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Lauter Irrtümer 11 - Kontrollbedürfnis

Wenn ich mir anschaue, was neurotypische Experten über das Asperger-Syndrom (AS) schreiben, stelle ich immer wieder fest, dass zahlreiche Aspekte, die aus ihrer Sicht zentral für AS sind, auf mich einfach nicht zutreffen.

 

Heute will ich über das Kontrollbedürfnis schreiben. Ich habe den Eindruck, dass in der öffentlichen Wahrnehmung ein AS jemand ist, der ein sehr großes Kontrollbedürfnis hat – engmaschige Pläne, To-do-Listen, die abgearbeitet werden müssen, starre Abläufe, die nicht verändert werden dürfen, Kontrolle eines jeden Details … Nach den Beschreibungen, die ich finde, grenzt das Kontrollbedürfnis der AS oft an Rigidität.

 

Aus Gründen, die ich nicht kenne, scheint mein Kontrollbedürfnis deutlich geringer ausgeprägt zu sein als das der meisten Menschen, die mich umgeben. Das schließt ausdrücklich auch die NTs ein. Ich will ein paar Beispiele geben, was ich damit meine und mir dann Gedanken machen, was dem zugrundeliegt.

 

Also los.

 

Beispiel 1

Zeitpunkt: Vor knapp 20 Jahren im Mai, Sonntag, ca. 10:00.

Umgebung: Bei mir daheim, es ist sonnig und warm.

Handelnde Personen: Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, ich.

Was sonst noch wichtig ist: Unsere beiden Töchter sind drei und sieben Jahre alt. Wir wohnen in einem Hochhaus im Erdgeschoss. Das Haus ist umgeben von Parkplatz, Wiesen und Feldern. Die nächste Fahrstraße ist ca. 250 Meter entfernt.

 

Ich sitze an diesem Sonntag an meinem Schreibtisch und mache irgendwas am Computer. Eilenden Schritts kommt die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, durch die ganze Wohnung zu mir.

Frau: „Wo sind die Kinder?“

Stiller: „Weiß ich nicht.“ (Arbeitet weiter am Computer).

Frau (eilt nochmal durch die Wohnung, kommt wieder zu mir): „Wo sind die Kinder?“

Stiller (etwas genervt, unterbricht seine Arbeit und schaut auf): „Siehst du sie?“

Frau: (aufgeregt): „Nein!“

Stiller: „Ja, dann seh‘ ich sie auch nicht.“

Frau (aufgeregt): „Aber sie müssen doch irgendwo sein.“

Stiller: „Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie draußen.“

Frau: „Aber wo? Haben sie sich bei dir abgemeldet?“

Stiller: „Nein, sie wissen, wie die Tür aufgeht. Und [Namen der älteren Tochter] hat einen Schlüssel.“

Frau: „Aber du musst doch wissen, wo sie sind.“

Stiller: „Ja, draußen … wenn sie nicht in der Wohnung sind.“

Frau: „Aber wo draußen?“

Stiller: „Ja, das weiß ich doch nicht.“

Frau: „Aber das musst du doch wissen!“

Stiller: „Nein, das muss ich nicht.“

Frau: „Und wenn jetzt was passiert?!“

Stiller: „Schau, sie haben die Menschenfresserei hier vor drei Jahren offiziell abgeschafft. Da passiert nichts. Die sausen irgendwo da draußen rum, treffen Freunde und entdecken die Welt.“

Frau: „Wann kommen sie wieder?“

Stiller: „Keine Ahnung. Wenn sie Hunger haben, denk‘ ich mal.“

Frau (entsetzt): „Und wenn sie nicht kommen?“

Stiller: „Ja, dann haben sie woanders gegessen.“

 

Das ging so noch eine ganze Weile. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, machte sich schreckliche Sorgen, mir schreckliche Vorwürfe, und sie erzählte irgendwas von Aufsichtspflicht und allem möglichen. In ihren Augen war ich ein grauenhafter Vater. In ihrer Vorstellung bahnten sich jetzt gerade schreckliche Dinge an. Ich nahm das zur Kenntnis und machte weiter mit meinem Kram.

 

Zum Mittagessen waren die Kinder nicht wieder da. Die Stunden vergingen. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, verbrauchte an diesem Tag Unmengen an Energie. Ich weniger. Sie ging ein paarmal raus, um die Kinder zu suchen. Sie fand sie nicht.

