Lerne zu klagen, ohne zu leiden

Beruflich kann ich nur eins: Vollgas! Ich hab‘ anderes versucht – nicht so viel zu arbeiten bzw. wenn ich arbeite, nicht immer mit Vollgas zu arbeiten. Dabei habe ich gelernt, dass ich das nicht kann. Ich bin bei der Arbeit von sehr vielen NTs umgeben, die sich ausgesprochen zurückhaltend Aufgaben nähern, die ihnen zugewiesen wurden. Sich selber Aufgaben zu suchen kommt ihnen schon gar nicht in den Sinn. Wenn sie dann arbeiten, dann nicht unbedingt widerwillig, aber ich erlebe sie meist in einer ziemlichen Schonhaltung. Zügig und effizient geht anders.

 

Ich habe versucht, mir von diesen NTs was abzugucken. Es ist mir nicht gelungen. Ich kann bei der Arbeit nur Vollgas. In meinem Arbeitsvertrag steht irgendwas von 38 oder 39 Stunden, die ich in der Woche arbeiten soll. Jahrzehntelang ging bei mir unter 60 Stunden überhaupt nichts. Als meine Töchter noch klein waren, habe ich jahrelang nachts heimlich gearbeitet. Ich bin um 02:00 aufgestanden, habe bis 04:00 oder 04:30 gearbeitet und mich dann wieder hingelegt. Anders hätte ich mein Pensum nicht geschafft. Ich hatte damals Chefs, die genauso bekloppt waren wie ich. Wenn ich denen um 02:00 eine Mail schrieb, dann hatte ich spätestens um 04:00 eine Antwort.

 

Oder als ich in einem gigantischen Projekt meinen fachlichen Vorgesetzten anrief. Das war gegen 22:00. Ich brauchte dringend eine Entscheidung von ihm. Er ging ans Handy, sagte seinen Namen, und dann hörte ich ihn nur heftig keuchen. Und wohlgemerkt – ich hatte nicht versehentlich eine Selbsthilfegruppe der anonymen Telefonbelästiger angerufen. Ich war verdutzt, aber dann ließ ich meine Kleinen nach vorne. Und so begann dieses Telefonat:

Ich rufe an.

Chef: „Hallo, [Name], keuch, keuch, keuch!“

Stiller (schweigt erst mal verdutzt. Guckt auf sein Handy, ob er die richtige Nummer gewählt hat. (Hat er)).

Chef: „Keuch, keuch, keuch!“

Stiller: „Hier ist der Stiller. Was machst du grade? Liegst du auf deiner Alten?“

Chef: „Nee, keuch, keuch, ich bin auf Malle, keuch …“

Stiller: „Mallorca? Was machste denn da?“

Chef: „Ich trainier hier keuch, keuch, Triathlon. Grad, keuch, is‘ Marathon.“

 

Der war also mitten in der Nacht bei seinem Triathlontraining, hatte aber sein Handy dabei, um beruflich erreichbar zu sein. Wie ich schon sagte: Wir waren alle bekloppt.

 

Ich habe in all diesen Jahren in meinem Beruf manches gelernt – wichtiges und unwichtiges. Eines der wichtigsten Naturgesetze, das ich bei meiner Arbeit gelernt habe, ist dieses:

Die einzige Belohnung, die du von deinem Arbeitgeber für gute Leistung bekommst, ist … noch mehr Arbeit. Sonst nichts. Je schneller und besser du deine Arbeit tust, desto schneller und besser bekommst du mehr und schwierigere Arbeit.

Und wenn dir an der Arbeitsstelle erst mal der Ruf vorauseilt, dass du Probleme löst und dass du ein Händchen für Probleme hast, an die sich andere eher nicht so rantrauen … ja, dann kann das schon schwierig werden für dich. Unsereins arbeitet ja, bis er umfällt, vorher hört er nicht auf. Hoffentlich gehst du in deiner Arbeit auf. Denn Kompensation für deine zusätzliche Leistung bekommst du nicht.

 

Zeit für ein Zwischenfazit:

Ich kann bei der Arbeit nur Vollgas. Ich beneide die Kollegen, die die Dinge deutlich geruhsamer angehen als ich. Ich versuche, von ihnen zu lernen, aber das gelingt mir nicht.

 

 

Aber mittlerweile bin ich in einem Alter angekommen, in dem der Körper nicht mehr verzeiht. In ein paar Jahren werde ich 60. Früher war das für mich steinalt. 60, das war irgendwas zwischen scheintot und vermodert. Heute nehme ich das eher achselzuckend zur Kenntnis. Als meine Töchter klein waren, war ich kräftemäßig so völlig durch, dass ich bei Seminaren und Workshops in der Vorstellungsrunde immer sagte:

„Wenn man so alt ist, wie man sich fühlt, dann bin ich jetzt 88.“

Meine Töchter hatten die Gabe, auch noch das letzte Quantum Energie aus mir rauszuziehen. Und ich gab es ihnen gerne. Nur war ich dann eben völlig platt – chronisch.

