Die Sprüche der Ahnungslosen 03 – Ich kenne das Leben

Mein erster Therapeut war 28 Jahre älter als ich. Arzt (mit riesiger Praxis), Unternehmer (zahlreiche Firmen), Erfolgsmensch und Macher durch und durch.

 

Als er Mitte 50 war, bereiste er mit TUI oder einer vergleichbaren Reisefirma für zwei oder drei Wochen China. Als er zurückkam, war er felsenfest überzeugt, er wüsste jetzt Bescheid über China. Das erzählte er jedem, der es hören wollte. Und ein paar Leuten, die es nicht hören wollten (wie zum Beispiel mir), erzählte er es auch. Denn er wusste jetzt Bescheid (im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen). Er blickte voll durch, oh ja. Er kannte jetzt China und wusste, wie China „tickt“. Das waren seine Worte. Das war seine felsenfeste Überzeugung.

Schon ein ernstes Zeichen, sowas.

 

Als eine meiner beiden Töchter elf Jahre alt war, begann sie Gespräche mit mir gerne mit den Worten:

„Als ich noch jung war.“

Als sie dann siebzehn Jahre alt war, sagte sie mir recht häufig:

„Ich kenne das Leben.“

Ich sagte nichts dazu. Mit jemandem, der recht hat und alles weiß, rede ich nicht.

Aber dass meine Tochter in ihrem Alter sowas sagte, war für mich kein „ernstes Zeichen.“ Wenn sie jedoch mit Mitte 50 immer noch so redet, dann haben wir beide ein Thema – wenn ich dann noch am Leben bin und der gleichen Ansicht bin wie heute, versteht sich. Es kann ja sein, dass ich bis dahin auch das Leben kenne und ihr voll zustimme. Verkalkung, Starrsinn und Demenz können auch mich treffen, keine Frage.

 

Ich bin im Lauf der Jahrzehnte vielen Menschen begegnet, die das Leben kannten. Diese Leute wussten Bescheid. Denen machte keiner mehr was vor. Der Vater einer Mitschülerin betrieb ein gut gehendes Reformhaus. Er gab kund und zu wissen, dass er in den letzten 20 Jahren seine Meinung nicht ein einziges Mal habe ändern müssen. Das erinnerte mich dann immer an diese Passage aus „Mein Kampf“, wo Hitler beschreibt, wie er sich als junger Mann sein Wissen zusammengelesen hatte. Dieses Wissen wurde ihm zum “granitenen Fundament“, wie er schrieb. Er ergänzte dann: „Hinzufügen musste ich nur wenig, ändern musste ich nichts.“

Tja.

So ist das halt, wenn man das Leben kennt.

So ist das halt, wenn man Bescheid weiß.

Dann „überrascht einen nichts mehr“. Dann ist einem „nichts menschliches mehr fremd“, dann hat man „schon alles gesehen.“

Aber sicher. Aber selbstverständlich. (Ironie)

 

Manchmal habe ich den Eindruck, geradezu umgeben zu sein, von solchen lebensklugen Menschen. Dann fühle ich mich ziemlich einsam. Denn ich kenne das Leben nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich das Leben nicht mal im Ansatz kenne. Ich staune jeden Tag auf’s neue. Dabei kenne ich so vieles, was diesen Menschen, die das Leben kennen,völlig fremd ist. Ich habe Dinge gesehen und erlebt, von deren bloßer Existenz sie wirklich keine Ahnung haben. Aber ich kenne das Leben nicht. Ich werde beinahe jeden Tag erneut überrascht.

 

Ich erlebe diese Menschen, die von sich sagen „Ich kenne das Leben“ als Menschen, die ihr Herz und ihr Hirn versiegelt haben. Die haben beschlossen, dass sie Einsendeschluss haben, und das nichts neues mehr an sie heran oder gar in sie hinein darf. Schwere Krisen können diese Versiegelung aufbrechen. Aber ansonsten leben sie in ihrer selbstgemachten und selbstgewählten Dummheit und Einfalt „glücklich und zufrieden bis an ihr Ende“.

Das kann man so machen, keine Frage.

 

Manchmal formuliere ich das auch so:

Diese Menschen haben ihr eigenes, kleines, handgesägtes Weltbild. Und an dem haben sie so lange und so mühevoll gearbeitet, und es ist so kostbar – das darf auf keinen Fall gefährdet oder gar beschädigt werden. Deshalb legen sie es in den sichersten Safe, den sie kennen, und da bleibt es, bis sie sterben.

 

So sind sie der festen Überzeugung, das Leben zu kennen. In Wirklichkeit sehen und erleben sie jedoch nicht das Leben, sondern immer nur eine Spiegelung ihres handgesägten Weltbildes. Und egal, was von außen an sie herangetragen wird: Dieses Weltbild wird mit Zähnen und Klauen verteidigt (Sprachbild). Und wenn die Wirklichkeit nicht zum Weltbild passt, dann wird die Wahrnehmung verbogen und verfälscht, bis sie wieder zum Weltbild passt. Beim Kampf „Realität gegen Weltbild“ gewinnt bei solchen Menschen fast immer das Weltbild.

Richtigerweise müssten solche Menschen also nicht sagen: „Ich kenne das Leben“, sondern „Ich kenne mein Weltbild“. Aber solche Menschen scheinen die Fähigkeit verloren zu haben, das eine vom anderen zu unterscheiden.

