Die Wissenschaftler wissen auch nicht alles 03 - Glauben

Was ich häufig erlebe, ist dieses:

1.)   Ich argumentiere zu irgendeinem Thema wissenschaftlich. Das bedeutet: (1) Ich beobachte. (2) Ich entwickle aus meinen Beobachtungen Hypothesen und versuche sie zu stützen. Alles unter Irrtumsvorbehalt zwar, aber doch untermauert durch (a) Beobachtungen und (b) statistische Auswertung dieser Beobachtungen.

2.)   NTs gefällt nicht, was ich zu sagen habe.

3.)   Sie haben aber keine Argumente. Also fangen sie an aus ihren Glaubens- und Überzeugungssystemen heraus zu argumentieren:

·           So darfst du das aber nicht sehen!

·           Das kann gar nicht sein!

·           Das ist nicht mein Menschenbild.

·           Ich sehe das anders.

·           Das gefällt mir gar nicht!

·           Wenn alle so denken würden wie du.

·           Das siehst du völlig falsch.

·           Da bist du aber in der absoluten Minderheit. Die überwältigende Zahl der Menschen sieht das genauso wie ich.

·           Nietzsche, Einstein, Kepler, Zlatan Ibrahimovic, Bismarck und der Großmufti von Köln sind der gleichen Meinung wie ich.

·           Und so weiter

 

Gerne garnieren sie das, was sie mir erwidern, mit Worten wie:

„Ist doch egal. Du glaubst eben an die Wissenschaft, und ich glaube an was anderes.“

 

Aus dem, was ich da erlebe, schließe ich meistens dieses:

a)    Diese Menschen sind intellektuell verwahrlost. Mit anderen Worten: Ich kann nicht sehen, dass sie ihren Verstand geschult und diszipliniert hätten.

b)    Sie können Wissenschaft und Glauben nicht auseinanderhalten.

 

Der schlechteste Chef, den ich je hatte, sagte und schrieb gerne auf seine Folien:

„Vorstellung schafft Wirklichkeit.“

Das war sein ganz persönliches Glaubensbekenntnis.

Andere Menschen sprechen an dieser Stelle dann von „alternativen Fakten“.

Wo diese Weigerung, mental erwachsen zu werden, herrührt, kann ich nicht fallabschließend sagen. Aber ich erlebe sie als weit verbreitet. Das Prinzip ist einfach: Wenn das, was logisch ist, mir nicht passt, dann glaube ich einfach an irgendwas anderes und alles ist wieder gut.

 

Nichts ist dann gut. Die Wirklichkeit ist unerbittlich. Sie holt jeden ein. Wenn du dich in Illusionen einspinnst, wie eine Schmetterlingslarve in einen Kokon, um dich der Wirklichkeit nicht mehr stellen zu müssen, dann mag sich das für den Moment besser anfühlen. Und vielleicht bist du mit der Wirklichkeit im Moment ja auch ganz real überforderst und musst erst nachreifen, um die Kompetenzen zu entwickeln, die du brauchst, um die Situation zu meistern. Aber du bist dann nicht anders als ein alkoholkranker Mensch, der zwischen sich und der Wirklichkeit eine solide Schicht aus Alkohol einbaut, um sich nicht stellen zu müssen. Dazu gibt’s ein Lied, das viele Menschen gerne singen:

 

Schütt‘ die Sorgen in ein Gläschen Wein

Deinen Kummer tu‘ auch mit hinein

Und mit Köpfchen hoch und Mut genug

Leer das volle Glas in einem Zug! Das ist klug!

Schließ die Augen einen Augenblick

Denk an gar nichts mehr als nur an Glück.

Und auf ein, zwei, drei, wirst du gleich seh’n,

Wird das Leben wieder wunderschön.

 

Tja.

Die illusionäre Seligkeit der Alkoholkranken.

Und wenn du versuchst, dich der Wirklichkeit durch Glauben oder Unlogik zu entziehen, dann wendest du die selben Mechanismen an.

 

An die Wissenschaft glaubt man genauso wenig wie man an die Schwerkraft glaubt oder daran, dass Wasser nass ist. Wissenschaft ist ein System, die Wirklichkeit verstehbar zu machen. Sie ist nicht ein System, um sich vor der Wirklichkeit zu drücken.

 

Einschub

Natürlich kann man die Wissenschaft genauso als Droge einsetzen wie Alkohol. Ich habe Wissenschaftler erlebt, die bis tief in die Nacht in ihren Laboren saßen und irgendwas austüftelten, bloß um nicht nach Hause zu müssen und sich dort ihrer kaputten Beziehung zu stellen. Aber das ist eine andere Ebene. Das ist Wissenschaftsbetrieb. Ich rede hier von der Art, wie Wissenschaft die Welt zu verstehen versucht.

Einschub Ende

 

Die Welt funktioniert nach Gesetzmäßigkeiten, die wir bislang nur im Ansatz verstehen. Und allesamt sind sie logisch. Es gibt keine unlogischen Naturgesetze. Es gibt sehr, sehr vieles, was wir noch nicht verstehen können, was wir vielleicht auch niemals begreifen werden. Aber das bedeutet nicht, dass das, was wir nicht verstehen, den Gesetzen der Logik entzogen ist.