 

Heute sind meine Töchter volljährig und aus dem Haus, und ich fühle mich nicht mehr wie 88, sondern bedeutend jünger. Aber mein Körper verzeiht mir meine Eskapaden nicht mehr. Wenn ich mehr tue als gut ist, bekomme ich von ihm die Gelbe Karte.

 

Aber was soll ich denn tun? Ich kann bei der Arbeit nur Vollgas!

Und das hat sich in den letzten Jahren zunehmend zum Problem bei mir entwickelt. Denn ich bin körperlich deutlich weniger leistungsfähig als früher. Ich halte keine 60-Stunden-Wochen mehr durch. Und das will bei mir wirklich was heißen. Es geht nicht mehr. Wenn ich heute eine 60-Stunden-Woche hinlege, kannst du mich danach zusammenfalten und in die Ecke stellen. Dann muss ich mich erst mal eine Woche erholen.

 

Im letzten Jahrzehnt habe ich einige Wege kennengelernt, die für mich bei der Arbeit gangbar sind, trotz meiner Unfähigkeit ein anderes Tempo zu gehen als Vollgas.

 

Zuerst habe ich alle Aufgaben abgegeben, die international waren. Das waren Zusatzbelastungen gewesen, die ich übernommen hatte, weil das so spannend war. – Schluss damit – ich arbeite nur noch national. Ich kam von 80 Stunden in der Woche runter auf 60 Stunden.

 

Dann habe ich sämtliche Projekte abgegeben. Wenn ich heute in Projekten arbeite, dann fast immer nur als Mitarbeiter und nicht leitend. Ich arbeite also in meinem Kernbereich (Seminare, Workshops und Coachings) und nur ab und zu in Projekten. So kam ich von 60 Stunden in der Woche runter auf 50 – immer noch zuviel.

 

Dann habe ich gelernt, das Chaos zu nutzen, das bei meinem Arbeitgeber chronisch ist:

Ich bin regelmäßig in drei oder vier Bereichen gleichzeitig beschäftigt – das komplette Durcheinander. Das wird alles über meinen Chef kanalisiert und koordiniert. Er ruft mich an: „Stiller, ich hätte da eine Aufgabe für dich.“ Und dann höre ich, dass irgendein Bereich meine Dienstleistung will – Seminare, Coachings, strategische Workshops, Teamentwicklung, Konfliktmanagement, Vorträge … was auch immer. Ich halte Rücksprache mit dem auftraggebenden Bereich und vereinbare, was zu tun und zu liefern ist. Dann gebe ich meinem Chef die Rückmeldung, dass ich den Auftrag angenommen habe. So laufen bei meiner Arbeit immer drei bis vier Sachen parallel. Und nehmen wir an (in Wirklichkeit ist das noch weit komplizierter), ich hätte da also die vier Bereiche A, B, C und D, die gerade meine Dienstleistung beanspruchen, und ich hätte meinen Chef, an den ich berichte. Nehmen wir weiterhin an, der Bereich A hätte es unheimlich eilig. Dann sage ich ihm:

„Du, das würde ich gerne tun, aber B, C und D zerren auch gerade an mir, und meinen Chef habe ich auch schon wieder auf der Rückrufliste – tut mir leid, geht gerade nicht schneller. Ich bin dran an der Sache, aber schneller geht auf gar keinen Fall. Bin ausgelastet.“

Dann ruft der Bereich B an und will was von mir. Dem erzähle ich, dass die drei anderen Bereiche gerade unheimlich an mir zerren, und dass ich wirklich tue, was ich kann … und so weiter.

 

So erhalten alle von mir das Bild, dass ich chronisch überlastet bin. Wie früher auch sende ich Mails mitten in der Nacht oder spreche den Menschen um 05:00 was auf die Voice-Mail. Das macht einen guten, beschäftigten Eindruck.

Aber tatsächlich geht mir die Arbeit oft so schnell von der Hand, dass ich ganze Tage frei habe. Tage, an denen ich tun kann, was ich will, weil jeder, auf den es ankommt, den Eindruck hat, dass ich fürchterlich beschäftigt bin und sich hüten wird, irgendwas zusätzliches von mir zu wollen.

 

Es ist wie beim Schach:

Es ist egal, wie gut oder schlecht du bist. Wichtig ist, dass der andere den Eindruck hat, dass er gegen dich keine Chance hat. Das ist beim Schach schwer zu erreichen, wenn du so schlecht spielst wie ich. Aber dieses Prinzip ist auf meine Arbeit anwendbar: Es ist egal wieviel oder wie wenig du tust, solange die Leute glauben, dass du schwerst beschäftigt bist.

 

Ich kann bei der Arbeit nur Vollgas. Das ist weiterhin so. Das wird vermutlich auch immer so bleiben. Aber ich kann mich mittlerweile ganze Tage rausnehmen aus der Arbeit, ohne dass es auffällt. Und diese Tage habe ich ganz dringend nötig, um mich zu erholen. Sonst schaffe ich es nie und nimmer, gesund bis ins Rentenalter zu kommen. Keine Chance.

