Ein langer Weg 11 – Die Zähne

Meine leiblichen Eltern waren nicht krankenversichert. Nach allem, was ich weiß, waren sie das, was man „beihilfeberechtigt“ nennt. Das bedeutet, dass der Dienstherr (Arbeitgeber) 70% der ambulanten Kosten (niedergelassene Ärzte) und 80% der stationären Kosten (Krankenhaus) erstattet.

 

Ich bin mir dessen nicht sicher. Aber ich folgere es aus den Umständen.

 

Viele Menschen sind beihilfeberechtigt. Vor allem Beamte und ihnen gleichgestellte Personen. Heute sind sie – meines Wissens – gesetzlich verpflichtet, die restlichen Kosten über eine private Zusatzversicherung abzudecken.

 

Meine leiblichen Eltern verzichteten auf solch eine Zusatzversicherung, um Geld zu sparen. Und dann setzten sie vier Kinder in die Welt – herzlichen Glückwunsch (Ironie).

 

Was ich also schon von Kindesbeinen an mitbekam, war, dass Arzt und Medizin sehr teuer waren. Und dass es tunlichst zu vermeiden war, krank zu werden oder gar einen Arzt zu brauchen. Denn wir hatten kein Geld. Wir waren arm. Ich kann mich an viele, viele Situationen erinnern, wo ich als Kind schwer geschlagen worden bin, weil ich krank geworden war. Aber bleib mal gesund als Kind in einer Wohnung, die keine Heizung (und auch keine Isolation) hat und wo im Winter durchgehend 13 °C bis 15 °C herrschen – monatelang.

 

Dazu kam, dass ich chronisch unterernährt war – es gab beinahe nie genug zu essen. Ich weiß nicht, wie oft ich mitangehört habe, wie Ärzte meiner leiblichen Mutter ins Gewissen geredet haben, mir entweder mehr zu Essen zu geben oder mich in eine Kur zu schicken. Sie – die Ärzte und die leibliche Mutter – sprachen über mich, während ich im Raum war. Für sie gab es mich gar nicht. Jedenfalls nicht als Menschen. Und dass ich hören konnte und alles mitbekam, was sie über mich sagten, kümmerte sie auch nicht.

 

Jedesmal, wenn das Gespräch auf Kur kam, geriet ich in Panik. Klar, sie würden mich irgendwohin schicken, wo sie mir die Hölle bereiten würden, wo sie mich zwangsernähren würden – und wer will das schon?

 

Aber da mein Körper immer deutliche Spuren von Misshandlung aufwies, lehnten meine leiblichen Eltern so ein Ansinnen jedesmal ab. In einer Kur hätte auffliegen können, was sie mit mir machten. Also bin ich nie in irgendeine Kur gekommen, um mich dort von irgendwem anderen misshandeln und foltern zu lassen.

 

Also:

Alles was mit Ärzten zu tun hatte, war so teuer, dass wir uns das nicht leisten konnten.

Das ging so weit, dass sich meine jüngere Schwester in der Schule den Arm brach, als sie zehn Jahre alt war. In der Schule kümmerte das keinen. Die betreffende Lehrerin gab später auf Befragen an, dass sie gesehen hatte, dass meine Schwester ihren Arm permanent in einer Schonhaltung hielt und weinte. Aber es hat sie natürlich nicht gekümmert. Als meine Schwester nach Hause kam, schaute sich mein leiblicher Vater das an und befand, dass der Arm nicht gebrochen war. (Er hat keinerlei medizinische Vorbildung). Und so lief meine jüngere Schwester eine knappe Woche mit einem gebrochenen Arm rum und konnte gucken, was sie mit ihren Schmerzen machte.

 

Und wichtig:

Das alles hat nie jemanden gekümmert – die Eltern nicht, die Lehrer nicht, die Nachbarn nicht etc. Ich habe das in diesem Blog schon an verschiedener Stelle geschildert:

Unsere leiblichen Eltern waren die Täter, keine Frage. Aber alle anderen Erwachsenen, die mit uns in Kontakt kamen, waren die Mittäter – Ärzte, Lehrer, Polizisten, Nachbarn … sie alle haben weggeguckt. Ohne jede Ausnahme. Niemanden hat es interessiert.