 

Frau (kommt aufgeregt von draußen rein): „Die Kinder sind weg!“

Stiller: „Die sind nicht weg, die sind woanders.“

Frau: „Ich kann sie draußen nicht finden.“

Stiller (schweigt)

Frau (aufgeregt): „Ich kann sie nicht finden.“

Stiller: „Ja, das sagtest du schon.“

Frau: „Ja, wo können sie denn nur sein?“

Stiller: „Wenn sie nicht draußen sind, dann sind sie wohl bei irgendeinem ihrer Freunde. Sie kennen hier ja jeden.“

Und so weiter.

 

Die Kinder kamen irgendwann nachmittags wieder zurück. Sie hatten sich zum Mittagessen bei Freunden eingeladen, wo es Gummibärchen als Nachtisch gab (sowas gab’s bei uns nicht). – Kluge Kinder.

 

 

Beispiel 2

Zeitpunkt: Vor ca. 10 Jahren im September, Dienstag, ca. 10:00.

Umgebung: In der Zentrale des Konzerns, für den ich arbeite. Im Büro des allerobersten Projektleiters. Wir sitzen in seinem Riesenbüro am Besprechungstisch.

Handelnde Personen: Der Oberprojektleiter (OP) des Konzerns, ich.

Was sonst noch wichtig ist: Ich bin seit einiger Zeit für diesen Konzern national und international als Projektleiter eingesetzt. Es sind kleinere Projekte. Die Budgets, die ich verantworte, gehen nie über 500.000 Euro hinaus. Ich habe mich nicht darum gerissen, Projektleiter zu werden, ich wurde dazu bestimmt. Erst hatte ich ein Projekt, dann zwei … und so weiter. In jedem Projekt habe ich fünf bis zehn Mitarbeiter, die mich entlasten und Sonderaufgaben übernehmen. Meistens habe ich zwei bis drei Projekte gleichzeitig.

 

Oberster Projektleiter: „Herr Stiller: Ich will mit Ihnen noch mal Ihren Projektplan durchgehen.“

Stiller: „Bitte.“

OP (nimmt ein paar Blätter Excel zur Hand): „Hier steht, dass Sie jetzt durch die Planung der Phase B sind und mit den Befragungen der Field Manager beginnen.“

Stiller: „Das ist korrekt.“

OP: „Hier steht, dass Sie das mit dem Marketing abstimmen. Ist das schon gemacht worden?“

Stiller: „Weiß ich nicht.“

OP (scharf): „Warum wissen Sie das nicht?!“

Stiller: „Weil das für die Befragung der Field Manager und die Projektergebnisse völlig unerheblich ist. Ich habe diese Abstimmung an das Projektoffice delegiert. Herr [Name eines Projektmitarbeiters] kommt aus dem Marketing, der ist in ständigem Kontakt mit denen.“

OP: „Wann hat er sich zum letzten Mal mit dem Marketing ausgetauscht?“

Stiller: „Das weiß ich nicht.

OP (macht ein sehr bedenkliches Gesicht, fährt mit dem Zeigefinger weiter über Excel-Tabellen, die vor ihm liegen): „Und hier – das sollte Anfang August gemacht werden: „Budgetierung der Reisekosten.“ Ist das gemacht worden?“

Stiller: „Ja. Ist abgeschlossen, eingereicht und abgesegnet. Das Budget für die Reisekosten steht.“

OP: „Wie hoch ist dieses Budget?“

Stiller: „Keine Ahnung. Da müsste ich nachgucken. 20.000 Euro, glaube ich.“

OP (ernst): „Aber das müssen Sie als Projektleiter doch wissen!“

Stiller: „Nein, das muss ich nicht. Ich muss dafür sorgen, dass das Projekt ein Erfolg wird. Alles andere ist nachrangig. Die genauen Zahlen hat [Name eines Projektmitarbeiters]. Ich muss nur wissen, dass das Budget reichen wird, und das tut es.“

 

Auch das ging eine ganze Weile so. Der Oberste Projektleiter las mir irgendwas aus dem Projektplan vor, den ich eingereicht hatte (und der vor Monaten genehmigt worden war) und wollte von mir wissen, ob Details daraus gemacht worden waren:

„Hier – Meilenstein 5a, … der sollte am Montag abgeschlossen sein - kann man da jetzt einen Haken dran machen?!“

Und ich konnte ihm im Grunde immer nur sagen:

„Ich habe keine Ahnung. Aber wir sind im Projekt gut unterwegs.“

 

