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Wenn du mit mir reden willst

-       Eine einfache Handanweisung für alle NTs, die mit mir reden wollen –

 

 

Wenn du mit mir reden willst, dann gilt grundsätzlich immer dieses:

 

1

Muss das gesagt werden?

 

2

Muss das Stiller gesagt werden?

 

3

Wie wird Stiller davon profitieren?

 

4

Könnte man das auch kürzer sagen?

 

 

Bitte denke immer daran, wenn du mit mir sprechen willst:

Ich bin nicht dein Seelenmülleimer. (Es sei denn, du bezahlst mich dafür. Dann bin ich aber nicht dein Seelenmülleimer, sondern dein Therapeut oder Coach). Ich weiß, dass NTs einander gegenseitig gerne als Seelenmülleimer benutzen. Ganz oft ist das ein unausgesprochener Vertrag zwischen den Menschen:

Ich nutze dich, und du nutzt mich.

 

Grundsätzlich ist überhaupt nichts dagegen zu sagen. Aber ich spiele in diesem Spiel nicht mit.

Warum spiele ich in diesem Spiel nicht mit?

Ich spiele in diesem Spiel nicht mit, weil es mir nichts bringt, wenn ich dir von meinen Sorgen, Nöten oder meinem was-auch-immer erzähle. Also tue ich es auch nicht. Daraus folgt notwendigerweise, dass du mich bitte auch nicht voltextest, jedenfalls nicht unentgeltlich.

 

Einschub

Dass es mir nichts bringt, wenn ich dir von dem erzähle, was mich belastet oder beschäftigt, bedeutet nicht, dass ich ein sozialer Isolani bin, der alles mit mir selbst ausmacht. Ich spreche sehr wohl mit Menschen über das, was mich belastet oder beschäftigt. Ich tue das oft und regelmäßig. Aber ich spreche dann mit Experten, die in ihrem Metier fundiert ausgebildet sind und in ihrem Beruf hervorragendes leisten. Um mich herum ist eine ganze Corona von Psychologen, Experten, Therapeuten und Professoren, an die ich mich mit meinen Problemstellungen wende. Aber ich bezahle sie dafür. Oder – falls ich das nicht tue – wir haben eine bewusste und klare Absprache, dass wir uns gegenseitig unterstützen.

 

Wenn ich mir meinen Fuß gebrochen habe, gehe ich damit nicht zu meinem besten Freund, sondern suche einen Arzt auf.

Wenn mich etwas belastet, beschäftigt oder bedrückt, gehe ich damit zu Menschen, die sich in diesem Bereich auskennen, dafür ausgebildet wurden und über solide Erfahrung verfügen.

 

Wenn ich mit anderen Menschen spreche, dann tue ich das nicht, um sozialen Kontakt herzustellen oder aufrecht zu erhalten. Ich spreche mit anderen Menschen, um Informationen auszutauschen oder Probleme zu lösen. Dafür kommst du nur in Betracht, wenn du weißt, was du da tust.

 

In ganz seltenen Fällen spreche ich mit Menschen, um ihnen nahe zu sein und mein Leben mit ihnen zu teilen. Aber wenn du als NT das hier liest, dann kannst du ziemlich sicher davon ausgehen, dass ich kein Interesse an sozialem Kontakt oder sozialem Austausch mit dir habe.

Einschub Ende 

 

Aber zurück zum Thema dieses Textes:

Du willst mit mir reden. Wie ist dabei vorzugehen? Was ist dabei zu beachten?

 

 

1

Muss das gesagt werden?

 

Wenn du ein NT bist, dann wirst du vermutlich bei ganz vielen Dingen, die du sagen willst, ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das gesagt werden muss. Du musst das sagen, sonst platzt du oder deine Haare fallen aus oder du bekommst Fußpilz.

 

Das ist vermutlich dein Empfinden. Aber das ist nicht objektiv so. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auf irgendeinem Totenschein steht:

„Todesursache: Erzwungenes Schweigen.“

 

Deshalb prüfe ganz ernsthaft:

Was passiert eigentlich, wenn du das nicht sagst? Wenn du es nicht jetzt sagst, sondern später? Oder vielleicht sogar gar nicht? Geht dann die Welt unter? Stirbt irgendwo im Südpazifik ein kleiner Babydelfin?

