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Das Neurotypische Syndrom 24 - Empathie

Unter den Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom (AS) in der ICD 10 finden wir unter anderem folgenden Passus: (Man erkennt das Asperger-Syndrom auch am)

„Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer unzulänglichen oder von der Norm abweichenden Reaktion auf die Emotion anderer Menschen zeigt“

Mit anderen Worten:

Neurotypische Menschen (NTs) können mitfühlen und haben Empathie.

Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) zeigen hier eklatante Schwächen.

 

Ich habe mit zahlreichen neurotypischen Experten für das Asperger-Syndrom über diesen Passus gesprochen. Sie alle sind felsenfest überzeugt, dass dieser Quatsch stimmt.

 

Ich will heute meine Sichtweise zu dieser Sache schildern.

Zu diesem Zweck will ich ein paar Geschichten erzählen, die exemplarisch beleuchten, worum es mir geht. Dann liste ich ein paar Sprüche auf, die ich mir sehr häufig anhöre und skizziere, wie die NTs miteinander umgehen. Und am Schluss fasse ich das ganze zusammen.

 

1

Es bringt mich um

 

Es ist schon ein paar Jahre her. Ich wanderte mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, im Hochschwarzwald. Es war ein sonniger, klarer Spätsommertag. Wir waren in Todtnauberg aufgebrochen und wollten über den Stübenwasen zum Zastler und dann hoch zum Feldberg. Dabei kamen wir an einer ausgedehnten Wiese vorbei, die über und über mit blühenden Wildblumen bewachsen war: Für mich war das ein Alptraum der aufdringlich-bunten Poppigkeit. Für meine Begleiterin … aber dazu kommen wir noch.

 

Alles, was auf dieser Wiese stand, schmiss mit Pollen nur so um sich: Gasangriff. Ich bekam einen schweren Asthmaanfall. Als ich reflexhaft zu meinem Asthmaspray griff und es ansetzte, hörte ich meine Begleiterin begeistert ausrufen:

„Riech doch mal, wie würzig das duftet!“

Sie stand direkt neben mir und sog tief diese Luft ein. Dabei breitete sie voller Freude beide Arme aus. Sie sah nur diese Blumenwiese.

Ich sog tief mein Asthmaspray ein. Und in diesem Moment sah ich nichts, da ich die Augen geschlossen hatte.

„Riech doch mal“, sagte sie wieder und drehte sich zu mir um.

„Ich riech‘ es ja“, antwortete ich ihr und setzte mein Asthmaspray ab.

„Ist das nicht herrlich?!“ wollte sie wissen. „Jedes Mal, wenn ich das rieche, erinnert mich das an meine Kindheit.“ (Sie kommt gebürtig aus dieser Gegend).

Ich packte mein Asthmaspray wieder weg und keuchte vor mich hin.

„Ist das nicht toll ?! Ist das nicht klasse ?!““ begeisterte sie sich.

„Ja“, murmelte ich vor mich hin. „Ganz toll. Richtig klasse.“ Meine Lunge war mit Schleim vollgelaufen und den hustete ich nun ab.

„Mit dir kann man aber auch gar nicht richtig wandern!“ beschwerte sie sich in vorwurfsvollem Ton.

„Du“, sagte ich ihr, „für dich ist das ‚würzig‘. Für dich ist das ‚toll‘. Ich bin Asthmatiker. Mich bringt das hier um. Es ist buchstäblich tödlich für mich.“

„Aber es riecht doch so toll, so würzig!“ beharrte sie.

 

Das gehört eindeutig zu den Stärken der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin: Wenn sie sich eine Meinung über irgendwas gebildet hat, dann bringt sie so schnell nichts davon ab. Schon gar nicht die Realität. Eine einmal gefasste Meinung wird abgeschirmt gegen jeden Einbruch der Realität. Diese Meinung wird mit Zähnen und Klauen verteidigt (Sprachbild). Aber das ist keine Spezialität der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Dieses Abschirmen der einmal gefassten Meinung gegen die Realität erlebe ich bei sehr, sehr vielen NTs.

 

Ich hatte diesmal einen schlechten Tag erwischt. Meine Lunge fand keinen Frieden. Als wir den Zastler erreicht hatten, war so wenig Sauerstoff in mir, dass meine Lippen blau angelaufen waren.

