Abgrenzung und Rückzug

Ich habe immer wieder den Eindruck, dass Autisten, die psychotherapeutische Hilfe brauchen, darauf angewiesen sind, zu neurotypischen Therapeuten zu gehen. Das alleine scheint mir schon ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Wie soll sich denn ein NT in einen AS und in seine Situation einfühlen? Ich habe es noch nie erlebt, dass ich einem NT nicht buchstäblich alles über AS erklären musste, auch und gerade dann, wenn dieser NT unter seinesgleichen als ausgewiesener Experte in Sachen AS galt.

 

Darüber hinaus habe ich immer wieder den Eindruck, dass neurotypische Psychotherapeuten AS dazu drängen, stärker am sozialen Leben (unter NTs versteht sich) teilzunehmen. Frei nach dem Motto: Das, was NTs gut tut, das tut allen gut.

 

Mein Kenntnisstand ist dieser:

 

Natürlich wollen AS Teilhabe am sozialen Leben. Aber sie wollen diese Teilhabe so, dass es ihnen dabei gut geht. Wenn du als AS drei Stunden am sozialen Leben teilnimmst und dich dann einen ganzen Tag davon erholen musst, scheint mir hier ein Ungleichgewicht vorzuliegen.

 

Neurotypische Psychotherapeuten scheinen AS angesichts dieses Dilemmas (ich will Teilhabe am sozialen Leben, aber es macht mich fertig) immer wieder zu raten, sich stärker abzugrenzen und sich weniger zurückzuziehen. Dieser Gedanke hat etwas Überzeugendes. Aber nach meiner Erfahrung funktioniert das in der Realität nicht. Worum es geht, und warum das nicht funktioniert, will ich im folgenden zeigen.

 

Was ist der Unterschied zwischen Abgrenzung und Rückzug?

Wenn ich mich in sozialen Situationen von anderen abgrenze, dann tue ich genau das: Ich setze ihnen Grenzen, die sie nicht überschreiten dürfen. Wenn ich das höflich und wertschätzend mache, dann erleben die anderen das auch nicht als Affront, sondern respektieren meine Grenzen.

 

Die meisten NTs machen das so. Sie setzen sich gegenseitig Grenzen, die sie dann auch respektieren. Zum Beispiel

  • Du gehst nicht ungefragt an meine Sachen.
  • Du schlägst und beleidigst mich nicht.
  • Du hältst einen Mindestabstand zu mir ein, wenn du mit mir sprichst. (Meistens sind das ca. 50 cm).
  • Du wahrst die allgemeinen Höflichkeitsformen.
  • Und so weiter.

Das soziale Leben der NTs ist voll mit sozialer Abgrenzung, und im allgemeinen funktioniert das ganz hervorragend. Die NTs brauchen nicht viele Worte dafür. Die meisten dieser Grenzen sind kulturell vereinbart und für den Fall, dass sich jemand nicht an sie hält, wird er durch deutliche verbale und nonverbale Signale in seine Schranken verwiesen.

 

Das ist also soziale Abgrenzung: Wir setzen einander Grenzen, um ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Nähe und Distanz und um den Raum um uns herum zu schützen. Und nochmal: Unter NTs funktioniert das im allgemeinen ausgezeichnet und weitgehend mühelos.

 

Kommen wir zum Rückzug. Beim Rückzug ziehe ich mich zurück. Ich verteidige nicht den Raum um mich herum, sondern verschwinde einfach (oder tauche gar nicht erst auf). Für viele neurotypische Psychotherapeuten scheint das Feigheit vor dem Feind zu sein. Sie scheinen den Eindruck zu haben, dass sie den AS Mut, Tapferkeit und Abgrenzung in sozialen Situationen („Hold your ground!“) erst beibringen müssten. Und wenn die AS zu wenig selbstbewusst und selbstsicher sind, lassen sie sich auf dieses Spiel auch ein. Die Folgen sind genauso vorhersehbar wie fürchterlich.