 

Letztlich habe ich mir das von den NTs abgeguckt, die mich umgeben: Während ich dazu neige, anfallende Arbeiten zu erledigen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, sind etliche meiner Kollegen ihre eigene Marketingagentur – wo sie gehen und stehen: Jedem, absolut jedem erzählen sie, wie schwer sie es haben, was sie alles tun und was sie alles noch tun sollen und dass ihre Aufgaben so schwierig sind und dass sie das ganze Wochenende durchgearbeitet haben … und bla und blubb.

 

Ich habe solches Verhalten sehr oft erlebt, beobachtet und gemessen. Häufig kam ich zu diesem Befund:

„Wenn du die Zeit, die du mit Jammern und Lamentieren zubringst, in deine Arbeit investieren würdest, dann könntest du sie vergleichsweise mühelos erledigen.“

Arbeitgebern auf Kongressen habe ich zu dieser Thematik immer gesagt:

„Wenn Sie wollen, dass über die Arbeit geredet wird, dann geben Sie die Arbeit einem NT. Wenn Sie wollen, dass die Arbeit getan wird, dann nehmen Sie lieber gleich einen Autisten.“

 

Ich habe von diesen NTs gelernt:

Selbstmarketing ist Trumpf. Nicht die Güte und die Menge deiner Arbeitsergebnisse ist entscheidend, sondern den Eindruck, den andere von der Güte und der Menge haben. Also arbeite an diesem Eindruck und verkaufe deine Arbeit. Tue das ständig. Sei deine eigene Marketingagentur.

Und so mache ich das seit ein paar Jahren. Mein Chef wird von mir ungefragt auf dem Laufenden gehalten, was ich wieder für tolle Sachen in Arbeit habe (und wie fürchterlich viel da zu tun ist) und was ich wieder für tolle Rückmeldung bekommen habe. Das liegt mir zwar nicht. Aber wenn dadurch die freien Tage rausspringen, die ich unbedingt brauche, um es gesund ins Rentenalter zu schaffen – warum nicht?

 

Lerne, dich selbst zu vermarkten. Lerne zu klagen, ohne zu leiden. Die NTs tun’s ständig. Von ihnen zu lernen heißt (manchmal) siegen lernen. Ich bin noch nicht gut in diesen Dingen. Aber ich arbeite daran.

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Kommentare: 2
  • #1

    Peter (Sonntag, 11 Juli 2021 13:44)

    Ja, so ist es, das Prinzip der NT-Welt.
    Wenn du präzise und schnell arbeitest und ein anderer nachlässig und langsam, dann bist du faul und der andere fleissig. Erst recht, wenn der andere laut jammert. Zum Thema Jammern: Ist auch bei Schmerzen so. Wer nicht laut schreit, hat nach Interpretation der NTs keine Schmerzen.
    Weiteres schönes Beispiel vom Schach: Ich kenne eine Pfeife, die ich mit Zeitvorgabe 1 Minute gegen beliebig weghaue (bedeutet: für mich insgesamt 1 min, er ohne Zeitbeschränkung). Brütet oft 20 Minuten über Züge wie aus dem Schach ziehen, wo es nur eine einzige Möglichkeit gibt. Er hält sich aber gerade deshalb für den Denker und mich für den Zocker. Wer so schnell zieht ohne nachzudenken...Hohngelächter! Gewinnt zwar nicht 1 von 10 Partien, aber Hauptsache denkend und besonnen...

  • #2

    PolizistundAutist (Dienstag, 13 Juli 2021 23:55)

    Für diese Deine Erkenntnis habe ich fast dreißig Berufsjahre benötigt. Habe aber zuerst auch Deinen autistischen Weg der Aufgabenbewältigung genommen: Immer durch beständigen Fleiß und Perfektion überzeugt. Über die Jahre gesehen hat dies Andere langfristig überzeugt. Wurde zum gefragten Berater der Führenden. Habe aber irgendwann gemerkt, dass die, die laut trommeln konnten, mit weniger Energieaufwand die Hierarchiestufen schneller erklimmen konnten. Das Warum war mir lange ein Rätsel. Erst im reifen Alter habe ich gelernt, dass Tarnen, Tricksen und Täuschen effektive Mechanismen sind, um in unserer Situation den Broterwerb zu überleben. Erfolgreiche NT's wenden das Instrument des lauten, inhaltsleeren "Posaunens" anscheinend intuitiv erfolgreich an.
    Ich habe mich im Üben dieser Disziplin sehr schwer getan. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich alle Spielarten, da ja Jahrzehnte schon bei anderen studiert, in meinem Repertoire zur Verfügung hatte. Es bereitete anfangs Schmerzen, sie auch wider der eigenen Natur nachzuahmen. Merkte aber auch bald, dass ich mit dieser Spielart inzwischen besser und unentlarvbarer als alle meine NT-Vorbilder bin. Ich fühle mich nicht immer wohl dabei. Denke aber, das es zum Überleben immer wieder eine legitime Taktik sein darf.

    Mit verneigenden Grüßen