Wir waren immer gut unterwegs in meinen Projekten. Das war nie anders. Immer gelang es mir, die Mannschaft auf das gemeinsame Ziel einzuschwören, so dass jeder sein bestes gab. Aber ich hatte nie ein Auge auf die Details. Dafür hatte ich mir Leute ins Team geholt, die sowas wesentlich besser konnten als ich. Da hatte ich Leute, von denen ich sagte:

„Die tun sich Excel sogar morgens ins Müsli.“

Die Projektpläne, die ich mit ihnen erarbeitet hatte, umfassten regelmäßig mehrere hundert Punkte und gingen über zwei bis drei Jahre. Ich kannte diese Pläne immer nur in groben Zügen. Aber diese Excel-Freaks in meinen Teams, die waren in der Lage, jederzeit aus dem Stand zu sagen, welcher dieser Punkte bereits erledigt war und welcher nicht. Und das reichte mir vollkommen. Mehr musste ich nicht wissen.

 

 

Beispiel 3

Zeitraum: Vor knapp 5 Jahren im Februar, Dienstag, ca. 16:00

Umgebung: In der Wohnung eines andere AS. Handelnde Personen: Der andere AS, ich.

Was sonst noch wichtig ist: Der AS sitzt an seinem Schreibtisch, ich stehe schweigend daneben.

 

AS (geht mit gefurchter Stirn und schweigend durch einige seiner Listen): „Hier, steht auf meiner To-do-Liste. Kann … man … einen … Haken dran machen. So!“

Stiller (guckt sich das an, schweigt).

AS: (geht mit gefurchter Stirn weiter durch seine Listen: „Und hier ... (er guckt auf zu mir) sag‘ mal, steht das eigentlich auch auf deiner To-do-Liste?"

Stiller: „Ich mache keine To-do-Listen. Oder nur ganz, ganz selten.“

AS (reißt die Augen auf): „Du machst keine To-do-Listen?!“

Stiller: „Nein. Das wesentliche habe ich im Kopf. Der Rest ergibt sich.“

 

 

So, das soll an Beispielen erst mal reichen. Ich denke, das Muster ist erkennbar geworden: Mein Kontrollbedürfnis ist vergleichsweise gering. Ich will das noch ausdetaillieren.

 

 

1

Ich muss andere Menschen nicht kontrollieren.

Ich muss nicht wissen, wo sie sind, und was sie gerade machen. Wenn es erwachsene Menschen sind, dann gehe ich davon aus, dass sie wissen, was sie tun. Das muss ich nicht kontrollieren. Sollte die Erfahrung gezeigt haben, dass es bei einzelnen Erwachsenen ohne Kontrolle nicht geht, dann leite ich natürlich das nötige in die Wege.

 

Wenn es Kinder sind, muss ich nur wissen, was ihr Entwicklungsstand ist und welche Gefahrenpotenziale die Umgebung bietet, in der sie sich gerade befinden. Wenn die Gefahrenpotenziale nicht gravierend sind, dann greife ich auch nicht ein.

 

 

2

Ich muss die Abläufe und die Details nicht kontrollieren. Das meiste ergibt sich von selbst.

Zum Beispiel, wenn Kinder miteinander spielen – ich muss da nichts kontrollieren. Sie sind ja nicht bescheuert und irgendwas wird dabei schon rauskommen.

Zum Beispiel, wenn Menschen, für die ich Führungsverantwortung habe, irgendwas ausarbeiten: Ich habe sie ins Team geholt, weil sie kompetent sind. Da wird schon was bei rauskommen, wenn sie Problemlösungen entwickeln. Diese Menschen haben die Details viel besser im Blick als ich. Warum sollte ich mich da um Details kümmern?

(Auch hier gilt: Sollte die Erfahrung zeigen, dass Kontrolle notwendig ist, dann werde ich das Entsprechende in die Wege leite. Das bedeutet nicht, dass ich ab jetzt alles kontrolliere, sondern dass ich Rahmenbedingungen schaffe, die eine ausufernde Kontrolle nicht nötig machen. Ich habe mich auch schon von Mitarbeitern getrennt, weil sie nicht in der Lage waren, ohne Kontrolle gute Arbeit abzuliefern).

 

Wenn es tatsächlich mal um Details geht, und eine Person, die ich für kompetent und vertrauenswürdig halte, hat die Details geprüft, dann verlasse ich mich darauf. Ich muss das nicht nochmal kontrollieren.