 

Warum ziehen sich AS in sozialen Situationen zurück? Wenn sie das tun, verlieren sie oft den sozialen Kontakt, den sie brauchen, um sich wohl zu fühlen. Warum grenzen sich die AS in sozialen Situationen nicht einfach ab, so wie die NTs das auch tun? Wenn die AS lernen würden, sich in sozialen Situationen besser abzugrenzen, dann könnten sie in diesen sozialen Situationen auftanken und sich gleichzeitig vor Übergriffen schützen. Wir alle brauchen unsere Grenzen – AS wie NT. Der eine braucht weitere Grenzen (AS), der andere braucht nur recht enge Grenzen (NTs). Welchen Webfehler haben AS, welchen Denkfehler machen sie, dass sie sich in sozialen Situationen fluchtartig zurückziehen oder sich gleich ganz meiden und sich nicht einfach abgrenzen?

 

Tja.

Rätsel über Rätsel.

Fragen über Fragen.

Sie scheinen allesamt ziemlich gestört zu sein, diese AS. Wenn sie sozialen Kontakt wollen, dann dürfen sie sich nicht immer zurückziehen. Dann müssen sie lernen, sich sozial abzugrenzen – das tun die NTs schließlich auch. Jeder NT grenzt sich in jeder sozialen Situation gegen andere NTs ab. Das ist ganz einfach. Dafür braucht man nur ein bisschen Mut, Tapferkeit und Selbstbewusstsein.

Vermutlich sind die AS allesamt gestört und brauchen psychotherapeutische Hilfe.

Wie gut, dass es neurotypische Psychotherapeuten gibt, die ihnen das alles beibringen können.

(Dieser Abschnitt enthält viel Ironie, ich gebe es zu).

 

Gut.

Wie sieht das mit Abgrenzung und Rückzug aus meiner Sicht aus?

 

Ich sage:

Ja, die NTs grenzen sich in sozialen Situation untereinander ab. Sie tun das in buchstäblich jeder sozialen Situation, und es fällt ihnen auch fast immer leicht. Sie finden in diesen sozialen Situationen beinahe immer ein gut ausbalanciertes Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz. Auf diese Weise sind sie in der Lage, sozialen Kontakt zu haben, der aber nicht so überflutend und übergriffig wird, dass sie sich danach von diesem Kontakt erst stundenlang erholen müssten.

 

Warum gelingt AS das nicht?

Warum grenzen sich AS in sozialen Situationen mit NTs nicht einfach von ihnen so ab, dass die soziale Distanz entsteht, die sie brauchen.

 

Ich will es an meine neurotypischen Leser gerichtet ganz platt und hart ausdrücken:

Es funktioniert deshalb nicht, weil ihr euch beinahe nie an die Grenzen haltet, die wir euch setzen. In sozialen Situationen verletzt ihr unsere Grenzen andauernd. Da können wir uns abgrenzen so selbstbewusst und so tapfer, wie wir wollen. Ihr werdet immer übergriffig. Ihr werdet immer grenzverletzend. Das ist nicht so, weil ihr so schlechte oder so dumme Menschen seid, sondern weil ihr gar nicht anders könnt. Die Grenzen, die ein AS euch in sozialen Situationen setzt, dauerhaft einzuhalten, ist in eurem Verhaltensrepertoire einfach nicht drin.

 

Ich will euch mal ein paar meiner Lieblingsgrenzen auflisten. Wenn diese Grenzen in sozialen Situationen nicht eingehalten werden, dann wird die soziale Situation sofort sehr belastend für mich:

  • Wenn du mit mir sprichst, hältst du einen Abstand von mindestens 90 cm ein.
  • Auf gar keinen Fall berührst du mich, während wir sprechen. Ausnahme: Ich gestatte es ausdrücklich. Dann gilt diese Erlaubnis aber auch nur für diese Situation und für diesen Moment und nicht etwa auf ewig und überall.
  • Wenn du mit mir sprichst, schaust du mich dabei nicht an. Vor allem schaust du mir nicht in die Augen. (Es tut mir körperlich ziemlich weh, wenn du das tust. Und ich schlag‘ dich ja auch nicht andauernd, während wir uns unterhalten).
  • Wenn du mit mir sprichst, dann sprichst du leise. Du sprichst so laut, dass ich dich hören und verstehen kann, aber nicht die Leute, die fünf Meter weiter weg sind.
  • Wenn du ein paar Sätze gesagt hast, dann machst du unaufgefordert eine Pause mit dem Reden. Du redest also nicht einfach drauflos. Oft muss ich erst mal über das, was du gesagt hast, nachdenken, und dafür brauche ich eine Gesprächspause.
  • Wenn du mit dem Reden fertig bist, dann bist du wieder still. Kommunikation mit mir bedeutet, dass die Zeiten des Schweigens deutlich länger sind als die Zeiten des Redens.
  • Wenn du mit mir redest, bleibst du beim Thema. Du redest nicht einfach drauflos.

Das sind nur ein paar der Regeln, die mir im sozialen Kontakt sehr wichtig sind.

Und wenn du ein NT bist, weiß ich, dass du sie gar nicht einhalten kannst. Da kann ich mich von dir abgrenzen, soviel ich will.

 

Ein Beispiel:

Diese Situation habe ich mit NTs, die mich besser kennen schon zigmal erlebt:

Wir sind in einem Zweiergespräch. Der NT steht vor mir. Er spricht, ich höre zu. Dabei kommt er mir, ohne das zu merken immer näher. Ich strecke meinen rechten Arm aus und schiebe ihn an der Brust (wenn männlich) oder an der Schulter (wenn weiblich) wieder von mir weg. Dazu sage ich:

„Halt Abstand!“

Dann zieht sich der NT tatsächlich ein wenig zurück, nur um Sekunden später wieder näher zu kommen, ohne das zu merken. Der Abstand, den ich brauche, löst bei ihm intensives Unwohlsein aus. Je näher wir uns innerlich sind (zum Beispiel weil wir eine bestimmte Sache gleich sehen), desto näher will er mir kommen.

 

Und so geht das ständig:

Ich schiebe den NT von mir weg. Er geht für einen Moment auf Abstand, dann kommt er wieder näher. Dann schiebe ich ihn wieder zurück. Ihm wird bewusst, was er da gemacht hat, ihm ist das peinlich, und er murmelt eine Entschuldigung und geht wieder auf Abstand. Dann kommt er mir wieder näher. Und so weiter. Wenn mir das zu blöd wird, dann gehe ich in den Rückzug. Das geht so:

Er kommt mir ein paar Zentimeter näher, ich weiche ein paar Zentimeter zurück. Er kommt mir ein paar Zentimeter näher, ich weiche ein paar Zentimeter zurück. In Kongresshotels sind mir NTs auf diese Weise schon durch komplette Hallen gefolgt.

Früher dachte ich, dass die NTs blöd sind und nichts begreifen.

Heute sage ich:

Sie können gar nicht anders. Ihr Verhaltensrepertoire ist deutlich begrenzter als das eines durchschnittlichen AS.

 

Das gleiche gilt für den Augenkontakt. Bring mal einem durchschnittlichen NT bei, dir nicht ins Gesicht zu schauen, während er mit dir spricht – da bist du echt beschäftigt. Selbst, wenn die NTs wissen und es nachvollziehen können, dass es mir körperlich weh tut, wenn sie mich beim Sprechen angucken – mich beim Sprechen nicht anzuschauen fällt ihnen unheimlich schwer. Es fällt ihnen so schwer, dass sie sich auf das, was sie sagen wollen, gar nicht mehr konzentrieren können, weil sie all ihre kognitiven Ressourcen dafür verbrauchen, sich an diese einfache Regel zu halten.

 

Und wenn schon die Einhaltung einer einzigen schlichten und leicht verstehbaren sozialen Abgrenzungsregel (die für einen AS völlig selbstverständlich ist und keinerlei kognitive Ressourcen beansprucht) einen NT derart an den Rand seiner kognitiven Kapazitäten bringt, dass er ein Gespräch praktisch nicht mehr führen kann – wie soll es dann erst werden, wenn er fünf oder zehn dieser Abgrenzungsregeln gleichzeitig beachten soll?