 

Um der Wahrheit Ehre zu geben:

Wenn du das nicht sagst oder später sagst, wirst du mit dir selber konfrontiert. Vermutlich ist das eher unangenehm für dich. Aber dafür kann ich ja nichts. Wenn du es nicht jemand anderem erzählen kannst, dann musst du es dir selbererzählen oder deinem Tagebuch anvertrauen. Ist das so schlimm? Bist du ein so schlechter Zuhörer, dass du dir nicht mal selber was erzählen kannst? Bist du so langweilig, dass du dich beim Selbstgespräch derart anödest, dass du dir nur mit äußerster Mühe zuhören kannst?

 

Nochmal:

Dafür, dass du dich selbst nicht magst und dir selber nicht zuhören kannst, kann ich auch nichts. Und es wird auch nicht besser, wenn du mir erzählst, was du eigentlich dir erzählen solltest. Im Gegenteil: Wenn ich dir zur Verfügung stehe, dass du deinen ganzen Seelenmüll bei mir abladen kannst, nehme ich dir vermutlich eine wichtige Chance zu heilen und zu wachsen.

 

Prüfe also in einem ersten Schritt ganz ernsthaft, ob das, was du sagen willst, gesagt werden muss.

Prüfe, was tatsächlich geschieht, wenn du es nicht sagst und zum Beispiel nur aufschreibst.

 

NTs in meinen Seminaren sind regelmäßig entsetzt bis zum Haarspitzenkatarrh, wenn ich ihnen berichte, was die Frau, mit der der ich de jure verheiratet bin, in unserer Ehe alles erdulden muss. Oft genug fängt sie mich bereits an der Wohnungstür ab, wenn ich von der Arbeit heimkomme und will mich volltexten. Dafür stehe ich aber nicht zur Verfügung, und sie weiß das auch. Ich sage ihr dann immer dasselbe:

„Schreib‘ all deine Themen auf einen Zettel und leg’s mir auf den Schreibtisch. Ich guck’s mir nachher an.“

Wenn ich sowas tue, dreht die Erde sich trotzdem weiter, und die Sonne geht am nächsten Tag nicht eine Sekunde später auf. Manchmal will die Frau, mit der ich jure verheiratet bin, das nicht so recht glauben. Aber ich habe es überprüft – es ist so.

 

Wenn ich mir den Zettel dann angeschaut habe und mir meine Gedanken dazu gemacht habe, dann können wir gerne darüber sprechen.

 

 

2

Muss das Stiller gesagt werden?

 

Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie viele NTs mit mir reden wollen. Das nimmt oft gar kein Ende. Werden sie meiner ansichtig, entsteht bei ihnen Redebedarf. Oder präziser ausgedrückt: Ihr permanent überbordender Redebedarf kristallisiert sich aus, wenn sie mich sehen. Sie sind dann – bildlich gesprochen - wie eine gigantische Wolke von hochverdichtetem Wasserdampf. (Der Wasserdampf symbolisiert hier den Redebedarf). Und ich bin das Staubkorn, das in diese Wolke eindringt und dazu führt, dass dieser Wasserdampf auskristallisiert und abregnet. – Zehnstündiger Landregen. Sie reden, und sie reden, und sie reden, und sie reden, und sie reden und sie reden.

 

Ich werde auch im Supermarkt, auf Bahnhöfen oder in Fußgängerzonen von Menschen angesprochen, die ich noch nie gesehen habe. Und bitte: Meist bin ich komplett in schwarz gekleidet (bis auf die Schuhe) und trage eine sehr starke Sonnenbrille. Ich gucke so abweisend, wie ich kann. Aber offenbar trage ich eine Art Leuchtschild um den Hals:

„Mit diesem Mann können Sie reden.“

 

Wenn ich Menschen häufiger zuhöre, dann stelle ich oft dieses fest: Sie reden immer dasselbe. Sie drehen sich permanent im Kreis mit dem, was sie da reden. Sie können mir eine Geschichte zehnmal erzählt haben – das hindert sie nicht, sie mir auch ein elftes Mal zu erzählen. Und das ist ein ganz klares Zeichen dafür, dass sie sich selber nicht zuhören. Meine Erfahrung ist diese: Wenn du dir eine Geschichte selber erzählst und dir wirklich zuhörst, dann reicht es fast immer, wenn du sie dir einmal erzählst.

