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Das Neurotypische Syndrom 23 - Sagen und hören

Ich habe diese Thematik schon mal an anderer Stelle erörtert ("Getobt"). Aber mit den Jahren hat sich das gehäuft. Und manchmal bin ich es sehr, sehr müde. Dann will ich die Kommunikation mit NTs komplett und für immer einstellen. Es hat ja doch keinen Sinn.

 

Worum geht’s?

 

Enorm viele NTs hören im Gespräch mit mir nicht das, was ich sage, sondern das, was sie hören wollen. Sie hören dann das, was ich ihrer Meinung nach angeblich gesagt habe. Und das hat mit dem, was ich tatsächlich gesagt habe, oft genug herzlich wenig zu tun. Beim Schreiben ist es dasselbe. Es ist also ziemlich egal, was ich ihnen sage oder schreibe – sie hören und lesen ja doch etwas anderes.

 

Sehr viele NTs tun das. Ich habe Untersuchungen dazu gemacht: Sie tun das völlig unabhängig von Alter, Geschlecht, Ausbildung, sozialer Schicht und politischen Vorlieben. Sie hören nicht das, was ich sage, sondern das, was ich ihrer Vorstellung nach gesagt habe. Sie lesen nicht das, was ich schreibe, sondern dass, was ich ihrer Meinung nach geschrieben habe.

 

Sie reagieren damit nicht auf mich, sondern auf eine Wirklichkeit, die nur zwischen ihren Ohren existiert. Mich machen sie dann verantwortlich für diese Wirklichkeit. Und oft genug überziehen sie mich dann mit Vorwürfen.

 

Aber was kann ich für ihre Wirklichkeit?

Oft genug will ich nicht mehr auf diese Weise kommunizieren müssen. Nie wieder. Ich bin es ganz schrecklich müde.

 

Um konkrete Beispiele zu geben, will ich mal einen kleinen Ausschnitt aus meiner Sammlung geben:

 

 

Ich sage / schreibe

Sie hören / lesen

Ich bin Autist

Ich bin gefährlich.

Ich bin Autist

Ich habe von Gefühlen keine Ahnung.

Ich bin Autist

Ich verstehe nichts von Menschen.

Ich bin Autist

Ich bin ein Computergenie, beinahe ein Cyborg.

Ich bin Autist

Ich bin der Rainman.

Ich bin Autist

Ich bin der nächste Amokläufer.

Ich bin Autist

Ich bin unverstehbar.

Ich bin Autist

Ich bin behindert.

Ich bin Autist

Ich brauche Hilfe.

Ich bin Autist

Ich bin krank.

Ich bin Autist

Erlöse mich von meinem schrecklichen Schicksal – am besten, indem du mich zutextest und körperlich übergriffig wirst. Überschütte mich mit deiner Liebe.

Ich bin Autist

Mein IQ ist überirdisch.

Ich bin Autist

Ich kann nicht alleine leben.

Ich bin Autist

Ich bin arbeitslos.

Ich bin Autist

Ich arbeite lieber mit Computern als mit Menschen.

Ich bin Autist

Bitte bezweifle das, denn ich habe keine Ahnung, wovon ich rede. Weise mir umgehend und umfassend nach, dass ich gar kein Autist sein kann.

Ich bin Autist

Ich will mich nur wichtig machen und habe mir dafür etwas ganz neues einfallen lassen.

Ich halte das gedeihliche Zusammenleben von AS und NTs für unmöglich.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Das Verhalten von NTs ist für mich – auf lange Sicht - gesundheitsschädlich. Ich muss mich vor ihnen schützen.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Nach kurzem Kontakt mit NTs muss ich mich von ihnen wieder zurückziehen, um mich zu erholen.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Wenn AS gestört sind, dann sind NTs genauso gestört.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Die meisten neurotypischen Experten für das Asperger-Syndrom haben bemerkenswert wenig Wissen darüber, wie es in uns aussieht.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen. Du bist völlig ahnungslos und weißt sowieso nichts. 

Wer eine Inklusion der AS in die Welt der NTs anstrebt, der folgt einer politisch korrekten Illusion, die für AS sehr gefährlich ist.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen. NTs und AS können nicht friedlich und gedeihlich nebeneinander leben.

AS brauchen einen geschützten Raum, in dem sie vor NTs wirklich sicher sind.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen. Ich halte dich für gefährlich und für einen schlechten Menschen. Alles an dir ist abzulehnen.

Die meisten NTs verhalten sich ziemlich merkwürdig.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Die meisten NTs …

Alle NTs. Und ganz besonders du …

Viele NTs …

Alle NTs. Und ganz besonders du …

Manche NTs …

Alle NTs. Und ganz besonders du …

Einige wenige NTs …

Alle NTs. Und ganz besonders du …

Ich habe schon NTs erlebt, die…

Alle NTs. Und ganz besonders du …

So ziemlich alle Störungsmuster (z.B. die aus der ICD), die die NTs uns andichten, haben sie entweder selber oder sie haben sie mit genau umgekehrten Vorzeichen.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen. Alle NTs sind zutiefst gestört.