 

Bei Seminaren und Vorträgen versuche ich manchmal, diesen Mechanismus mit einer kleinen Übung zu veranschaulichen. Ich bitte dann darum, dass sich ein Freiwilliger meldet, dem ich nachweisen werde, was für ein unehrlicher Mensch er ist.

Meistens findet sich ein Freiwilliger – ein mutiger Mensch, denn er weiß ja nicht, was jetzt auf ihn zukommt. Er weiß nur, dass ich ihm gleich nachweisen werde, dass er unehrlich ist.

 

Ich gehe dann auf diesen Menschen zu, zücke mein Portemonnaie und hole einen Zehneuroschein heraus. Diesen Schein halte ich dem Freiwilligen hin:

„Da. Diese zehn Euro leihe ich Ihnen. Würden Sie mir das Geld wiedergeben?“

Ich nötige den Freiwilligen, den Schein in die Hand zu nehmen. Und ich frage ihn erneut:

„Würden Sie mir dieses Geld wiedergeben?“

Meistens bekomme ich mein Geld zurück. Manchmal grinst der Freiwillige aber auch, steckt das Geld ein und antwortet:

„Nein, ich bin unehrlich.“

Mein Risiko.

 

Aber meistens bekomme ich mein Geld zurück. Und dann fange ich an, den Freiwilligen so richtig zu beschimpfen. Ich sage ihm, dass ich ihm alles mögliche zugetraut hätte, aber so eine Niedertracht nicht. Er sei noch viel schlimmer als ich gedacht hätte. Und so weiter.

 

Wenn ich mich dann richtig warmgeschimpft habe und die fragenden Augen aller auf mich gerichtet sind, frage ich die Gruppe:

„Wissen Sie, warum er mir das Geld zurückgegeben hat? Wissen Sie das? Durchschauen Sie seine Niedertracht?“

An den Blicken der Menschen sehe ich, dass sie diese Niedertracht nicht durchschauen.

Arme Sterbliche, die nicht sehen können, was hier wirklich vorgeht. Aber ich durchschaue das. Denn ich kenne das Leben. Mir macht keiner mehr was vor. Und deshalb beschimpfe ich diesen Halunken auch nach Kräften.

Ich erkläre der Gruppe:

„Er hat mir das Geld nur zurückgegeben, weil er fest damit rechnet, dass ich ihm beim nächsten Mal bedeutend mehr Geld leihe. Und mit dem Geld will er dann abhauen. Aber ich lasse mich nicht reinlegen. Ich kenne das Leben!“

 

Ich rede nicht mit Menschen, die recht haben. Ich höre ihnen zu, denn manchmal haben sie sehr interessante Dinge zu sagen. Aber ich selber sage nichts mehr. Überhaupt nichts mehr. Ich stelle höchstens noch Verständnisfragen. Ich rede nicht mit Menschen, die das Leben kennen. Denn ich kann machen, was ich will – ich dringe nicht zu ihnen durch. Da könnte ich mich auch hinstellen und dem Meer was erzählen, das hätte denselben Effekt. Sie haben ihr Herz und ihr Hirn versiegelt, da geht nichts mehr rein. Da füttere ich lieber draußen die Vögel oder schaue den Wolken zu, die vorbeitreiben. Da habe ich wesentlich mehr von.

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Kommentare: 2
  • #1

    lemonbalm (Samstag, 27 März 2021 23:51)

    ��
    Wenn sie das Leben kennen, würdest du durchdringen.
    Nur was bedeutet es denn, das Leben zu kennen? Das, Leben, was ich gelebt habe? Was du gelebt hast? Wir kennen nur das, was ein jeder von uns gelebt hat und manche erreichen bei Weitem noch nicht einmal meine Grenze...trotzdem verneige ich mich demütig, denn es ist ihre Grenze...

  • #2

    Murmur (Sonntag, 28 März 2021 15:59)

    Sich aus dem Ozean der Leben, eines zu nehmen, seines, es sich gründlich anzuschauen, von innen, von aussen, und dann vergleichen mit anderen Leben, soweit Zugang möglich ist, Gesetzmässigkeiten finden und, mit den Jahrzehnten zu ahnen, was zu was führt, heisst - vielleicht - ein Fingerhut Erkenntnis aus diesem Ozean zu schöpfen. Der zudem nicht wirklich weitergegeben werden kann, da der Nutzen für die Mehrheit der anderen Menschen wertlos ist, sein muss. Denn Nutzen, zeigt nur die eigene Erkenntnis, die selbst erarbeitet wurde und nie, nie abschliessend sein kann.
    Es ist möglich, von grossen Dingen zu hören, was im Leben zu was führt, davon zu lesen, darüber zu schreiben. Nutzlos, wenn nicht selbst angewendet, im eigenen Leben. Diese Arbeit muss jeder selbst erledigen.
    Und die Konsequenzen von Abkürzungen aus Bequemlichkeit können fatal sein.
    Sich nicht äussern, ist meistens am Klügsten.
    Aber: Eine fünfjährige Aspergerenkeltochter, welche Fragen stellt, und traurig ist über die vielen Merkwürdigkeiten im Verhalten von anderen Lebewesen, verdient es, Antworten zu erhalten. Ist darauf angewiesen, zu wissen, dass das was sie fühlt richtig ist. Braucht, fürs Erste, überlieferte Erkenntnis von Grossmutters Fingerhut. Einfach, um nicht unterzugehen.
    Kleine, zarte Seelen sind es, die die Wahrheiten anderer Leben früh und tief erfassen.
    Und sie kaum tragen können.