 

Aber ich bin recht zäh. Wenn ich wandern will, dann will ich wandern. Da kenn‘ ich nichts. Wenn es nicht schnell geht, dann geht es eben langsam. Ich keuchte mich da also allmählich den Berg hoch. Aus Erfahrung wusste ich: So kommt man auch oben an. Dabei blieb ich deutlich hinter der Frau zurück, mit der ich de jure verheiratet bin.

 

Einmal ergab sich in Gipfelnähe die Situation, dass ich sie wieder einholte. Sie stand da im Schwarzwald, berauschte sich an der Natur und war restlos begeistert. Ich blieb ein paar Meter neben ihr stehen. Ich war von der Natur deutlich weniger berauscht als sie. Ich sah vor allem feurige Brezeln und Kringel vor den Augen und war restlos fertig. Mein Puls war weit jenseits der 200 bpm. Um irgendwie wieder Luft zu bekommen, stützte ich mich mit beiden Händen auf die Knie. So keuchte ich da vor mich hin. Sie eilte auf mich zu:

„Ich will dich küssen!“

Ich stieß sie schroff zurück:

„Lass mich! Ich muss atmen!“

Sie war ziemlich beleidigt:

„Mit dir kann man aber auch nie richtig wandern!“

Sie war enttäuscht.

 

Dennoch: Alles in allem war das für sie ein sehr schöner und glücklicher Tag. Sie blühte sichtlich auf und genoss ihn in vollen Zügen. Manchmal erzählt sie heute noch davon und fragt mich, warum wir sowas nicht öfter machen.

 

Und nochmal, weil das so wichtig ist:

Ich erlebe die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, als neurotypisch aber nicht als besonders neurotypisch.

 

2

Der Hupfdohlenvorfall

 

Der Weltkonzern, in dem ich damals arbeitete, war von einem anderen Weltkonzern geschluckt worden, der noch größer war. Ein paar Männer mit Zugriff auf dutzende Milliarden Euro und zu kleinen Penissen hatten mal wieder Monopoly mit Menschen gespielt, und jetzt ging es zur Sache.

 

Im Zuge des Zusammenschlusses wurde ich in etlichen Projekten mit Verantwortung betraut. Ich fuhr sehr viel in Deutschland herum und lernte buchstäblich hunderte Menschen kennen, deren Namen ich mir nicht merken konnte und deren Gesichter mir nichts sagten. Oft waren meine Tage ein einziger Reigen von Meetings, Vorstellungen, Händeschütteln, Smalltalk … - Ein Haifischbecken nach dem anderen.

Ich traf einen anderen Projektleiter, mit dem ich mich sehr gut verstand. Seine Tage sahen genauso aus wie meine. Er sagte mir dazu:

„Da bist du den ganzen Tag damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass der tanzende rote Punkt nicht auf deiner Stirn landet.“

 

Was bedeutet das mit dem „tanzenden roten Punkt“?

Damit ist die Laserzieleinrichtung eines Scharfschützen gemeint. So ein internationaler Merger bedeutet immer auch Massenentlassungen. Und diese Massenentlassungen werden fast immer in solchen Großprojekten konkretisiert und realisiert. Der Projektleiter, der nicht aufpasst, der hat sich mit seiner Arbeit ruck-zuck selber wegrationalisiert. Deshalb lautet die unausgesprochene Hauptdirektive aller Projektleiter in solchen internationalen Mergern:

Sichere deinen Arbeitsplatz!

Alles andere ist sekundär.

 

Es war Februar. Das Projekt traf sich in einem Hotel in Köln. Diese Luxus-Hotels sehen für mich alle gleich aus. Diesmal war es das Radisson Blu. Ich kann das Radisson Blu in Köln nicht von dem in Hamburg oder Berlin unterscheiden. Und mit den Sheratons, Steigenbergers und Kempinskis dieser Welt ist es dasselbe. Wenn du Projektleiter auf dieser Ebene bist, dann tingelst du von Luxushotel zu Luxushotel, deine Arbeitstage sind mindestens vierzehn Stunden lang, und hoffst jeden Tag auf’s neue, dass du das irgendwie überlebst. Und dass er tanzende rote Punkt nicht auf deiner Stirn landet.

