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Verstehst du?

Es gibt ein Verhalten bei anderen Menschen, das mir immer wieder deutlich macht, dass da keine wirkliche Verbindung zwischen uns ist, dass da keine Verbindung sein kann. Ein unüberbrückbarer Graben trennt uns. Ich will es verdeutlichen an einem Beispiel aus den letzten Tagen:

 

Eine lange Spurensuche war zu Ende gegangen. Vor ziemlich genau 40 Jahren hatte ich mal auf einer Musikkassette ein Lied gehört. Dann hatte ich es nochmal vor 39 Jahren gehört und noch einmal vor 34 Jahren im Radio. Aber dann verlor sich seine Spur. Doch meine Kleinen kamen mir wieder und wieder und immer wieder mit Ausschnitten aus diesem Lied an. Sie wollten das unbedingt nochmal hören. Es rührte sie sehr an. Aber ich hatte keine Ahnung, von wem das Lied war. Ich hatte keine Ahnung, welchen Titel es hatte. Und der Gesang war derart seltsam gewesen (und mein Englisch damals so schlecht), dass ich mich nur noch an die Worte „Can you help me?“ erinnern konnte.

Und mit so einem Textausschnitt kannst du ein Lied natürlich nicht erfolgreich googeln.

 

In unserem Leben gibt es zahlreiche Musikstücke, wo wir dauerhaft auf der Suche sind. Und so eine Suche kann gut und gerne Jahrzehnte dauern.

 

Durch reinen Zufall kamen wir Anfang Januar auf die richtige Fährte. Mit diesen Hinweisen fanden wir das Lied sofort: Paranoid von Black Sabbath. Das erstaunte uns sehr, denn mit Heavy Metal können wir nichts anfangen. Wir haben uns nie für Black Sabbath interessiert. Allein der Bandname und die Albumcover waren so, dass wir uns abwandten. Dasselbe galt auch immer für Iron Maiden, Megadeth, Judas Priest oder wie diese Bands alle heißen. Albumcover, die Alpträume in uns auslösen, sind nichts für uns.

 

Ok.

Also Paranoid von Black Sabbath. Dieses Lied kam Anfang 1970 raus. Wir hatten absolut keine Ahnung, dass Heavy Metal schon so alt ist. Was machen Schwermetaller eigentlich, wenn sie alt werden (und die werden ja sehr schnell alt)? Gehen die dann mit dem Rollator in den Moshpit?

 

Wir hörten uns das Lied an, und obwohl wir mittlerweile wirklich akzeptables Englisch sprechen, verstanden wir wieder praktisch kein Wort. Also her mit dem Text. Sowas ist ja schnell ergoogelt. Hier ist er:

 

Finished with my woman 'cause she couldn't help me with my mind.

People think I'm insane because I am frowning all the time.

All day long I think of things but nothing seems to satisfy.

Think I'll lose my mind if I don't find something to pacify.

 

Can you help me, occupy my brain?

Oh yeah

 

I need someone to show me the things in life that I can't find.

I can't see the things that make true happiness, I must be blind.

Make a joke and I will sigh and you…

Make a joke and I will sigh and you will laugh and I will cry.

Happiness I cannot feel and love to me is so unreal.

And so as you hear these words telling you now of my state

I tell you to enjoy life I wish I could but it's too late.

 

 

Für die, für die englische Sprache eher eine Hürde darstellt, hier eine Übersetzung:

 

Schluss mit meiner Frau gemacht, weil sie mir mit meinem Verstand nicht helfen konnte.

Die Leute denken, dass ich verrückt bin, weil ich die ganze Zeit so grimmig gucke.

Den ganzen Tag denke ich angestrengt nach, aber nichts scheint zu nützen.

Ich denke, dass ich den Verstand verlieren werde, wenn ich nicht bald was finde, was Frieden bringt.

 

Kannst du mir helfen, mein Gehirn zu beschäftigen?

Oh ja.

 

Ich brauche jemanden, der mir die Dinge im Leben zeigt, die ich nicht finden kann.

Ich kann die Dinge nicht sehen, die wirklich glücklich machen – ich muss blind sein.

Erzähl‘ einen Witz, und ich werde seufzen, und du ….

Erzähle einen Witz, und ich werde seufzen, und du wirst lachen, und ich werde weinen.

Ich kann Glück nicht fühlen und Liebe scheint es für mich nicht zu geben.

Und wie du hier diese Worte hörst, die dir jetzt sagen, in welchem Zustand ich bin,

Sage ich dir: Freu‘ dich deines Lebens. Ich wünschte, ich könnte das. Aber es ist zu spät.

 

 

Jo.

Wir hörten also dieses Lied und lasen gleichzeitig den Text mit. Und meine Kleinen sagten:

„Wenn das mal nicht Trauma ist!“

Es ist eine sehr schwarze Innenansicht, die da geschildert wird, aber sie ist uns sehr vertraut.

 

Ich habe keine Ahnung, wie meine Kleinen wissen konnten, dass es in diesem Lied um diese Innenansicht geht, denn wir haben damals wirklich kein Wort verstanden (außer diesem „Can you help me?“). Aber sie überraschen mich immer wieder. Das ist absolut nichts neues für mich.

 

Also:

Das Lied ist der verzweifelte Schrei um Hilfe eines Menschen in tiefster Not. Ihm geht es dauerhaft so schlecht, dass er wirklich am Ende ist. So eine Innenansicht und die Gefühle und Gedanken, die dabei entstehen – das alles ist uns wohl vertraut. Dieser Mensch braucht wirksame Hilfe, und erbraucht sie rasch.