 

 

3

Ich kontrolliere auch mich selber nicht.

Das betrifft zwei Seiten:

a)    Die zeitnahe Vergangenheit

b)    Die Zukunft

 

3a) Die zeitnahe Vergangenheit

Wenn ich das Haus verlassen habe, dann gehe ich davon aus, dass ich die Fenster geschlossen habe und den Herd ausgemacht habe (und so weiter). Manchmal habe ich in mir Dialoge, die sich so anhören:

Innenteil: „Boah, warte – ist das Fenster im Schlafzimmer eigentlich zu?“

Stiller: „Hast du es aufgemacht?“

Innenteil: „Nein.“

Stiller: „Ja, dann wird es wohl zu sein, oder?“

 

Manchmal habe ich so Anwandlungen, dass ich nicht weiß, ob ich die Wohnung abgeschlossen habe oder die Handbremse im Auto angezogen habe – oder, oder, oder. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass meine Sorgen fast immer völlig unbegründet sind.

Also lass‘ ich das Nachkontrollieren sein. Es ist ein sehr alter Beschluss in mir:

„Ich vertraue mir selber.“

 

3b) Die Zukunft

Pläne mache ich, wenn ich es für notwendig halte. Meistens halte ich sie für nicht notwendig, weil mich die Erfahrung gelehrt hat, dass die Wirklichkeit nur kichert, wenn ich irgendwas plane.

 

Was ich in meinem Leben plane, sind grobe Rahmenpunkte: Wann ich in Rente gehen werde, wo ich meinen ständigen Wohnsitz haben werde, wie ich mich beruflich verändere etc.

Diese groben Rahmenpunkte geben meinem Leben die Richtung vor.

Der Rest ergibt sich aus dem ganz konkreten Tun.

Das muss ich nicht im Voraus planen. Im Projektmanagement heißt es dazu:

„Wer plant, der ersetzt den Zufall durch den Irrtum.“

 

Und vom wegen To-do-Listen: Wenn ich vergesse, irgendwas zu tun, was ich mir fest vorgenommen hatte, dann wird das schon seine Gründe haben: Ich wollte mich drücken, es hat Angst in mir ausgelöst oder es hat mich an irgendwas unangenehmes erinnert und so weiter. Damit kann ich gut leben. Ich verzeihe mir vieles. Und am weitaus häufigsten ist dieser Grund:

In Wirklichkeit war es mir einfach nicht wichtig gewesen. Ich hatte es geplant, aber in Wirklichkeit wollte ich gar nicht.

Und in diesem Fall kann ich es getrost aus meinem Leben streichen.

 

Mein Leben hat Struktur und Richtung. Und es hat eine ziemliche Dynamik. Die Veränderungen in meinem Leben waren immer schon immens. Aber ich kontrolliere mein Leben nicht, ich lebe es.

 

 

4

Grundsätzlich gilt in meinem Leben:

„Das wird schon.“

Mein Leben ist an Krisen wirklich nicht arm. Zum Beispiel: Zwischen 1994 und 2015 hatte ich beinahe ununterbrochen Krise – über zwei Jahrzehnte lang. Und diese Krisen waren wirklich gravierend. Erst habe ich 13 Jahre praktisch jeden Tag um meinen Job gekämpft (und ihn mehrfach trotzdem verloren). Dann schlossen sich sieben Jahre Sorge um meine beiden Töchter an. Ich bin da meines Lebens nicht mehr froh geworden. Im Amerikanischen heißt es dazu: „Wenn du Vater bist, dann bist du nur noch so glücklich wie dein unglücklichstes Kind.“ Als die erste Tochter in die Pubertät kam, lief sie komplett aus dem Ruder (Sprachbild). Vier Jahre lang. Die Sorgen fraßen mich schier auf. Ich konnte im Spiegel geradezu zusehen, wie meine Haare grau wurden. Dann schloss sich übergangslos die Pubertät meiner jüngeren Tochter an. Diesmal wurden meine Haare schlohweiß. Hatte ich vorher nicht geglaubt, dass Sorgen die Haare grau werden lassen – heute brauche ich das nicht mehr zu glauben. Heute weiß ich das.

 

Krise definiere ich so:

„Krise ist, wenn das, was dich bewegt, der letzte Gedanke ist, mit dem du abends einschläfst und der erste Gedanke, mit dem du morgens aufwachst.“

 

In all den Krisen, die ich bislang hatte, habe ich zwei Dinge gelernt:

1.)   Es gibt eine Lösung. Man muss sie nur finden.