Verglichen mit den meisten AS sind die meisten NTs sehr unsensibel und sehr oberflächlich in dieser Welt unterwegs.

Ich hasse NTs. Und dich im speziellen.

Tut mir leid, ich will jetzt nicht mit dir reden.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Bitte lass‘ mich jetzt in Ruhe.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Bitte mach‘ das Radio aus.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Nein, ich komme nicht zu deiner Feier.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Nein, ich gehe nicht mit dir essen.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Ich halte das, was du jetzt sagst, für sehr wenig durchdacht.

Du bist ein sehr dummer Mensch. Du kannst nicht richtig denken und hast noch nie einen klaren oder klugen Gedanken geäußert.

Ich erlebe dich als einen sehr oberflächlichen und langweiligen Menschen.

Ich hasse dich. Menschen wie dich dürfte es gar nicht geben.

Nein, ich will nichts mit dir unternehmen.

Ich hasse dich. – oder – Du bist mir egal.

Ja, ich habe deinen Anruf gesehen, aber ich telefoniere so ungern, dass ich nicht drangegangen bin.

Ich hasse dich. Dein Anruf war völlig unwichtig. Du bist mir egal.

Komm‘ bitte auf den Punkt, wenn du mit mir redest.

Ich hasse dich.

Ich merke mir beinahe alles, was du sagst. Ich bitte dich deshalb, dich nicht zu wiederholen, wenn du mit mir sprichst. Einmal gesagt reicht.

Ich hasse dich.

Ich habe echt gesundheitliche Schwierigkeiten und weiß nicht, ob ich es halbwegs gesund bis in die Rente schaffe.

Erzähl‘ mir davon, wie schlecht es dir geht. Das interessiert mich jetzt brennend.

Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt. Können Sie mir sagen, wie ich zur Rathausstraße komme?

Gib‘ mir bitte einen längeren Abriss über die Geschichte dieser Stadt im Allgemeinen und über dein Befinden im Speziellen. Das interessiert mich jetzt brennend.

Es tut mir weh, wenn du mir in die Augen schaust. Schau bitte woanders hin.

Bitte schau mir jetzt ganz besonders intensiv in die Augen, um zu prüfen, ob wahr ist, was ich dir gerade gesagt habe. Nimm mich auf keinen Fall ernst mit dem, was ich sage.

Ich überlege ernsthaft, in eine Region zu ziehen, die deutlich weniger dicht besiedelt ist. Hier wohnen zu müssen macht mich fertig.

Erzähle mir bitte ausführlich von Menschen, denen es deutlich schlechter geht als mir und die alles dafür geben würden, hier zu wohnen. Erzähle mir, dass ich da wohne, wo andere Urlaub machen.

Ich bin weit überdurchschnittlich intelligent.

Ich will schrecklich angeben. Oder: Du bist schrecklich dumm. Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit dir überhaupt abgeben soll.

Ich hab‘ jetzt große Schwierigkeiten, dir zuzuhören, weil ich sensorisch überlastet bin. Verzeih bitte, aber ich muss mich jetzt sofort zurückziehen.

Ich will mich jetzt total wichtig machen und in den Vordergrund spielen. Bitte nimm keinerlei Rücksicht auf mich. In meiner grenzenlosen Gier nach sozialer Aufmerksamkeit würde ich dir jetzt geradezu alles erzählen.

Mein räumlicher IQ liegt bei knapp 90. Da bin ich grenzdebil.

Ich will mich wichtig machen.

Nein, ich will nicht.

Ja, ich will.

Ich mag nicht umarmt werden.

Ich brauche ganz viel Liebe. Überschütte mich damit.

Nein, alles ok. (Auf die Frage, ob ich irgendwas „hätte“, ob irgendwas nicht in Ordnung sei.)

Glaub‘ mir bitte kein Wort. Wenn ich sage, dass mit mir alles ok ist, dann meine ich das Gegenteil und will, dass du das durch intensives Nachfragen rauskriegst.

Ich habe nachgedacht.

Ich kann nicht fühlen.

Deine Gefühle scheinen unlogisch zu sein.

Ich habe keine Ahnung von Gefühlen. Oder: Deine Gefühle sind falsch.

Ich habe deine Wegbeschreibung nicht verstanden.

Du bist schrecklich kompliziert. Und erklären kannst du auch nichts – dumm, wie du nun mal bist.

 

 

 

Ich könnte diese Liste natürlich noch ganz erheblich verlängern. Aber vermutlich ist klar geworden, was ich ausdrücken will.

Und für die, die eh nur auf die Wirklichkeit reagieren können, die in ihnen ist:

Ja, selbstverständlich – ich hasse alle NTs und dich ganz besonders. Hier steht es jetzt schwarz auf weiß, und du kannst dich bestätigt fühlen. Druck‘ es aus, rahm‘ es ein, häng’s dir an die Wand – endlich die Bestätigung dessen, was du immer schon wusstest.

