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Die Ratschläger 07 - Sich selbst besiegen

„Well there’s a lot of me got to go under before I get high”

Zitiert aus dem Lied eines Musikers, der zu seiner Zeit sehr bekannt war.

 

 

In der Reihe „Die Ratschläger“ bespreche ich in loser Folge häufige und beliebte Ratschläge, die mir aufgefallen sind. Ich versuche aufzuzeigen, wo das destruktive Potenzial dieser Ratschläge liegt.

 

Ich halte Ratschläge in sozialen Situationen generell für schädlich. (Ratschläge, um technische Probleme zu lösen, – z.B., wie man einen Motor repariert -, halte ich für völlig ok). Ich kann mich nicht erinnern, mal einen Ratschlag in einer sozialen Situation als nützlich erlebt zu haben.

 

Heute soll es gehen um den Rat-Schlag

„Du musst dich selbst besiegen!“

 

Ich höre diesen Ratschlag häufiger von eher esoterisch angehauchten Menschen. Offenbar zirkuliert irgendwo bei den Weisen dieser Welt die Mär davon, dass wir einen schlechten Teil in uns haben, den wir besiegen müssen, damit der gute Teil von uns die Herrschaft über uns übernehmen kann.

 

Was für ein Unsinn!

 

Manchmal höre ich von eher unesoterischen Menschen, sie müssten ihren „inneren Schweinehund“ besiegen. Was immer das auch bedeuten mag (warum nicht das innere Erdferkel besiegen oder die innere Mikadomaus?) – es ist eine andere Ausdrucksform von „Du musst dich selbst besiegen.“

 

Aber jetzt zum Detail und zur Sache:

Warum ist dieser Rat-Schlag so schädlich?

 

 

1

Grundsätzlich ist der Sieg über einen anderen immer ein Nullsummenspiel: Das, was der Sieger gewinnt, das verliert der Verlierer. Es ist also nichts gewonnen, wenn irgendjemand siegt, sondern das, was vorher da war, ist jetzt auch da (es ist nicht mehr geworden als vorher), es ist bloß anders verteilt.

 

Mit anderen Worten:

Wer über einen anderen siegt, der gewinnt erst mal nichts. Er verteilt nur anders. Er kann das, was er für seinen Gewinn hält, nur deshalb als solchen betrachten, weil er systematisch und konsequent die Niederlage des anderen (und deren Folgen für ihn) ausblendet. Nachhaltig ist das nicht, denn jeder Sieg trägt den Keim zum nächsten Kampf bereits in sich.

 

Der zweite Weltkrieg zum Beispiel hat in meinen Augen bloß deshalb nicht zu einem dritten Weltkrieg geführt, weil die Sieger diesmal – anders als nach dem ersten Weltkrieg – die Verlierer nach dem Krieg zu Gewinnern gemacht haben.

 

Wenn du dich also selbst besiegst, dann machst du dich selbst zum Verlierer.

Was soll das Positive daran sein?

 

2

In deinem Leben bist du genug bekämpft worden. Du bist genug schlecht behandelt worden. Du bist genug besiegt worden. Viele Menschen sehen das anders. Die gehen sehr hart mit sich ins Gericht oder sagen mir sogar, sie seien ihr eigener „härtester Kritiker“. Kann man so machen. Aber was hast du davon, wenn du das tust?

Nochmal: Du bist in deinem Leben ganz sicher schon genug beschimpft, kritisiert, runtergemacht und besiegt worden. Ganz sicher. Wenn du nicht gut mit dir umgehst – wer soll es denn sonst tun?

 

Ich treffe sehr oft auf Menschen, die mir erzählen, dass sie eine „glückliche Kindheit“ gehabt hätten. Schon der bloße Augenschein berichtet etwas ganz anderes: Ich habe noch kein Wort mit diesen Menschen gewechselt, da sehe ich schon die totunglücklichen Kleinen in ihm. Aber da ich die Menschen nicht mit einem stumpfen:

„Nein, das stimmt eindeutig nicht“, abkanzeln will, frage ich sie immer dasselbe:

„Was ist deine früheste Erinnerung?“

Oft genug erzählen mir solche Menschen mit einer „glücklichen Kindheit“ irgendwas aus dem Alter, wo sie fünf oder sechs Jahre alt waren. Weiter reicht ihre Erinnerung nicht zurück. Und sie erinnern auch nicht alltägliche Situationen, sondern Ausflüge mit der Familie, Geburtstagsfeiern und dergleichen.