 

Wie auch immer – ich saß da also in einem gewaltigen Tagungssaal. Die Tische waren angeordnet wie ein riesiges U. Dutzende von Leuten waren anwesend. Wir waren so viele, dass wir uns an den Tischen gegenübersaßen. Vorne, am offenen Ende des Us war eine größere Bühne. Auf der  standen ein paar Bistro-Tische und Mikrofone herum. Der Ober-ich-hab-hier-was-zu-sagen tauchte auf dieser Bühne auf und sprach salbungsvolle Worte zum Volk. Es war die Rede von Aufbruch, Anpacken, Zukunft, Glück, Erfolg und was weiß ich. Das übliche Geschwätz in solchen Situationen. Erst, wenn das vorbei ist, kann man mit der inhaltlichen Arbeit anfangen (und schauen, bei wem sich diesmal die tanzenden roten Punkte sammeln). Nebulös bekam ich mit, dass der da vorne erzählte, dass es am Abend noch eine Überraschung für uns alle gäbe.

Das löste in mir das tiefe Gefühl der Gleichgültigkeit aus. Er sollte jetzt endlich verschwinden, damit wir anfangen konnten zu arbeiten. Nach einer Weile tat er uns den Gefallen.

 

Der Tag ging arbeitsreich vorbei. Die schwarze Kladde, in der ich immer alles mitschreibe, füllte sich sehr an diesem Tag. Mir war es auch an diesem Tag gelungen, meinen Job zu retten, aber ich musste noch einiges aufschreiben, was ich vorhin in der Eile nicht hatte festhalten können. Ich beugte mich über meine Kladde. Um mich herum wurde irgendein Buffet aufgefahren. Die Leute kamen und gingen und ein allgemeines Essen setzte ein. Ich aß nichts. Ich schrieb und schrieb.

 

Auf einmal hörte ich das charakteristische Geräusch, das ein Mikrofon macht, wenn es eingeschaltet wird. Es sollte jetzt also gleich noch eine Ansprache geben. Vermutlich wollte der Obermufti nochmal das Wort ans Volk richten. Ich schrieb weiter.

„So …!“ sagte der Mann auf der Bühne in sein Mikrofon. Es war ziemlich laut.

„So, und jetzt geht’s los!“

Der Mann sagte das, und ich nahm eine sehr starke Veränderung bei den Menschen wahr, mit denen ich den ganzen Tag zusammengearbeitet hatte. Sie waren voll aufgeregter Vorfreude. Das war eindeutig nicht das Verhalten, mit dem man sich auf eine salbungvolle Rede des Großmuftis einstellte. Was war hier los?!

Ich ließ meinen Stift sinken und schaute auf. Ich schaute zur Bühne.

Da stand nicht der Großmufti, sondern irgendein uniformierter Karnevalsdepp.

 

Einschub

Karneval in Köln geht so:

Tausende und abertausende absolut humorlose Menschen beschließen, einmal im Jahr für ein paar Tage „fröhlich“ zu sein. Sie sind aber nicht fröhlich. Das sind sie nie. Und Humor haben sie auch keinen. Und ihre Lebensfreude … nunja, reden wir nicht davon. Man kann nicht alles haben. Es muss manchmal eben reichen, wenn man Kölner ist. Dann ist mehr einfach nicht drin.

 

Wie soll man unter solchen Umständen „fröhlich“ sein?

Die Kölner wissen, wie’s geht:

Man nehme

·         Fünf Liter Bier pro Person

·         Eine Uniform pro Person

·         Ohrenbetäubenden Lärm, damit man ja nichts mehr fühlen kann.

 

Ohne Bier geht’s nicht. Ohne Bier (alternativ: Schnaps, Whiskey etc.), ohne ganz viel Bier kann kein Mensch dieser Welt das ertragen.

Ohne Uniform geht’s auch nicht. Auf dieser Uniform könnte auch stehen: „Schaut her, ich bin fröhlich!“

Und wie auf Knopfdruck sind sie dann alle „fröhlich“. Das sind sie das ganze Jahr nicht. Nicht mal im Ansatz. Aber jetzt geht’s los. Und sie sehen alle absolut gleich aus. Denn sie haben ja alle diese „fröhliche“ Uniform an. Und dann singen sie diese „fröhlichen“ Lieder. Und – niemals vergessen: Sie sind bis zum Rand abgefüllt mit Alkohol.

Ja, da kommt Heiterkeit auf!

Ja, da steigt die Stimmung!

 

Es ist ein völlig bizarres Schauspiel. Ich nehme an, dass präzisere Ausführungen zu diesem Spektakel sich irgendwo in Dantes Inferno finden lassen.

