Interesse an mir – Lassen wir es lieber

Es ist jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert her. Ich hatte jahrelang überlegt, wie ich das, was ich erlebt hatte, in verständlicher Form ausdrücken konnte. Ich entschied mich, eine Geschichte zu erzählen. Und da ich recht fantasiebegabt bin, entwickelte sich da was. Ich setzte mich an meinen Rechner und begann, eine fantastische Geschichte zu schreiben. Ich schrieb und schrieb und schrieb. Monatelang. Jeden Tag. Als der erste Band fertig war (mehrere hundert Seiten), setzte ich mich direkt hin und schrieb den zweiten. Da steckte wirklich Herzblut drin (Sprachbild). So ungefähr sah es in mir aus, so ungefähr war mein Leben bislang verlaufen.

 

Meine damalige Freundin (heute die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin), wollte irgendwann wissen, was ich da die ganze Zeit tippte. Ich sagte es ihr:

„Ich schreib‘ da eine Geschichte.“

„Oh, du meinst einen Roman?“

„Nein, ich meine eine Geschichte. Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin Geschichtenerzähler.“

„Wo ist denn da der Unterschied?“

„Wie der Name schon sagt: Der Schriftsteller stellt Schrift, und der Geschichtenerzähler erzählt Geschichten.“

„Blödmann!“

 

Irgendwann wurde meine Freundin neugierig auf diese Geschichte. Ich druckte ihr die ersten fünfzig Seiten aus. Ein paar Wochen später gab sie mir das mit Randkommentaren versehen zurück. Ich schaute mir das an:

Sie hatte alle meine Rechtschreib- und Grammatikfehler korrigiert.

Sonst nichts.

Sie hat diese Geschichte seitdem nie wieder zum Thema gemacht.

 

Ich bin mit einer Frau de jure verheiratet, die sich nicht für mich interessiert. Sie hat sich nie für mich interessiert, und so wie’s aussieht, wird sie sich auch nie für mich interessieren. Das klingt für NTs vermutlich grauenhaft. Sehr wahrscheinlich wäre für sie so eine Erkenntnis sehr belastend oder gar das Ende der Beziehung.

Bei mir liegen die Dinge anders.

Warum liegen bei mir die Dinge anders?

 

Grundsätzlich gilt: Ich interessiere mich für mich. Und meistens reicht mir das vollkommen. Denn was wäre die Alternative?

Die Alternative wäre: Der andere interessiert sich auch noch für mich. Und wenn der andere ein NT ist, bedeutet das für mich in beinahe jedem Fall die Hölle.

Warum ist das so?

 

So ziemlich alle NTs, die ich bis jetzt erlebt habe, werden übergriffig und distanzlos bis zum Anschlag, wenn sie sich für jemanden interessieren.

Oder präziser:

Ich erlebe ihr Verhalten in so einem Fall als „übergriffig und distanzlos bis zum Anschlag“. Wie die NTs so ein Verhalten erleben, kann ich bislang nicht fallabschließend sagen. Ich habe dafür noch nicht genug Beobachtungen gemacht.

 

Das könnt ihr zum Beispiel bei Stars aus Musik und Film sehr schön beobachten:

Die NTs interessieren sich für sie und von Stund an wird das Leben dieser Stars zur Hölle. Sie können nicht mal mehr einkaufen oder zur Post gehen, ohne dass sie belästigt und behelligt werden.

 

Aber so sind die NTs nun mal – was sie „lieben“, das machen sie kaputt. Sie „lieben“ eine Landschaft? Also werden Hotels und Häuser in diese Landschaft gestellt, so dass von der Landschaft nicht mehr viel übrig bleibt. Sie „lieben“ eine Insel? Also wird diese Insel mit Touristen geflutet, dass von ihrem Charakter nichts mehr übrigbleibt und sie aussieht wie Los Angeles mit Strand. Sie „lieben“ eine mittelalterliche Stadt? Also wird diese Stadt mit Touristenattraktionen, Büdchen, Andenkenläden und Cafés überzogen, dass man denkt, man sei im Eingangsbereich von Disneyland. Sie „lieben“ Hunde? Also werden die Hunde so gezüchtet, dass sie nicht mehr ohne Unterstützung des Menschen überleben können. Sie „lieben“ Blumen? Also werden sie abgeschnitten und zum Sterben in eine Vase gestellt. Sie „lieben“ ihre Kinder? Also werden sie erzogen, sprich: Sie werden nach dem Bild geformt, das die Eltern von ihnen haben, denn aus den Kindern soll ja „was werden“. (Das aus den Kindern bitteschön nichts wird, außer sie selber, kommt solchen Eltern meistens nicht in den Sinn).

Und so weiter.