Das Terrorregime, das unsere leiblichen Eltern errichtet hatten und das sie unter aller Augen für fast zwei Jahrzehnte aufrecht erhielten, konnte nur deshalb Bestand haben, weil ausnahmslos alle mitgemacht haben. Es hätte nur eines einzigen aufrechten und tapferen Erwachsenen bedurft, um das alles zum Einsturz zu bringen. Dieser Mensch hätte dann vielleicht Fotos von uns gemacht und uns offen befragt, wie diese Spuren an unserem Körper entstanden waren, um das zu dokumentieren …

 

Dann wäre das alles aufgeflogen. Es wäre aufgeflogen, wenn es nur einen einzigen aufrechten und tapferen Erwachsenen gegeben hätte. Ein einziger hätte gereicht. Aber damals haben meine Geschwister und ich zu hunderten Gelegenheiten gelernt: Es gibt keine tapferen und aufrechten Erwachsenen. Nicht einen einzigen.

 

Heute will ich vor diesem Hintergrund schildern, welche Erfahrungen ich mit meinen Zähnen gemacht habe.

 

Ich ging in die erste oder zweite Klasse, als es auf einmal hieß, dass am nächsten Tag der Schulzahnarzt käme. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Mir erklärte beinahe nie jemand irgendwas.

Der Schulzahnarzt also.

Was immer das bedeuten mochte.

 

Wir wurden am nächsten Tag einzeln in einen Klassenraum geführt, in dem ein Arzt saß. Neben ihm stand eine Krankenschwester. Die Krankenschwester war beeindruckend unfreundlich und genauso hässlich. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Erst als ich zwei Jahre später an der innerdeutschen Grenze als Passagier der Deutschen Bundesbahn von irgendwelchen ausgewählt hässlichen und übellaunigen Matronen in fremdartigen Uniformen kontrolliert wurde, begegnete ich so einem Menschenschlag wieder.

 

Der Arzt befahl, dass ich den Mund aufmachen sollte.

Ich machte den Mund auf.

Der Arzt guckte mir in den Mund und sagte nur ein Wort:

„Schein!“

Dann war das nächste Kind dran.

 

Der weißgekleidete Drache, den der Arzt bei sich hatte, händigte mir einen kleinen weißen Zettel aus. Mit ein paar ausgesucht bösartigen Bemerkungen machte er mir klar, dass ich den daheim meinen Eltern auszuhändigen hätte.

 

Ich hatte keine Ahnung, worum es ging.

Aber irgendwann wurde mir von meinen leiblichen Eltern bedeutet, dass ich jetzt zum Zahnarzt müsste. Ich hätte schlechte Zähne und müsste damit zum Arzt. Was immer das auch bedeuten mochte.

 

Aus heutiger Perspektive kann ich dieses berichten:

Ausnahmslos alle meine Backenzähne waren schwer kariös. Meinen leiblichen Eltern gelang es, einen Zahnarzt aufzutreiben, der genauso sadistisch war wie sie. Ich hörte sie über diesen Arzt sagen, dass er ein Antroposoph sei und dass er der felsenfesten Überzeugung sei, dass jeder Schmerz eine bestimmte Bedeutung und Signalfunktion habe. Diese Bedeutung und diese Signalfunktion waren ganz, ganz wichtig für die gesunde seelische Entwicklung eines Menschen.

 

Mit anderen Worten:

Jeder meiner Backenzähne wurde gebohrt bis runter auf die Pulpa, also bis ganz kurz vor den Zahnnerv. Und das geschah alles ohne Schmerzmittel oder Betäubung.

 

Falls ihr diesen Schmerz nicht kennt – der Zahnarzt bohrt bei euch runter bis auf den Nerv ohne jede Betäubung: Ihr habt nichts verpasst. Falls ihr diesen Schmerz kennt – ich wünsche euch von Herzen, dass ihr irgendwann darüber hinwegkommt.

 

So ging das also viele Wochen – bestimmt ein halbes Jahr:

Einmal in der Woche durfte ich antreten, um mich auf einem Zahnarztstuhl foltern zu lassen. Mund auf, und dann dieses fürchterliche Geräusch, das ein Bohrer macht, wenn er in Betrieb genommen wird.

Ja, und dann kommen Schmerzen, die so intensiv und stark sind … ich bin als Kind in tausend Teilen davongeflogen auf diesem Zahnarztstuhl.

 

Um den Schmerz zu intensivieren ließ der Zahnarzt sich dieses einfallen:

Er bohrte mir so ein riesiges Loch in den Zahn und schickte mich damit nach Hause. Zugespachtelt wurde dieses Loch dann zum nächsten Termin.

Was er auch ausgesprochen gerne machte, war, in diesem ausgebohrten Zahn ausgiebig und intensiv mit seinem Pustedings rumzupusten. Das nahm gar kein Ende mehr. Wieder und wieder fing er damit an, und wir begriffen schon als Kind, dass das weit mehr Gepuste war, als eigentlich notwendig gewesen wäre.