Einschub Ende

 

Als ich diesen Karnevalsdeppen in seiner Uniform auf der Bühne sah, bereute ich sofort alle meine Sünden. Zutiefst. Ich hatte das über meine Arbeit völlig vergessen:

Niemals, wirklich absolut niemals gehst du in einem Februar für eine Tagung nach Köln. Niemals! Sowas ist für Stuntmen und für die Indiana Jones dieser Welt. Das ist was für die hammerharten Typen, denen sie im Krankenhaus die letzten Reste von Sensibilität und Menschlichkeit herausoperiert haben. Karneval in Köln ist etwas für Leute, die sie bei der Fremdenlegion nicht genommen haben, weil sie zu brutal und zu grobschlächtig sind. Aber unsereins geht niemals im Februar nach Köln.

 

Jetzt saß ich in der Falle. Wie sollte ich bloß aus diesem vollgestopften Tagungssaal rauskommen?

Ich rechnete mit dem Schlimmsten:

Der da vorne würde gleich „Witze“ erzählen und irgendein „Tä-Tä, Tä-Tä, Tsching-Bumm!“ würde den „fröhlichen“ Menschen anzeigen, wann der Witz zu Ende war und sie mit dem Lachen anfangen konnten.

 

Ich packte ganz hektisch meine Sachen zusammen:

Volle Deckung, Witz von vorn!

 

Aber immer, wenn du denkst, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, dann kommt es noch schlimmer.

Dieser Karnevalsdepp erzählte keine „Witze“. Nein, er räumte fluchtartig die Bühne.

Auf einmal brandete ohrenbetäubend laute Musik aus den Lautsprechern. Unheimlich laut! Aggressiv-bunte Scheinwerfer schmissen hektisch buntes Licht in alle Richtungen. Das zuckte und blitzte. Das war gnadenlos hell. Das tat ziemlich weh in den Augen. Und auf die Bühne kam ein ganzer Schwarm junger Frauen in merkwürdigen Uniformen, die alle exakt dieselben hüpfenden Bewegungen machten.

 

Das ist noch so eine Eigenheit des Kölner Karnevals:

Je exakter und militärischer die Bewegungen sind, desto größer ist die „Fröhlichkeit“. Ausgelassenheit und Fröhlichkeit sind in Köln Bestandteil jahrelangen, intensiven militärischen Drills. Ich habe mit solchen Hupfdohlen gesprochen: Die trainieren in der Vorkarnevalszeit sechsmal in der Woche mehrere Stunden lang.

Und hoch das Bein!

 

Ich war sofort am Ende:

Krach!

Hektische Bewegung!

Bunte, flirrende Lichter – überall.

Hektik! Alles war Hektik!

Und das nach einem langen, langen Arbeitstag!

Mein System brach zusammen.

 

Unter diesen Umständen war nicht mal daran zu denken, dass ich hier quer durch den Raum lief. Ich hätte es niemals bis zur Tür geschafft! Ein Entkommen war also nicht mehr möglich.

Voll Panik und Entsetzen steckte ich mir beide Finger fest in die Ohren, schloss die Augen, um das nicht mehr sehen zu müssen und senkte meinen Kopf zur Tischplatte.

Irgendwann würden die Pause machen.

Bis dahin musste ich das irgendwie durchstehen und dann abhauen.

 

Ich saß da also in meinem stummen Entsetzen und versuchte mich zu schützen.

Auf einmal spürte ich, wie jemand sehr fest meine beiden Handgelenke umfasste, um mir die Finger aus den Ohren zu ziehen.

 

Ich schaute auf.

Die Kollegin, die mir gegenüber saß, zerrte mit aller Kraft an meinen Händen. Da ich so überrascht war, gelang es ihr sogar für kurze Zeit meine Hände zu kontrollieren. Sie hielt meine Hände an den Handgelenken und klatschte mit ihnen rhythmisch im Takt der Musik. Ich verstand ihre Botschaft:

So sollte ich mich verhalten. Ich sollte auch „fröhlich“ sein und im Takt der Musik klatschen, so wie alle anderen NTs auch.

 

Ich schaute mir diese Kollegin sehr genau an. Dieser Anblick hat sich mir bis heute eingeprägt:

Diese Frau war regelrecht verzweifelt, dass ich an dieser „Fröhlichkeit“ nicht teilnahm. Sie sah, wie schlecht es mir ging und wollte mir unbedingt helfen. Also ganz wichtig: Ihr Motiv war nicht, mich zu quälen und mich fertig zu machen, sondern mir zu helfen. Sie wollte, dass es mir gut ging, und dass ich „fröhlich“ war – so wie die anderen auch.