 

Und auch hier sage ich:

Erzähl’s jemand anderem – warum ausgerechnet mir?

 

Nehmen wir die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Die hat ihre Freundinnen, ihr Kaffeeschwestern, ihre Frisörin, die Nachbarinnen, die Frauen aus irgendwelchen Kirchengemeinden und so weiter. Ganz viele NTs mit ganz vielen sozialen Austauschbedürfnissen. Man sollte meinen, dass diese NTs ihre sozialen Austauschbedürfnisse untereinander kompensieren könnten.

 

Können sie aber nicht.

Und mir ist bislang nicht klar, warum das so ist.

Als meine beiden Töchter noch Kinder und Jugendliche waren, waren wir oft zu viert daheim. Und anstatt sich untereinander zu unterhalten kamen sie nacheinander alle zu mir. Oft war ich den ganzen Tag damit beschäftigt, mir anzuhören, was sie auf dem Herzen hatten. Wenn die eine fertig war, kam garantiert die nächste. Und dann wieder die nächste und dann wieder die nächste.

Wie gesagt – bislang kann ich’s mir nicht erklären.

 

Aber dieser Text soll ja eine Handanweisung sein für NTs, die mit mir reden wollen.

Deshalb:

Wenn du geprüft hast, ob (1) das, was du sagen willst, wirklich gesagt werden muss, dann (2) prüfe bitte in einem nächsten Schritt, ob es ausgerechnet mir gesagt werden muss. Kannst du es nicht jemand anderem sagen? Wenn du NT bist, hast du doch sicher eine Fülle anderer Kontakte, an die du dich wenden kannst. Du redest ja nicht mit mir, um mich zu informieren, sondern um irgendwas loszuwerden. Es ist ja in Ordnung, wenn du irgendwas loswerden willst. Aber warum ausgerechnet bei mir?

Oder du redest mit mir, um sozialen Kontakt aufzubauen und zu halten. Hör mal, ich bin Autist. Aus welchen Gründen sollte ich daran interessiert sein, mit dir sozialen Kontakt aufzubauen oder zu halten?

Mein psychisches Grundbedürfnis ist, in Ruhe gelassen zu werden.

 

Also:

Prüfe bitte:

Was passiert, wenn du es jemand anderem erzählst?

Welcher Schaden entsteht dann dir oder jemand anderem?

 

Herzliche Bitte:

Wenn es irgend geht, dann texte jemand anderen voll.

 

Und prüfe bitte auch dieses:

Wann muss es mir gesagt werden?

Jetzt sofort oder ginge das auch zu einem anderen Zeitpunkt?

 

 

3

Wie wird Stiller davon profitieren?

 

Wie oben beschrieben:

Wenn ich dir was erzähle, dann habe ich davon nichts. Also lasse ich es. Wenn du mit mir reden willst, handelt es sich also nicht um ein faires Austauschgeschäft auf Gegenseitigkeit, sondern du willst einseitig irgendwas von mir.

 

Was kriege ich dafür?

Was habe ich davon, dass ich dir zuhöre?

Warum sollte ich das tun?

 

Natürlich kannst du agieren wie die Mafia. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, nimmt sich jedenfalls gerne die Mafia als Vorbild.

Die Mafia sagt: Gib mir Schutzgeld und ich zünde dein Auto nicht an. Das hört sich im ersten Moment vielleicht nach einem fairen Austauschgeschäft auf Gegenseitigkeit an, ist es aber nicht.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kommt gerne mafiös daher:

„Hör mir zu, dann gibt’s auch keinen Beziehungsstress.“

Das kann man so machen, keine Frage.