 

Das gilt sicher nicht so absolut und in jedem Fall, wie ich das hier beschreibe. Aber mir ist wichtig, dass diese Tendenz klar ist: Das, was die NTs als „Liebe“ bezeichnen, das erlebe ich sehr häufig als zerstörerisch. Was sie „lieben“, das machen sie kaputt. Sie können nicht anders. Und da ziehe ich es dann vor, von ihnen nicht „geliebt“ zu werden und dass man sich nicht für mich interessiert. Alles andere scheint mir nicht logisch zu sein.

 

In meinem Leben gibt es zwei NTs, die interessieren sich für mich, und ich erlebe das nicht als zerstörerisch. Beide erlebe ich als AS-kompatibel. Da lasse ich das auch zu. Der eine NT ist meine Psychotherapeutin. Sie interessiert sich wirklich für mich. Ich bin nicht irgendein „Fall“ für sie.

 

Aber …

 

Sie fragt mich nicht aus.

Sie lässt mich in Ruhe.

Sie rückt mir nicht auf die Pelle, sie bedrängt mich nicht.

Wenn ich distanziert bin, dann ist das völlig ok für sie.

Sie ist mit Kontaktangeboten sehr sparsam.

Und vielleicht am allerwichtigsten: Sie redet so gut wie gar nicht. Sie redet nur, wenn es absolut notwendig ist. Wir arbeiten jetzt im dritten Jahr zusammen. In dieser Zeit haben wir vielleicht fünf Sätze miteinander gewechselt, die ich als Smalltalk klassifizieren würde. Alle anderen Sätze waren notwendig für Informationsaustausch und Klärung.

 

Eine Begegnung zwischen uns beginnt so:

Ich klingle an der Praxistür. Sie kommt und öffnet schweigend die Praxistür oder sagt: „Hallo.“ Ich verneige mich schweigend. Sie zieht sich schweigend ins Innere der Praxis zurück und ist für mich nicht mehr zu sehen. Ich betrete die Praxisräume (sie hält sich derweil irgendwo außerhalb meiner Sicht auf und macht da irgendwas). Ich hänge meine Kleidung an die Garderobe und stelle meine Schuhe daneben. Dann stehe ich immer an der gleichen Stelle und mustere Wand oder Fußboden (oder den Baum, den ich durch’s Fenster sehe). Selbstverständlich schweige ich dabei.

Nach einer Weile kommt sie schweigend von hinten und geht genauso schweigend hinter mir vorbei in den Raum, wo die Therapie stattfinden wird. Sie macht da drin irgendwas. Ich stehe weiterhin an derselben Stelle und betrachte etwas. Dann höre ich ihre Stimme aus dem Therapieraum:

„Sooo - hereinspaziert.“

Sie sagt immer dasselbe.

Ich betrete schweigend den Therapieraum und bereite mich vor. Niemand sagt ein Wort, niemand nimmt mit Blicken irgendwelchen Kontakt auf. Es gibt nichts zu sagen, es gibt keinen Kontakt, der zum jetzigen Zeitpunkt aufzunehmen wäre. Wir sind beide da, und das reicht vollkommen.

 

Fast alle NTs, die ich kenne, werden ausgesprochen redselig, wenn sie sich für jemanden interessieren. Sie treffen sich mit diesem Menschen oder besuchen ihn daheim und dann wird geredet, geredet, geredet, geredet, geredet, geredet. Gerne bei einem Gläschen Wein, denn der Wein löst die Zunge, und dann wird noch mehr geredet. Und bei mir ist es so: Wenn ich nur einen einzigen Wunsch an die NTs richten dürfte, dann wäre es dieser:

„Sei still!“

Und so kommen wir nicht zusammen – die NTs, die sich für mich interessieren und ich.

 

Eine Philosophin, mit der ich lange zusammengearbeitet habe (NT), ist in den Ruhestand gegangen. Sie interessiert sich für mich. Sie hat mich gefragt, ob wir auch über ihren Ruhestand hinaus in Kontakt bleiben können. Da ich diese Frau sehr schätze und ihr Wissen und ihr Rat immer sehr wertvoll für mich waren, habe ich zugestimmt. Ich habe ihr aber mehrfach – über Monate – eingeschärft:

„Ich ertrage das nicht, wenn ich telefonieren muss. Wenn du Kontakt mit mir willst, dann schreib‘ mir eine Mail.“

Die Philosophin hat in den letzten Monaten dreimal Kontakt mit mir aufnehmen wollen. Jedes Mal hat sie mir auf die Voicemail (Anrufbeantworter) gesprochen. Sie wollte ganz offenbar reden.

Dann also nicht.

 

In den letzten Monaten haben mehrfach NTs Interesse an mir bekundet. Ich habe ihnen geschildert, wie introvertiert ich bin und dass sie mir gerne eine Mail schreiben können. Sie alle haben mir auf die Voicemail gesprochen.

Dann also nicht.