 

Manchmal sagen mir Menschen, dass gerade ich als Psychologe doch wissen müsste, dass der Mensch nicht logisch funktioniert. Mit diesen Menschen führe ich manchmal kurze Gespräche:

Stiller: „Gilt der Satz, dass alles, was in der Natur ist, den Naturgesetzen gehorcht?“

Mensch: „Ja.“

Stiller: „Gilt weiterhin, dass die Naturgesetze logisch sind?“

Mensch: „Ja.“

Stiller: „Welcher Teil von dir gehorcht nicht den Naturgesetzen, und aus welchen Gründen tut er das nicht?“

Mensch: „…“

Oft höre ich mir dann was von Glaubenssystemen an (siehe oben).

 

Nochmal:

Dass wir etwas von der Wirklichkeit nicht verstehen und vielleicht auch nie verstehen werden, bedeutet nicht, dass es unlogisch ist.

 

Ich erlebe diese weitverbreitete Weigerung, logisch zu denken bzw. Glauben und Wissenschaft gleichzusetzen als intellektuelle Verwahrlosung. Nach meiner Erfahrung geht das unmittelbar einher mit emotionaler Verwahrlosung. Dort, wo die Logik nicht mehr gilt und Glauben und Wissenschaft nicht mehr voneinander unterschieden werden, da blühen Hass, Gewaltfantasien, Mobbing, Vernichtungsgedanken etc. Wer sich ein Bild davon machen will, braucht sich nur anzuschauen, was in den (a)sozialen Medien so alles geboten wird. Dass ich dort eine gewaltfreie und an der Logik orientierte Diskussion finde, kommt beinahe nie vor.

 

Das alles hat nichts mit Intelligenz zu tun. Ich habe oft hochintelligente Glaubensschwadronierer erlebt. Ebenso habe ich erlebt, wie Menschen mit sehr überschaubaren Geistesgaben sich nicht vor der Wirklichkeit drückten.

 

Wenn ein kleines Kind zwei Klötzchen übereinanderstellt und dann staunend begreift, dass das nicht umfällt, und dass man diese Klötzchen jedes Mal wieder so stapeln kann und dass das nicht umfallen wird, dann ist das Wissenschaft. Dann begreift dieses Kind diesen Ausschnitt der Wirklichkeit. Es hat hier ein Muster gefunden, mit dem ein Ausschnitt der Wirklichkeit widerspruchsfrei erklärbar ist: „Wenn man zwei Dinge übereinander stapelt, dann fällt das nicht um.“ Und dafür muss das Kind nicht hochbegabt sein. Später wird es dann vergleichbares mit Äpfeln oder Tomaten versuchen und dabei feststellen, dass sein ursprüngliches Erklärmuster: „Wenn man zwei Dinge übereinander stapelt, dann fällt das nicht um.“, etwas zu schlicht war und dass es komplexere Erklärmuster finden muss. So funktioniert Wissenschaft. Dafür braucht man kein Glaubenssystem. Und dieses kleine Kind glaubt auch nicht, dass die gestapelten Klötzchen nicht umfallen werden, es weiß das.

 

Später werden dann vermutlich die üblichen Verdächtigen – Eltern, Verwandte, Schule, Lehrer, Lehrerinnen etc. – diesem Kind seinen einfachen Zugang zur Wissenschaft gründlich verbauen. Aber das ändert nichts an den Fakten.

 

Wenn du also glaubst, dass man an die Wissenschaft glauben kann (oder muss), dann hast du nicht verstanden, was Wissenschaft ist. Glaubenssysteme haben ihren Sinn und ihre Berechtigung. Aber nicht dort, wo die Wirklichkeit erkannt und erklärt wird. Glaubenssysteme sind gefordert, wenn hinter die Wissenschaft gefragt wird:

Was ist der Sinn von alledem?

Wozu das alles?

Warum ist überhaupt etwas da?

Wie soll ich leben?

Und so weiter.

In diesem Bereich hat die Wissenschaft nichts verloren. Dazu kann sie nichts sagen. Wir werden es nie erleben, dass es Wissenschaftlern eines Tages gelingt, eine wirklich komplexe Formel zu lösen, so dass eindeutig feststeht, was denn jetzt der der Sinn ist vom Leben, vom Universums und von allem.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Kikkulade (Montag, 18 Januar 2021 09:12)

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    :) :) :)

  • #2

    SapereAude (Samstag, 06 Februar 2021 11:18)

    Mein Ansatz ist, meinen Gesprächspartnern meine persönliche Unterscheidung zw. subjektiver WIRKlichkeit und objektiver Realität nahezubringen.
    Habe festgestellt, dass es mich schützt, wenn ich im Gespräch mit Neurotypischen erkläre, dass ich ihre persönlichen Erfahrungen nicht in Frage stelle, sondern lediglich anbiete über ihre Kreativität reden zu können, wie viele unterschiedliche Interpretations-Möglichkeiten sie zu dieser Erfahrung entwickeln könnten.
    Bei Prof. Matthias Varga von Kibed habe ich gehört: "Wenn du merkst, dass du eine Interpretation hast, dann erschaffe ganz schnell noch mehrere weitere Interpretationen." Kommt den Neurotypischen ausreichend wertschätzend (Dr. Gunther Schmidt) vor.
    Hat für mich viele Diskussionen entschärft, weil sie sich dann nicht so persönlich angegriffen fühlen (=vorkommen).