 

Ich schaute sie an. Ohrenbetäubender Lärm und bunte flirrende Lichter überfluteten mich. Für einen kurzen Moment stand jetzt ganz ernsthaft die Gewaltfrage im Raum:

Ein gezielter Schlag von mir hätte genügt, und diese Kollegin wäre vom Stuhl gefallen, und ich hätte mir wieder die Finger in die Ohren pressen können.

Gleichzeitig war mir aber klar:

Kein NT dieser Welt würde verstehen, was hier vorgefallen war. Soviel Empathie haben die einfach nicht. Ich würde fristlos entlassen werden (Stichwort: tanzender roter Punkt). Und im Markt würde sich sehr schnell rumsprechen, dass ich wegen Tätlichkeit gegen eine Kollegin entlassen worden war.

Dann konnte ich nur noch zur Fremdenlegion gehen.

 

Ich entwand der Kollegin meine Hände und presste sie mir wieder auf die Ohren.

Ich senkte den Kopf wieder mit geschlossenen Augen zur Tischplatte.

 

Irgendwie überlebte ich das.

 

3

Was die NTs mir so alles sagen

 

Viele NTs, mit denen ich arbeite, wissen mittlerweile, dass ich hypersensibel bin. Dennoch höre ich mir von ihnen oft an:

 

„Was trägst du denn jetzt eine Sonnenbrille? Es ist doch gar nicht hell!“

„Du trägst eine Sonnenbrille auch im Regen?!“

„Sag mal, wann trägst du eigentlich mal keine Sonnenbrille?!“

 

 

Sie wissen, dass ich ein sehr introvertierter Mensch bin und nach sozialem Kontakt Rückzug brauche, um wieder aufzutanken. Sie wissen es!

Und ich höre mir von ihnen an:

„Komm, du brauchst dich noch nicht zurückziehen. Wir haben uns heute noch gar nicht richtig unterhalten können.“

„Sag‘ mal, die eine Stunde wirst du unsere Anwesenheit ja wohl noch ertragen können!“

„Aber es ist doch schön, Besuch zu haben! Gib mir deine Adresse, und ich komm mal vorbei.“

 

 

Sie wissen, dass ich es hasse zu telefonieren. Ich habe es ihnen oft genug gesagt. Sie wissen es!

Und ich höre mir von ihnen an:

„Komm, dann telefonieren wir und plaudern mal über alles.“

„Wieso ist bei dir jetzt schon wieder die Voice-Mail an?!“

„Maaaannn! Dich kriegt man ja auch nie ans Telefon!“

 

 

Sie wissen, dass ich auditiv sehr schnell überlastet bin. Sie wissen es!

Und ich höre mir von ihnen an:

„Was war dir denn jetzt schon wieder zu laut?!“

„Aber es ist doch ganz still hier!“

„Also das bisschen Musik wirst du ja wohl noch ertragen können!“

 

 

 

Ich brech‘ das hier mal ab.

Ich könnte buchstäblich noch dutzende Seite mit weiteren Episoden und weiteren Facetten füllen, die vor allem eines klar machen:

 

Das, was die NTs mit Sicherheit nicht auszeichnet, ist ihre Empathie, ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mit ihnen mitzufühlen.

 

4

Was die NTs sich untereinander so sagen

 

Die NTs gehen miteinander genauso unempathisch um, wie mit uns. Hier aus Platzgründen nur ein paar Beispiele aus meiner wirklich umfangreichen Sammlung:

 

 

Es ist eine Geburtstagsfeier bei der Arbeit. Die Kollegen sitzen bei Kaffee und Kuchen zusammen. Die Gastgeberin hat selbstgebackenen Käsekuchen mitgebracht. Eine Kollegin lehnt dankend ab. Und dann höre ich diesen kurzen Dialog:

„Nein danke, für mich nicht, wirklich. Ich bin laktoseintolerant.“

„Aber ein Stück kannst du doch wohl nehmen!“

 

„Ja“, denke ich, „das ist ja das Interessante bei der Laktoseintoleranz: Sie setzt erst beim zweiten Stück Kuchen ein.“

 

Ein größeres Ereignis, bei dem Erwachsene und Kinder da sind. Die Kinder sollen einzeln auf die Bühne gehen und sich kurz vorstellen und was über sich sagen.