2.)   Das wird schon.

 

Ich habe diese Krisen gemeistert. Alle. Nicht durch Gebete oder soziale Unterstützung oder Kontrolle. Es war Eigenleistung – die meiner Kleinen und meiner Innenteile, und ganz viel die meiner Töchter. Und natürlich hatten wir immer wieder auch einfach Glück. Ohne das nötige Quantum Glück läuft sowieso nichts. Aber das kann ich nicht herbeikontrollieren.

Und was meine eigene Leistung betrifft, war es vor allem dieses:

a)    Ständiges Nachdenken – Tag und Nacht (buchstäblich) -, solange, bis ich Lösungen hatte.

b)    Nach dem Nachdenken die beherzte Tat: Volles Risiko.

 

Krisen werden nach meiner Erfahrung durch die Tat bewältigt und durch sonst nichts.

Und vor der Tat sollte das Nachdenken stehen, damit das Tun zu einer praktikablen und nachhaltigen Lösung führt.

Natürlich kann sowas immer auch schief gehen. Dann versuche ich es eben erneut – solange, bis es klappt. Verglichen mit anderen Menschen bin ich ziemlich risikobereit. Lieber tue ich was, um Erfahrungen zu sammeln als ewig nachzudenken, bis ich die perfekte Lösung habe.

 

Hätte ich in diesen zwanzig Jahren den Lauf der Dinge kontrollieren wollen – ich wäre zu buchstäblich gar nichts mehr gekommen, und ganz sicher hätte ich diese Krisen nicht gemeistert. Ganz, ganz sicher nicht.

 

Denn Kontrollbedürfnis muss man sich auch leisten können.

In der Soziologie heißt es, dass die einzige Möglichkeit, die Komplexität eines sozialen Systems zu reduzieren, ist, sich gegenseitig zu vertrauen. Kontrollbedürfnis ist immer Misstrauen. Und tatsächlich: Misstrauen muss man sich leisten können. Man muss Zeit und Energie in Misstrauen investieren.

In einem Leben wie dem meinen geht das nicht. Völlig ausgeschlossen. Mein Leben ist derart komplex und energiefordernd, dass ich nicht auch noch Zeit und Energie für umfassende Kontrolle aufbringen kann. In meinem Leben würde ein starkes Kontrollbedürfnis unentrinnbar das Scheitern bedeuten. Das Scheitern des ganzen Lebens, wohlgemerkt.

 

Und danach hat mir wirklich nie der Sinn gestanden.

 

 

 

 

Zum Schluss noch ein paar Randbemerkungen:

 

1

Die latente, unbewusste Aggression.

 

Wenn Menschen sich grundlos Sorgen um andere machen, dann erlebe ich das meistens als unbewusste und latente Aggression. Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kontrolliert gerne und viel. Praktisch immer will sie von mir wissen, wo ich bin, und was ich gerade tue, wann ich wiederkommen werde etc. Sag‘ ich ihr meistens nicht. Früher verlangte sie von mir, dass ich mich regelmäßig meldete, wenn ich irgendwo angekommen war. Ich bin beruflich deutlich mehr unterwegs als die meisten anderen Menschen. In den letzten zwanzig Jahren habe ich beruflich mehr als eine Million Kilometer im Auto zurückgelegt. Dabei ist nie irgendwas gravierendes passiert. Und mich jedes Mal bei der Ankunft an einem Ziel zu melden, das hätte für mich einen nicht zumutbaren Aufwand bedeutet.

 

Sie sagte mir, dass sie sich Sorgen um mich machte.

Ich fragte sie, was das denn für Sorgen wären.

Sie erzählte mir von Unfällen und dergleichen.

Ich antwortete ihr:

„Wenn mir irgendwas zustößt, dann bekommst du Besuch von zwei Menschen in Uniform, die dich informieren. Die sind für sowas ausgebildet und haben mit sowas Erfahrung. Und solange die nicht bei dir klingeln, ist alles in Ordnung. Unfälle sind sehr, sehr selten.“

Sie ließ nicht locker und erzählte mir von den Unfällen, von denen sie in den Nachrichten hörte, und die sie in der Zeitung fand.