 

Irgendwann kam der Zahnarzt mit was Neuem, und ich wurde mit Lachgas konfrontiert. Ich kann euch versichern:

Das hilft auch nichts. Wozu das gut ist, kann ich nicht sagen, aber gegen intensive Schmerzen hilft Lachgas genauso gut wie eine Scheibe Knäckebrot. Wir vermuteten, dass der Zahnarzt da was ausprobierte oder einfach zusätzliches Geld damit verdiente.

 

Der Effekt war, dass ich jetzt nicht nur phobisch auf den Geruch von Zahnarzt reagierte, sondern auch auf den Geruch von Lachgas. Herzlichen Glückwunsch (Ironie).

 

Dann mussten ein paar Zähne gezogen werden. Dafür sollte ich dann aber unter Vollnarkose gesetzt werden. Das letzte, woran ich mich erinnerte war, wie der Zahnarzt und der Anästhesist sich unterhielten:

Anästhesist (murkst mit der Spritze an meinem Arm rum und fragt sehr unsicher):

„Wie tief muss ich denn jetzt hier stechen?“

Zahnarzt (ungehalten und ziemlich ärgerlich): „Ja, das weiß ich doch nicht!“

Auch diesen beiden Männern war bewusst, dass ich hören konnte und dass ich jedes Wort verstand, das sie sagten. Aber für sie war ich kein Mensch. Für sie war ich ein Stück Holz.

 

 

So war das.

 

Bis ich mich als Student selbst krankenversicherte, war ich unversichert und musste auch als Jugendlicher bei jedem Zahnarztbesuch auf Schmerzmittel verzichten. Klar hätte ich Schmerzmittel bekommen können. Aber die hätte ich extra bezahlen müssen. Und wo hätte ich dieses Geld hernehmen sollen?

 

Ich habe also als Kind eine ausgewachsene Zahnarztphobie entwickelt.

 

Als ich 29 Jahre alt war, ließ ich mir in einer Hauruck-Aktion sämtliche Zähne sanieren. Ich musste dafür all meinen Mut und all meine Kraft zusammennehmen. Es war eine eindrückliche Erfahrung. Ich lernte dabei viel. Vor allem lernte ich, dass ich Phobien nicht frontal angehen darf. So viel Kraft und Energie hat kein Mensch.

 

Heute sage ich:

Mit dieser Zahnsanierung habe ich mich mehrfach in die Retraumatisierung geschickt. Ich habe mich in Situationen gebracht, wo zwar meine Zähne repariert wurden, wo ich aber meine traumatisieren Kleinen noch tiefer ins Dunkle gestoßen habe. Sowas werde ich nie wieder tun.

 

Ziemlich genau 20 Jahre lang ging ich dann nicht mehr zum Zahnarzt.

Ich hatte einige Lücken im Gebiss und hatte meinen Kleinen mein Wort gegeben, dass wir das beheben würden. Aber Implantate und Prothesen sind teuer. Und dann gab es da noch unsere ausgewachsene Phobie vor dem Zahnarzt. Nochmal würde ich meinen Kleinen nicht so eine Gewalt antun.

 

Und so kam es in diesen zwanzig Jahren sehr oft zu diesem kurzen Dialog zwischen meinen Kleinen und mir:

Kleine: „Wann (gehen wir zum Zahnarzt)?“

Großer: „Noch nicht.“

 

Da war dann natürlich immer Aufatmen bei meinen Kleinen. Aber auf der anderen Seite wollten auch sie schöne und gesunde Zähne haben. Sie sagten, dass sie ein Recht darauf hätten, und ich stimmte ihnen vorbehaltlos zu.

 

Aber erst musste ich all dieses Geld auftreiben - zigtausende Euro. Und ich musst mich behutsam den Kleinen nähern, die damals auf diesem Zahnarztstuhl in tausend Teilen davongeflogen waren.

 

Irgendwann hatte ich das Geld zusammen. Und die ganzen Vorgespräche mit meinen Kleinen waren geführt. Ich rief sie zusammen und sagte ihnen:

„Jetzt ist Tag X und Stunde null.“

Meine Kleinen kennen das schon. Wenn der Meister die Dinge an sich zieht und sie generalstabsmäßig plant, dann ist irgendwann immer „Tag X und Stunde null“. Und dann geht es los. Dann wird marschiert.