Ein Kind will nicht. Es hat schreckliche Angst und großes Lampenfieber.

Seiner Mutter ist das sehr unangenehm – das Kind soll funktionieren. Die Mutter lacht nervös und sagt zum Kind:

„Aber da brauchst du doch keine Angst zu haben.“

 

Das erlebe ich sehr häufig bei NTs:

Sie sind der felsenfesten Überzeugung: Wenn ich in einer bestimmten Situation etwas nicht fühle, dann fühlst du es in dieser Situation auch nicht. Nach meiner Erfahrung sind NTs immer dann besonders empathisch, wenn es ihnen in vergleichbarer Situation genauso gehen würde. Sonst aber eher nicht. Die meisten von ihnen können sich nur sehr schwer in Menschen hineinversetzen, die in einer bestimmten Situation etwas anderes fühlen als sie.

 

Ich sitze in einem chinesischen Restaurant. Am Nebentisch sitzt ein älteres Ehepaar, das viel lauter spricht als es notwendig ist, um die Umwelt an ihrem Eheglück teilhaben zu lassen.

Sie bekommen ihr Essen. Der Mann probiert seins und es entsteht dieser Dialog:

Mann: „Boah, was ist das denn?! Das schmeckt ja wohl überhaupt nicht! Ist ja widerlich!“

Frau: „Was?! Mein Essen ist total lecker. Lass mich mal deins probieren.“

Der Mann schiebt ihr mit angewidertem Gesicht den Teller rüber. Die Frau probiert:

Frau: „Ich weiß gar nicht, was du hast! Das schmeckt doch total toll!“

 

Ja, das ist sehr häufig das Problem bei den NTs: Sie wissen gar nicht, was der andere hat. Und da sie es nicht wissen, gibt es auch keinerlei Grund für den anderen die Gefühle zu haben, die er hat und das Verhalten an den Tag zu legen, das er gerade zeigt.

So einfach ist das.

 

 

Wie gesagt:

Auch das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus meiner Sammlung an Zitaten und Begebenheiten. Auch hier könnte ich buchstäblich dutzende Seite mit meinen Notizen füllen.

 

 

Zusammenfassung

 

Halten wir also zusammenfassend fest:

Ein Hauptmerkmal des Neurotypischen Syndroms ist dieses:

 

Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer unzulänglichen oder von der Norm abweichenden Reaktion auf die Emotion anderer Menschen zeigt“

 

Ja, es ist schon eine ziemlich tiefgreifende Entwicklungsstörung, dieses Neurotypische Syndrom.

 

Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.*

Und nein, liebe NTs, ihr kennt den anderen nicht.

Ihr kennt euch selber nicht, ihr kennt eure Mit-NTs nicht, und uns AS kennt ihr schon gar nicht.

 

Empathie ist wirklich nicht so euers. Das wird euch vermutlich jeder AS auf Nachfrage bestätigen können.

 

 

* Für die Nichtlateiner hier eine Übersetzung:

Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen und nicht ein Mensch, jedenfalls nicht, solange er den anderen nicht kennt.

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Kommentare: 2
  • #1

    NT-Aushalter (Montag, 01 März 2021 10:29)

    Und dann war da noch das kleine A"hüps"loch, das meinte, seinem Onkel (oa.) eine Flasche Weinbrand schenken zu müssen, denn die hätte er sich nach der halbjährigen Entziehungskur redlich verdient!
    Ja so kommt mancher NT daher, auch bei Allergien. O-Ton selbst erlebt (Tierhaarallergie und dadurch akutes Asthma): "Das bildest Du Dir bloß ein, da würde ich jetzt gerade damit ins Tierheim oder Zirkus gehen!" Gewöhnung, schön und gut, wenn man bis dahin überlebt...

  • #2

    Nichtwichtig (Montag, 01 März 2021 12:36)

    Danke für den Text. Ich bin auch immer wieder verwirrt, wie verdreht das ganze ist. Viele Eigenschaften, die Autisten zugeschrieben werden zeigen sich in wesentlich größerem Ausmaß bei NTs. Und wenn man sie darauf hinweist wird oft mit "das ist ja was anderes!" argumentiert. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto verwirrender wird es. Gut zu wissen, dass ich damit nicht alleine bin.