Meines Wissens nennt sich die Mafia selber die „ehrenwerte Gesellschaft“. Und dass ihr Geschäftsmodell weltweit überaus erfolgreich ist, kann man sicher nicht bestreiten.

 

Aber mal ganz ernsthaft:

Willst du auf diese Weise eine Beziehung gestalten?

Willst du durch Drohung und Erpressung erreichen, dass ich dir zuhöre?

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hat in dieser Hinsicht sehr klare Ansichten und felsenfeste Prinzipien.

Aber was ist mit dir?

 

Kommen wir zurück zum Punkt:

Ich höre dir also zu. Was bekomme ich dafür von dir?

Wenn ich von dir nichts bekomme, dann betreibst du Ausbeutung mit mir. Und ich bin sehr sicher, dass du das nicht willst. (Du bist ja nicht die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin).

 

 

4

Könnte man das auch kürzer sagen?

 

Ich hatte gestern einen recht typischen Dialog mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Ich arbeitete etwas an meinem Schreibtisch, und sie kam auf mich zu:

 

Frau: „Ich muss nachher noch einkaufen.“

Stiller: (schweigt)

Frau: „Uns fehlt noch Milch … und Brot könnten wir auch brauchen.“

Stiller: „Was willst du von mir?“

Frau: „Dann muss ich noch das Altpapier runterbringen und Sachen zu [Name ihrer demenzkranken Stiefmutter] bringen.“

Stiller: „Was willst du von mir?“

Frau: „Die Kinder kommen ja nachher, und ich weiß noch nicht, wann [Name unserer älteren Tochter] landen wird.“

Stiller: „Was willst du von mir?“

Frau: „Erst hat sie geschrieben, dass ihr Flieger gegen Mittag landet, aber jetzt hat sie mir eine Nachricht geschickt, dass es doch später wird.“

Stiller: „Was willst du von mir?“

Frau: „Ich fühle mich zur Zeit überlastet. Kannst du mich unterstützen?“

Stiller: „Was soll ich tun?“

 

 

Ich habe den Eindruck, dass die allermeisten NTs so reden:

Sie plappern munter drauflos und lassen mich ihre Gedanken ordnen bzw. herausfinden, worum’s überhaupt geht. Diszipliniertes Denken und Sprechen erlebe ich bei NTs nur sehr selten.

 

Deshalb:

Wenn du mit mir reden willst und geprüft hast, ob (1) das überhaupt gesagt werden muss, ob (2) es mir gesagt werden muss, und (3) wie ich davon profitieren werde, dass du es mir sagst, dann (4) komm bitte sofort zum Punkt und drück‘ dich knapp und präzise aus.

 

Oder anders ausgedrückt:

Laber nicht drumrum. Sag‘, was Sache ist. Überleg‘ dir, was du eigentlich von mir willst, bevor du anfängst zu reden. Und wenn du es mir dann mitteilst, dann wiederhole dich nicht und gib mir keine Details, Begründungen oder Erklärungen, es sei denn, ich frage ausdrücklich danach.

 

Halte dich kurz. Dass du reden kannst, das weiß ich schon, du musst es mir nicht beweisen.

Und wenn du redest, sei dir bewusst, dass dein Reden für mich nicht Gottes Geschenk an die Menschheit ist.

 

Und wenn du dann geredet hast, dann sei bitte wieder still.

 

Du siehst also:

Ganz einfach.

Es ist gar nicht so kompliziert, so mit mir zu reden, dass ein fairer Austausch auf Gegenseitigkeit entsteht. Vier simple Schritte. Ganz einfach.

Außer natürlich, du bist NT.

Dann liest du all das, was ich hier schreibe, verstehst auch jedes Wort, aber du hältst dich nicht dran. Du setzt nichts davon um. Das liegt daran, dass du es gar nicht kannst. Wenn du NT bist, dann musst du mich emotional und sozial ausbeuten, wenn du mit mir redest. Denn du leidest am Neurotypischen Syndrom. Du kennst es nicht anders und du kannst es nicht anders.

 

Aber damit müssen wir wohl alle leben. Du hast dir dein Neurotypisches Syndrom genausowenig ausgesucht wie ich mir meinen Autismus.

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