 

Wir suchten im Internet einen Zahnarzt. Meine Kleinen schauten mir dabei die ganze Zeit über die Schulter. Da wir die Fähigkeit haben, in Menschen hineinzusehen, hatten wir schon nach wenigen Minuten den, den wir suchten.

 

Wir vereinbarten einen Termin.

Wir gingen da hin.

 

Wir führten eine sehr lange Vorbesprechung mit diesem Zahnarzt, in der wir ihm unmissverständlich klar machten, was wir für eine Zahnvergangenheit hatten und was das für ihn und seine Arbeit bedeutete. Wir machten da keinerlei Kompromisse.

Und da dieser Zahnarzt der richtige war, verstand er. Und er ging ohne jedes wenn und aber auf unsere Forderungen ein.

 

Wir vereinbarten mit dem Zahnarzt dieses:

Wenn ich auf diesem Zahnarztstuhl liege und die Hand hebe, dann hört er augenblicklich mit dem auf, was er gerade tut, was immer es auch sei.

Wir probten das mit ihm ein paar Mal:

Wir legten uns auf den Zahnarztstuhl, er tat so, als würde er irgendwas mit irgendwelchen Bohrern oder Kratzern machen, wir hoben die Hand, und er hörte sofort auf damit.

 

Und selbstverständlich vereinbarten wir mit ihm, dass nicht ohne Schmerzmittel gebohrt wird.

 

Ein paar Tage später begannen wir mit der tatsächlichen Behandlung.

Meine Kleinen begannen, Vertrauen zu entwickeln.

Geräusch und Schmerz fingen an, sich zu entkoppeln. Früher hat das Geräusch eines Bohrers immer zu wirklich intensiven Schmerzen geführt. Zu intensiven Schmerzen, zu Trauma und zu Desintegration. Jetzt war da das Geräusch dieses Bohrers und danach kam … nichts! Keinerlei Schmerzen! Gar nichts! Ein Wunder!

Und dieses Wunder begann, sich zu verstetigen.

 

Es hat drei Jahre gedauert, die Zähne zu sanieren und all die Implantate und Prothesen zu produzieren und einzubauen. Aber nach diesen drei Jahren hatten wir zum ersten Mal in unserem Leben ein Gebiss und Zähne, an denen nichts mehr gemacht werden musste.

Und meine Kleinen schauten sich gegenseitig an und sagten das, was sie so häufig sagen:

„Der Papa hält seine Versprechen!“

 

Jahrzehntelang hatten sie gewartet.

Jahrzehntelang hatte es diesen kurzen Dialog gegeben – immer wieder:

„Wann?“

„Noch nicht.“

Und dann waren doch irgendwann – wie üblich – „Tag X und Stunde null“ gekommen.

Der Papa hält seine Versprechen.

 

Und es hatte immer zwei Hauptversprechen gegeben:

1.    Ihr bekommt neue Zähne.

2.    Er wird euch nie wieder weh tun.

Zusätzlich gab es dutzende Nebenversprechen.

 

Es hat immer funktioniert:

Wir hoben die Hand, und der Zahnarzt hörte auf. Wir hatten jederzeit die volle Kontrolle über die gesamte Behandlung. Wir hatten die Vereinbarung, dass er niemals etwas macht, ohne uns zu sagen, was er da macht. Er hat uns jedes Mal geduldig erklärt, was er da macht. Das ging so weit, dass wir ihn zur Physik befragten: Wie viele Umdrehungen macht dieser Bohrer? Wie wird er gekühlt? Oder als er anfing mit einem kleinen Schraubenschlüssel in unserem Mund rumzufuhrwerken: Wieviel Newtonmeter hat der?

 

Noch heute ist es so, dass wir nicht gerne zum Zahnarzt gehen.

Und wenn es irgendwo nach Zahnarzt riecht, flutet bei uns immer Panik hoch. Das wird uns vermutlich ein Leben lang begleiten. Aber ich nehme mich dann meiner ängstlichen Kleinen an, und wir gehen dann gemeinsam zum Zahnarzt. Sie sind immer bei mir und ich bin immer bei ihnen. Und ich als Großer sorge dafür, dass ihnen nichts geschieht, auf diesem Zahnarztstuhl, und dass der Arzt ihnen nicht weh tun kann.

 

Einzig den Schmerz im Zahnfleisch, wenn er eine Schmerzspritze dort ansetzt, den kann ich als Großer auch nicht verhindern.

 

Aber meine Kleinen sagen, dass sie damit leben können.

Kein Wunder – als Kind haben wir diesen Schmerz ja niemals erlebt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0