· 

Das Neurotypische Syndrom 25 - Heute denke ich nur an dich – Gemeinsame Flucht aus der Realität als Ersatz für Liebe

Am 21. März 2021 starb der Lyriker Adam Zagajewski. Das ging ziemlich durch die Medien. Er muss in seinem Metier wirklich bedeutsames geleistet haben. Ich kann dazu nichts sagen, denn ich weiß in Sachen Lyrik nicht Bescheid. Ich kenne keine Lyrik, die mich anspricht oder mir was bedeutet. Wenn ich in Buchhandlungen zu einem Lyrikband greife, dann blätter‘ und lese ich drin rum und stell’s dann wieder zurück ins Regal. Vermutlich bin ich den Lyrikern genauso fremd wie sie mir.

 

Einer von den Nachrufen auf Adam Zagajewski fiel mir auf. Und davon will ich heute schreiben. In der Online-Ausgabe der WELT schrieb ein Schriftsteller, den offenbar eine tiefe Freundschaft mit Adam Zagajewski verband, dieses über den Toten:

 

„Zu meinem Geburtstag im Dezember schrieb er mir, per E-Mail (ein gutes Beispiel, dass man auch mit E-Mails Wärme erzeugen kann):

„Heute denke ich nur an Dich – (…)““

 

Ich las das, und dachte:

Ja, so ist das. Mit E-Mails kann man vielleicht keine Wärme erzeugen, aber mit Sicherheit heiße Luft.

 

Was sind das für Menschen, die sich selbst als Intellektuelle bezeichnen und auf so einen Unsinn hereinfallen?! Was geht hier vor?!

Es ist ja nicht nur dieses „Heute denke ich nur an Dich.“

Da gibt’s ja hunderte Variationen, die NTs untereinander austauschen, wenn sie deutlich machen wollen, dass sie einander herzlich

zugetan sind.

  • „Das werde ich dir nie vergessen!“
  • „Ich schenk‘ dir mein Herz.“ 
  • „Ich liebe nur dich.“
  • Und so weiter – alles Einladungen zur gemeinsamen Flucht aus der Realität. Alles gesellschaftlich höchst anerkannte Zeichen der Liebe.

 

Wenn mir jemand in einer E-Mail schreiben würde:

„Heute denke ich nur an dich“, dann würde das in mir intensiven Widerwillen auslösen. Wenn ich überhaupt auf diese Mail reagieren würde, dann würde ich vermutlich in ironischem Ton zur Rückkehr in die Realität einladen:

„Ich hoffe, du denkst heute auch immer wieder daran, auf’s Klo zu gehen. Tycho Brahe ist an Harnverhaltung gestorben.“

 

Was soll dieser Quatsch?!

Wenn mir jemand scheiben würde, dass er an einem bestimmten Tag nur an mich denken würde, dann würden wir beide ganz genau wissen, dass das nicht stimmen kann. Dieser Satz „Heute denke ich nur an dich“, kann nur in einem ganz bestimmten und klar umgrenzten Fall wahr sein:

Nehmen wir an, dass dieser Mensch am 30. des Monats nur an mich denken will. Dann programmiert er am 29. eine komplizierte Apparatur, die ihn am 30. eine Sekunde nach 00:00 töten wird oder ihn zumindest in eine 24-stündige tiefe Bewusstlosigkeit schicken wird. Er steht am 30. um 00:00 auf, denkt an mich und stirbt (oder fällt für den Rest des Tages ins Koma).

Nur in diesem Fall kann dieser Satz wahr sein:

„Heute denke ich nur an dich“

In jedem anderen denkbaren Fall wird er im Verlauf des Tages an Millionen andere Sachen auch noch denken.

Wozu also so einen Unsinn schreiben?

 

Entscheidend scheint mir zu sein, dass der, an den diese Worte gerichtet waren, „Wärme“ spürte, als er diese E-Mail las. Und das scheint mir ausschlaggebend für die Art zu sein, in der NTs in der Welt sind:

Wenn ihnen danach ist, dann verlassen sie die Realität (ohne sich dessen bewusst zu sein), um sich wohl zu fühlen. Für sehr viele von ihnen scheint zu gelten:

Liebe bedeutet, dass wir gemeinsam die Realität verlassen.