 

Ich habe in meinem Leben also dieses gelernt: Wann immer ich mich bei NTs in sozialen Situationen abgrenze – sie können diese Grenzen nicht respektieren. Es geht nicht. Es ist nicht in ihrem Verhaltensrepertoire. (Natürlich könnten auch sie das lernen, aber das würde jahrelanges, sehr intensives Training bedeuten. Jeder AS lernt schon als ganz kleines Kind in einem jahrelangen, sehr harten Training, wie sozialer Kontakt mit NTs geht. Ein ähnliches Training müssten die NTs durchlaufen, um zu lernen, wie soziales Verhalten unter AS geht. Und ganz ehrlich – welcher NT setzt sich freiwillig einer solchen Tortur aus?)

 

Da ich mich von NTs in sozialen Situationen nicht so abgrenzen kann, dass mir der soziale Kontakt mit ihnen gut tut, bleibt mir also nur der Rückzug. Das ist keine Frage des Mutes, der Tapferkeit oder des Selbstbewusstseins. Und es geht auch nicht um Feigheit vor dem Feind, die auf irgendeine Weise von einem (natürlich neurotypischen) Psychotherapeuten bearbeitet werden müsste. Sondern es ist eine klare und logische Entscheidung, die auf nüchterner Analyse der Fakten basiert:

 

Es gibt keinen Weg, wie ich mich in sozialen Situationen von NTs so abgrenzen kann, dass mir der soziale Kontakt gut tut?

Nun gut, dann ziehe ich mich zurück, um mich selbst zu schützen.

 

Ich denke, dass jeder vernünftig agierende Mensch zum selben Schluss kommen würde.

Also muss ich andere Wege finden, wie ich meine Bedürfnisse nach sozialem Kontakt befriedigen kann. 

 

Wenn sozialer Kontakt für mich bedeutet, dass ich danach erst mal stark erholungsbedürftig oder sogar krank bin – das kann’s ja nun wirklich nicht sein. Das wäre so, als würde man mir ein leckeres Essen anbieten und danach müsste ich erst mal in die Klinik zum Magen auspumpen.

 

Liebe NTs, würdet ihr das tun – eine Einladung zu einem Essen annehmen, wo ihr sicher wisst, dass ihr danach krank sein werdet oder zumindest stundenlang starke Bauchschmerzen haben werdet? Würdet ihr in so einer Situation psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, um mit den Bauchschmerzen besser klar zu kommen, oder würdet ihr nicht doch eher darauf verzichten, das zu essen, so schwer euch das auch fallen mag?

 

 

 

Zusammenfassung

Liebe NTs, wir leiden nicht am Asperger-Syndrom.

Wir leiden an euch und eurer Art, in der Welt zu sein.

An euch und eurer Art, in der Welt zu sein, ist nichts schlechtes oder falsches. Gar nicht. Aber wichtig ist, dass euch dieses bewusst ist:

 

Wir Autisten sehen so aus wie ihr, aber wir sind nicht wie ihr. Wir sind anders. Wir sind grundlegend anders. Unsere Art, in der Welt zu sein unterscheidet sich deshalb grundlegend von eurer. Auch an unserer Art, in der Welt zu sein ist nichts schlechtes oder falsches. Wir AS sind nicht krank oder falsch oder gestört, sondern anders.

 

Unsere Art, in der Welt zu sein ist also grundlegend anders als eure. Deshalb müssen wir uns von euch stark abgrenzen, wenn wir auf sozialer Ebene mit euch zusammen sein wollen. Wenn diese Abgrenzung nicht gelingt, nehmen wir Schaden - körperlich und seelisch -, wenn wir länger mit euch zusammen sind. Da ihr diese Abgrenzung selbst für kurze Zeiträume weder respektieren noch leben könnt, können wir nicht für längere Zeit mit euch zusammen sein, ohne Schaden zu nehmen. NTs und AS können also nicht zusammenleben, sondern nur in Frieden und gegenseitiger Wertschätzung nebeneinander leben. Und da ihr so viele seid und wir nur so wenige, bedeutet das für uns:

 

Rückzug.

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