Ich antwortete ihr:

„Das sind Zeitungen. Die müssen sowas schreiben. Wenn die Schlagzeile lautet: „99,99% aller Autofahrten verliefen heute unfallfrei (so wie sonst auch)“, dann liest das keiner.“

Sie erzählte mir weiter von solchen Unfällen. Ich antwortete ihr:

„Das sind deine Gedanken und deine Vorstellungen. Die haben mit der Realität nichts zu tun. Wenn du mich in deinen Gedanken zigmal zu Tode kommen lässt, wenn ich auf Dienstreise bin, dann hat das mit deinen Aggressionen gegen mich zu tun, aber nicht mit der Wirklichkeit. Du bringst mich in Gedanken um, nicht irgendwas in der Realität da draußen.“

 

Das war absolut logisch. Das musste auch die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, eingestehen. Aber sie ist NT. Und das bedeutete: Sie wollte von Logik nichts wissen. Doch ich wollte mich nicht länger dazu missbrauchen lassen, irgendwelche Ängste von ihr zu besänftigen, die daraus entstanden, dass sie einen mörderischen Hass gegen mich hatte, den sie sich nicht eingestand. Also hab‘ ich das mit den Rückmeldungen gelassen.

 

Es kann schwierig sein, mit einem Psychologen verheiratet zu sein, ich weiß das. Umso schlimmer, wenn er auch noch Autist ist. Das weiß ich auch.

 

 

2

Ich bin Viele

 

Wenn ich mich kontrollieren wollte, dann käme ich zu gar nichts mehr. Meine Therapeutin verlor schon kurz nach Therapiebeginn völlig den Überblick, von wem in mir ich ihr da berichtete.

 

Einschub

Wir sind Viele. Wir sind sehr viele. Aber schon seit Jahrzehnten haben wir einen in uns, der ist der „Herr im Haus“. Der vertritt uns nach außen, und nach innen sorgt er für Ordnung und Frieden. Im Außenkontakt ist dieser „Herr im Haus“ auch immer der, der von „ich“ spricht oder schreibt, so wie hier. Die Kleinen nennen ihn „Papa“ oder „Meister“ (und treiben sehr viel Schabernack mit ihm).

 

Auch unsere Therapeutin hat bislang beinahe ausschließlich mit dem zu tun gehabt, der uns nach außen vertritt. Aber wenn wir davon berichten, wie es in uns aussieht, dann kann das ziemlich verwirrend wirken. Wir wissen das.

Einschub Ende

 

Ich machte ihr also eine Excel-Liste mit den wesentlichen handelnden Personen. Da kam ganz schön was zusammen.

 

Irgendwann kam in einer Vorbesprechung zur eigentlichen Therapie zur Sprache, dass wir uns im Inneren laufend verändern, dass wir mal mehr, mal weniger sind, und dass es ziemlich wuselig in uns ist. Die Therapeutin fragte uns, wie wir denn da den Überblick behalten würden. Ich antwortete:

 

„Ich hab‘ keinen Überblick. Nie gehabt. Die sollen machen, was sie wollen. Ich muss‘ das nicht wissen. Es gibt Regeln, und an die hat sich jeder zu halten. Und wenn sie das tun, dann greife ich nicht ein. Sie müssen mich auch nicht informieren. Sie dürfen halt nicht ungefragt nach außen wirksam werden. Aber sonst … Sie dürfen sich jederzeit melden, wenn es ihnen nicht gut geht oder sie was brauchen. Und ansonsten … ich lass‘ sie machen.“

Sie beharrte:

„Aber wie wissen Sie denn, wer die alle sind?“

Ich antwortete:

„Ich weiß nicht, wer die alle sind. Die, die häufig agieren, die kenne ich. Und der Rest … Was soll ich machen? Wir waren bei der letzten Volkszählung 624. Soll ich jetzt 624 Personalakten anlegen? Da käme ich ja zu gar nichts mehr. Damit wäre ich ja rund um die Uhr beschäftigt.“

 

In uns ist also kreatives Chaos. Ständig. Ich setze einen Rahmen, in dem sich dieses Chaos ungestört und ungefährdet entfalten kann. Und ich weiß aus Erfahrung, dass dabei immer was rauskommen wird. Meine Kleinen kichern und wuseln den ganzen Tag durch die Gegend. Und sie machen Unsinn. Die ganze Zeit. Völlig unkontrolliert (innerhalb dieses Rahmens).

 

Und das funktioniert wunderbar.

Auch und gerade in Krisen.

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