 

Wenn ich sie dann frage, ob sie eine Idee hätten, wie es kommt, dass ihre Erinnerungen nicht weiter zurückreichen, sagen sie mir oft, dass das eben so wäre beim menschlichen Gedächtnis. Man kann sich an seine Kindheit eben kaum erinnern. Ich kann dir versichern:

Das ist nicht so beim menschlichen Gedächtnis. Ganz bestimmt nicht. Wenn du eine glückliche Kindheit hattest, dann kannst du dich an diese glückliche Kindheit auch erinnern. Und zwar ziemlich detailliert. Wenn da aber ein schwarzer Vorhang in deinem Gedächtnis zu sein scheint, hinter dem du nichts mehr wahrnehmen kannst, dann kannst du absolut sicher sein, dass sich hinter diesem Vorhang Dinge befinden, die so schrecklich sind, dass du irgendwann beschlossen hast, sie nie wieder anzuschauen.

 

Also erzähle mir bitte nichts von deiner glücklichen Kindheit. Derlei Stuss bekomme ich viel zu häufig zu hören. Wenn du dich nicht erinnerst, dann ist das kein Zeichen dafür, dass da nichts war, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall: Da war was. Da war viel. Und es war unsagbar schrecklich für dich.

 

Hör also auf, dich schlecht zu behandeln. Mit dir ist schon schlimm genug umgesprungen worden – so schlimm, dass du es aus deinem Bewusstsein verbannt hast. Übernimm nicht die Arbeit derer, die dich damals schlecht behandelt haben und verkaufe es mir als Weisheit. Das ist nicht recht. 

 

3

Es gibt keinen einzigen bösen oder schlechten Teil von dir. Es gibt vielleicht unglückliche Teile von dir, oder Teile, die gelernt haben, sich unsozial, erfolglos, bösartig, gemein etc. zu verhalten, um zu überleben. Aber diese Teile sind nicht böse oder schlecht.

 

Nochmal und in Zeitlupe, weil das so wichtig ist:

Es gibt keinen einzigen bösen oder schlechten Teil von dir.

Was aber möglich ist: Es gibt böse oder schlechte Teile in dir.

 

Wenn du Teile in dir findest, die definitiv bösartig oder schlecht sind, dann muss es sich um das handeln, was die Fachleute „Täterintrojekt“ nennen: Irgendwann in deiner Kindheit hat ein Täter einen Teil von sich in dir zurückgelassen, und der ist weiterhin aktiv. Das ist absolut bösartig und muss rigoros bekämpft werden, keine Frage. Aber das bist nicht du. Das ist ein Fremdkörper, der in dir nichts zu suchen hat – raus damit!

(Hinweis: Wenn du so einen Fremdkörper in dir findest, dann schieß nicht gleich mit der Panzerfaust drauf. Er ist meistens derart eng und differenziert mit Teilen von dir verschmolzen, dass du erst mal diese Verschmelzung auflösen musst (und das kann ziemlich dauern), bevor du ans Werk gehen kannst).

 

Aber nochmal, weil das so wichtig ist:

Jeder Teil von dir ist zu akzeptieren und liebenswert.

Falls sich Teile von dir so verhalten oder anfühlen, als seien sie nicht zu akzeptieren oder nicht liebenswert, dann zeigt das nur an, wie wichtig es ist, dass du diese Teile liebevoll annimmst. Das ist wie mit unseren Kindern (wenn wir Eltern sind): Gerade dann, wenn sie sich völlig unmöglich verhalten, haben sie es ganz besonders nötig, dass wir sie liebevoll annehmen. Solch ein Verhalten ist immer in erster Linie ein Hilferuf.

 

Diese Teile von dir, von denen du glaubst, dass du sie nicht akzeptieren kannst, zeigen meistens eine Anpassungsleistung an eine Umwelt, die du in deiner Kindheit als derart feindlich erlebt hast, dass dir keine andere Wahl blieb, als dich so zu verbiegen und zu verformen. Diese Teile von dir erfüllen damit eine sehr wichtige und lebensnotwendige Funktion. Sie sind weder böse noch schlecht. Im Gegenteil: Sie sind sehr wichtig und notwendig. Sie sind – im Moment – unverzichtbar, sonst gäbe es sie nicht.

 

Solche Teile von dir müssen nicht besiegt werden, damit dein Leben besser oder schöner wird. Im Gegenteil: Sie müssen liebevoll angenommen und erlöst werden, wenn du ein gutes und schönes Leben leben willst. Und wir sind uns hoffentlich einig: Einen Teil von dir zu erlösen ist etwas ganz anderes, als ihn zu besiegen.

 

Nochmal:

Wenn du dich besiegen willst, dann besorgst du das Geschäft der Täter.

Lass‘ das!

 

 

 

Zusammenfassung

Wenn du dich besiegst, dann verlierst du.

Falls es dir wichtig ist, das Leben eines Verlierers zu leben – dann auf! – besiege dich. Es gibt Menschen, die sowas als Weisheit verkaufen. Und wenn ich mir auf Fotos anschaue, wie durch und durch unglücklich diese weisen Menschen sind, dann erübrigt sich jeder Kommentar.

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