir diesen Riesenpenis tief in den Rachen oder von hinten tief in den Po bis in den Bauch hinauf rammen. Das zerreißt einen. Dazu kam die tödliche Scham, wenn sie danach über dir stehen, dich anschauen, wie du da nackt und geschunden liegst und Sperma und Blut überall aus dir herauslaufen. Scham kann töten. Und natürlich war da die allgegenwärtige Todesangst.

 

Mein Platz war bei diesem Jungen. Aber dring mal dazu durch, wenn du von Fluten der Angst, der Schmerzen und der Scham zurückgeworfen wirst. Und dann diese schrecklichen Fratzen der Täter. Und ihr viehisches Gelächter – wie Folterer immer lachen, wenn sie so froh sind, dass sie diesmal nicht Opfer, sondern Täter sind.

 

Mein Sauhaufen versagte fast völlig. Sie flohen in alle Richtungen. In all das Getöse schrie ich hinein:

„Ja, seid ihr nun Marines oder nicht?“

Dreimal sammelte ich sie, damit sie mit mir nach vorne stürmten und mir dabei Deckung gaben. Dreimal versagten ihre Nerven. Ich war ihnen nicht böse. Es gibt viele Menschen, die ganz fest davon überzeugt sind, dass sie kämpfen können und dann angesichts des eigentlichen Feindes völlig versagen. Wenn du noch nie gegen den Feind angetreten bist, dann weißt du nicht, was kämpfen ist. Du kannst es gar nicht wissen. Du glaubst vielleicht, dass du weißt, was kämpfen ist. Und deine Überzeugung ist felsenfest. Aber das ist auch schon alles.

 

 

******

 

Fortsetzung folgt

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