 

Und dann sind da noch die anderen.

 

Wir haben uns auf YouTube zahlreiche Versionen von diesem Lied angeschaut. Zunächst mal haben wir gesehen, dass es dem „Kopf“ dieser Band, dem Sänger, mit den Jahren immer schlechter ging. So alt, wie der Mitte der achtziger Jahre aussah, konnte er gar nicht mehr werden. Aber das kennen wir schon: Die Musiker hören offenbar ihrer eigenen Musik nicht zu. Entweder registrieren sie nicht die Hilferufe, die sie da laufend aussenden oder es gelingt ihnen nicht, wirksame Hilfe zu finden.

 

Sie singen dann Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt die immer gleichen Hilferufe von den Bühnen dieser Welt, die Massen jubeln ihnen zu und niemand scheint so recht zu begreifen.

 

Denn das hat uns wirklich erschüttert:

Wie fröhlich und ausgelassen die Menschen zu diesen Worten tanzen. Wir haben uns das auf YouTube ganz genau angeschaut: Die Menschen aus dem Publikum, die in Großaufnahme zu sehen sind, die singen jedes Wort mit. Sie kennen den Text in- und auswendig.

 

Da sendet also jemand in tiefster Not einen ziemlich ultimativen Hilferuf in die Welt …

… und die Menschen tanzen und singen dazu. Sie sind verzückt, sie sind ausgelassen.

 

Das scheint so ein Deal zwischen den Künstlern und ihren Konsumenten zu sein:

Ich entlaste mich innerlich, indem ich Hilferufe aussende, auf die ich nicht höre. Und du unterstützt und bestätigst mein Tun, indem du zwar hörst (und mitsingst) aber nicht verstehst.

 

Ganz ehrlich?

Was soll ich mir mit solchen Menschen sagen?

Was sollte uns verbinden? Menschliche Not und menschliches Elend sind keine Kunstform und das ist auch nichts, wozu man tanzt. Wie tot muss man innerlich sein, um sowas tun zu können?

 

Sie hören das alles, und sie verstehen buchstäblich nichts. Das ist keine Frage des Intellekts, sondern der inneren Lebendigkeit. Erst, wenn man innerlich fast völlig abgestorben ist, kann man ernsthaft zu solchen Hilferufen tanzen und singen.

 

Und der Sänger grölt bei Konzerten vor dem Lied zur Einstimmung irgendwas von „Having a good time“. Er lädt das Publikum ein, sich gut zu fühlen und eine gute Zeit zu haben. Und das angesichts dieses Schreis der tiefsten Not. Das ist nicht Heavy-Metal-spezifisch und auch nicht an irgendein Genre gebunden. Das haben wir schon sehr oft in der Musik erlebt: Der Künstler schreit irgendwas von der Bühne von “Having a good time“, das Publikum grölt bestätigend zurück und dann singt der Sänger von den schrecklichsten Sachen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Und dann wird dazu ausgelassen getanzt: Ein total bizarres Schauspiel.

 

Sie hören, und sie verstehen nicht. Sie verstehen nicht deshalb nicht, weil sie zu dumm sind oder es ihnen an Bildung fehlt, sondern weil sie innerlich abgestorben sind.

Das ist uns nicht neu. Im Gegenteil: Es ist uns sehr vertraut. Schon seit immer. Wir hatten schon immer das Gefühl unter lauter Androiden zu leben, die wie Menschen aussehen und sich nur so verhalten wie Menschen.

 

Wir erleben das auch heute noch so oft: In einem Kinderwagen schreit ein Säugling in höchster Not. Die Erwachsenen, die um den Wagen herumstehen unterhalten sich ungerührt weiter oder – noch schlimmer – beugen sich gemeinsam über den Kinderwagen und erzählen sich gegenseitig:

„Ach wie süß!“

"Ja, was hat denn der Kleine? Ja, was hat er denn?“

 

Wir erleben das auch heute noch so oft: Ein Kleinkind wehrt sich gegen üble Behandlung mit einem Zornausbruch, der seinen ganzen Körper erfasst. Der ihm zugeordnete Erwachsene verbietet ihm das, oder – noch schlimmer – er strahlt das Kind an und ruft aus:

„Ach, wie goldig!“ (Das wird nach meinen Beobachtungen besonders gern bei Mädchen gemacht).

 

Und so weiter.

 

Was ich damit ausdrücken will:

Die erwachsenen Menschen, denen ich begegne, erlebe ich fast alle als innerlich abgestorben. Nicht völlig abgestorben, aber in einem sehr umfassenden Maße. Das erlebe ich sowohl in Alltagssituationen als auch bei Festen, Feiern, Veranstaltungen und Konzerten. Das zieht sich durch das komplette Leben dieser Menschen. Und ich habe mir mit ihnen buchstäblich nichts zu sagen.

 

Deshalb: Tanzt und singt und habt eine gute Zeit angesichts solcher Hilferufe. Ich störe euch nicht dabei.

 

Aber ich will mit euch absolut nichts zu tun haben. Es gibt nichts, was uns verbindet. Ich will nicht Teil einer Gesellschaft sein, wo der eine in tiefster Not um Hilfe schreit und der andere dazu singt und tanzt. Echt nicht. Mit euch will ich nicht wir sein. Auf gar keinen Fall.

 

Und falls du tatsächlich irgendwann mal runterkommen solltest von deinem Unlebendigkeitstrip, dann habe ich nur eine einzige Frage, die ich dir stellen kann:

 

Verstehst du?