 

Wenn du dich für mich interessierst, und du willst reden – vergiss es. Vergiss es einfach. Dein Reden tötet mich (auf Raten). Wenn du mit mir redest, dann ist das so, als würdest du mir niedrig dosiertes Arsen verabreichen: Am Anfang macht das erst mal nichts. Aber auf die Dauer nehme ich ziemlichen Schaden. Und du redest und redest und redest und redest und redest und redest – und fühlst dich dabei sichtlich wohl. Denn du interessierst dich für mich.

Lassen wir es lieber.

Wenn wir in den Austausch gehen, und dabei ist das Resultat dieses:

a) dir geht es gut,

b) ich werde von dir vergiftet,

dann halte ich das nicht für fair. Und erstrebenswert ist es für mich auch nicht.

Lassen wir es lieber.

 

Wenn du dich für mich interessierst und du verhältst dich nicht wie ein AS oder zumindest wie jemand, der AS-kompatibel ist – wie soll mir das nicht schaden? Und was musst du für ein Mensch sein, dass du dich für mich interessierst und dabei billigend in Kauf nimmst, mir zu schaden?

Lassen wir es lieber.

Wenn ich eine Pflanze oder ein Tier wäre, dann wäre es mir auch eindeutig lieber, wenn du dich nicht für mich interessieren würdest.

 

 

 

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch der umgekehrte Fall wichtig:

Wie sieht das denn aus, wenn ich mich für jemanden interessiere. Auch das kommt vor. Fange ich dann das große Reden an?

 

Also zunächst mal schreiben wir uns Mails. Monatelang. Vielleicht jahrelang. Dann bitte ich um die Erlaubnis, dich „sehen“ zu dürfen. „Sehen“ heißt in diesem Zusammenhang, dass ich von meiner Fähigkeit Gebrauch mache, in dich hineinzuschauen. Wenn du mir diese Erlaubnis nicht gibst, dann lasse ich das sein. Dann sollten wir aber auch den Mailverkehr begrenzen. Denn wenn wir uns ein paar Monate geschrieben haben, dann bin ich in der Lage, deutlich mehr aus dem, was du schreibst, herauszulesen, als andere Menschen. Das, was du schreibst, löst Bilder in mir aus. Und diese Bilder haben sich noch nie geirrt.

 

Wenn ich von dir die Erlaubnis bekomme, dich zu „sehen“, dann ist es am ökonomischsten, wenn wir uns einmal treffen. Das meiste, was zu „sehen“ ist, sehe ich bei einer persönlichen Begegnung in den ersten Sekunden. Ich muss dann nicht mehr reden. Denn ich weiß. Und du darfst mich dann gerne alles fragen. Denn das ist nur fair: Ich kann „sehen“ und du nicht – also darfst du mich alles fragen, und ich werde antworten, damit du mehr von mir weißt. Falls du auch die Fähigkeit hast zu „sehen“ – umso besser. Dann müssen wir beide nicht mehr reden. Denn du hast ja mich „gesehen“.

 

Natürlich rede ich mit den Menschen, die in meinem Leben sind. Zum einen „sehe“ ich auch nicht alles, und zum anderen gibt es tatsächlich immer wieder was zu sagen. Es ist ja nicht so, dass ich das Leben eines Steins führe.

 

Aber wenn ich mit Menschen zusammen bin, für die ich mich interessiere, dann verhalte ich mich so, dass ich ihnen zumindest nicht schade.

 

 

Also, liebe NTs, interessiert euch für euresgleichen und „liebt“ einander, aber lasst mich dabei außen vor. Das ist nach Lage der Dinge besser für alle. Und falls ihr euch für mich interessiert: Lassen wir es lieber.

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Kommentare: 6
  • #1

    Hanspeter Fischer (Sonntag, 11 April 2021 20:56)

    Schreiben Sie, schreiben Sie, ja schreibe Sie... ich will lesen..

  • #2

    Stiller (Sonntag, 11 April 2021 23:18)

    Wir verneigen uns ...
    ... und schreiben.

  • #3

    Hanspeter Fischer (Montag, 12 April 2021 15:55)

    Wer ist "wir"?
    fragt auch meine Frau

  • #4

    Stiller (Montag, 12 April 2021 17:23)

    Die letzten beiden Zeilen aus
    "Ein langer Weg 03 - Ich bin viele" (05. November 2017):

    Also: Für die, für die ich mich habe verständlich ausdrücken können:
    Gestatten, Stiller. Ich bin viele.

  • #5

    Hanspeter Fischer (Dienstag, 13 April 2021 15:07)

    Lieber Herr Stilller.
    Lassen wir es lieber.
    Ich habe mich bis 70 mit dem Avatar bemüht, verständlich zu sein. UImsonst.

  • #6

    Peter (Sonntag, 18 April 2021 10:27)

    @Stiller:
    Volle Zustimmung zum Artikel. "Sehen" kann ich zwar nicht, aber dem mit dem Interesse sehe ich genauso.

    @Stiller und Hanspeter Fischer: Ehrlich gesagt, kapiere den Dialog nicht. Vielleicht auch nicht wichtig, ob ich das kapiere.