 

Nehmen wir das Beispiel

„Das werde ich dir nie vergessen!“

Seit wann bestimmst du, was du vergisst oder nicht? Hast du mal längere Zeit mit Demenzkranken zugebracht? Hast du eigentlich eine Ahnung, was ein Mensch alles vergessen kann im Lauf seines Lebens? Wie willst du verhindern, dass du etwas vergisst? Das ist so, als würdest du dir fest vornehmen, heute Nacht von etwas ganz bestimmtem zu träumen.

Auch hier:

Die Realität wird eindeutig und absichtlich verlassen, um ein Gefühl des Wohlbefindens zu erreichen.

 

Anderes Beispiel:

„Ich schenk‘ dir mein Herz!“

Na, das ist mal eine galante Form, Suizid zu umschreiben. Glaubst du nicht, dass du dein Herz heute im Verlauf des Tages noch brauchen wirst? Und überhaupt – was soll ich damit anfangen? Ich habe selber ein Herz. Für zwei Herzen werde ich vermutlich – wenn überhaupt – erst im hohen Alter Bedarf haben. Wo soll ich dein Herz solange aufbewahren? Im Einmachglas?

 

Ich erlebe es oft, dass die NTs, denen ich begegne, deutlich weniger fantasiebegabt sind als ich. Wenn ich mir anhöre:

„Ich schenk‘ dir mein Herz!“,

dann löst das in mir ganze Kaskaden von Bildern aus, die sich alle damit beschäftigen, wie der Brustraum geöffnet wird und ein noch pumpendes Herz entnommen wird. So muss das bei den klassischen Mayas an hohen Feiertagen ausgesehen haben. In meiner Welt geht Liebe anders. In meiner Welt kann man sich bei den Worten, die man ausspricht, um dem anderen zu sagen, dass man ihn liebt, etwas denken, ohne dass einem dabei schlecht wird.

 

Für dich als NT mag diese Form der Realitätsflucht ein Zeichen der Liebe sein. Vermutlich erzeugt das bei dir auch „Wärme“. Bei mir nicht. Ich verzichte dankend.

Der Sänger Terence Trent D’Arby sang auf seinem Debutalbum:

„Sign your name across my heart” – Unterschreib mit deinem Namen auf meinem Herzen.

Ja, hast du eigentlich eine Ahnung, wie weh das tun muss, wenn jemand mit einem Kugelschreiber (dokumentenecht) auf deinem Herzen herumfuhrwerkt?! Oder findet das alles unter Vollnarkose statt?

NTs können schon recht merkwürdig sein.

 

Letztes Beispiel:

„Ich liebe nur dich.“

Ja, ganz offenbar hast du ein völlig anderes Verständnis von Liebe als ich. In meiner Welt musst du, um jemand anderen lieben zu können, zunächst mal dich selber lieben. Das ist die Grundvoraussetzung. In meiner Welt ist Fremdliebe ohne Eigenliebe völlig unmöglich.

Wenn du also nur mich liebst, dann löst das in mir starke Abwehrreflexe aus. Bitte geh weg und komm‘ erst wieder, wenn du gelernt hast, dich selber zu lieben – dann sehen wir weiter.

 

 

Zusammenfassung und Fazit

Für mich ist Liebe immer und unumstößlich gemeinsam geteilte Realität. Und wer etwas mehr von meinen Texten gelesen hat, wird eine Ahnung davon haben, wie ausgesprochen schwer es in meiner Welt sein kann, die Realität überhaupt wahrzunehmen. Mit anderen Worten:

 

Bei mir heißt Liebe: Lasse das Bild los, das du von der Realität hast und nimm die Realität wahr. (Das gehört für mich zum schwierigsten, was es überhaupt gibt).

Bei den meisten NTs scheint das genaue Gegenteil zu gelten (auch, wenn sie „Intellektuelle“ sind): Liebe bedeutet, gemeinsam die Realität zu verlassen (und dabei „Wärme“ zu empfinden).

 

Diese beiden Ansätze in der Welt zu sein und nach Liebe zu streben, scheinen mir vollkommen inkompatibel zu sein.

 

Und danke, liebe NTs:

Liebesersatz, der darin besteht, dass man gemeinsam die Realität verlässt, will ich nicht haben. Damit kann ich absolut nichts anfangen. Behaltet das für euch.

Ich will Liebe, die in Realität gründet. Und sowas zu finden und zu erreichen ist auch so schon schwierig genug. Dabei kann ich niemanden brauchen, der mich dadurch behindert, dass er mich einlädt, die Realität zu verlassen, um sich wohler zu fühlen.

 

Und natürlich dürft ihr für Liebe halten, was immer ihr wollt.

Ich mache euch da keinerlei Vorschriften.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0