 

Echt, Leute - wenn ich spreche, und wenn ich schreibe, dann drücke ich mich so präzise und unmissverständlich aus, wie ich kann. Lange Jahre habe ich gedacht, dass es an mir und meiner Ausdrucksweise liegt, dass mich die meisten NTs so derart krass missverstehen. Mittlerweile habe ich zu dieser Thematik etliche Untersuchungen und Beobachtungen gemacht und bin erleichtert: Alles deutet darauf hin, dass es kaum an mir liegt. Die meisten NTs, denen ich begegne, sind mit einer gusseisernen inneren Wirklichkeit ausgestattet. Egal, was ich sage oder schreibe: Sie nehmen nur diese Wirklichkeit wahr, die in ihnen ist. Und wenn die Wirklichkeit, die ich ihnen anbiete, nicht zu ihrer gusseisernen inneren Wirklichkeit passt, dann verfälschen sie ihre Wahrnehmung. Sie verfälschen ihre Wahrnehmung solange, bis sie wieder zu ihrer inneren Wirklichkeit passt. Sie reagieren dann also nicht auf mich. Sie reagieren auf die Wirklichkeit, die in ihnen ist. Und was sie dann tun, fühlen oder denken, das hat so gut wie nichts mit mir zu tun.

 

Es gibt da aber auch noch die andere Seite:

Vor vielen, vielen Jahren – ich ging noch zur Schule –, wurde mir von Lehrern und Mitschülern ein Buch der Autoren Schwäbisch und Siems nahegebracht: „Anleitung zum sozialen Lernen“. Ich sollte darin lesen, um zu lernen, wie man sich sozial verhält. Ich habe darin gelesen. Und ich fand so merkwürdige Beispiele wie:

Wenn ein kleines Kind nach der Uhrzeit fragt, dann soll man sich bewusst sein, dass es sein kann, dass es Hunger hat und dementsprechend reagieren.

Damals dachte ich:

Was für ein Unsinn! Wenn ein kleines Kind Hunger hat, dann wird es mir das sicher sagen. Und wenn es mich nach der Uhrzeit fragt, dann will es die Uhrzeit wissen (und nichts sonst). Wenn ich weiß, wie spät es ist, dann werde ich ihm das sagen und es nicht fragen, ob es Hunger hat.

 

Nicht zu sagen, was man denkt, fühlt und meint, sondern „durch die Blume“ irgendwas anzudeuten oder irgendwie drumrum zu reden, das schien für diese Autoren besonders „sozial“ zu sein.

Nach allem, was ich weiß, sehen das viele NTs genauso.

In meiner Welt ist das ziemlich blödsinnig und fürchterlich umständlich.

Wenn ich irgendwas sage, dann meine ich das meistens auch genau so und deute nicht irgendwas an. Im meisten, was ich sage und schreibe, steckt kein verborgener Hintersinn.

 

Als meine Töchter noch klein waren, habe ich ihnen das immer wieder verdeutlicht:

„Wenn du willst, dass ich dich verstehe, dann musst du mir sagen, was ist. Ich kann deine Gedanken nicht lesen.“

 

Wenn also jemand mit mir kommunizieren will, dann bitte klar und direkt. Ich halte es umgekehrt genauso. Wenn wir einander sagen, was wir fühlen, denken und meinen, muss niemand in die Worte des anderen irgendwas hineininterpretieren. Die Zeit, die andere mit Rätselraten verbringen: „Was könnte der andere jetzt damit gemeint haben?!“, die können wir uns schenken.

 

Und Zeit gehört für mich zu den schönsten Geschenken, die es gibt. Wenn wir die Zeit nicht mehr mit so einem Blödsinn verschwenden müssen, dann können wir sie nutzen, um all die herrlichen Dinge zu tun, zu denen wir sonst viel zu wenig kommen.

 

Schenken wir uns also diese Zeit.

Wahrheit und Klarheit in unserer Kommunikation bekommen wir umsonst dazu.

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Kommentare: 3
  • #1

    Peter (Sonntag, 13 Dezember 2020 11:48)

    Sehr genau getroffen. Ich versuche zeitweise, alles was ich zu sagen habe, schriftlich zu fixieren, z.B. nur per e-mail zu schreiben. Ich erlebe nämlich, dass mir Aussagen angedichtet werden, die ich nie gemacht habe. Ich kann es schwarz auf weiss widerlegen, was mir angedichtet wird. Und dann trotzdem nochmal der Versuch, das ganze umzuinterpretieren. Hat wohl oft wirklich keinen Sinn. Ich habe mir angewöhnt, Endlosschleifen schnell zu beenden.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 13 Dezember 2020 14:47)

    Hallo Peter,

    die Verschriftlichung der Kommunikation ist ein Hilfsmittel, das ich oft nutze. Schon seit Jahrzehnten bewahre ich alle Emails auf, die ich beruflich versende oder empfange.

    Ich habe damit dieselbe Erfahrung gemacht wie du: Wenn die Leute trotz der Schriftlichkeit etwas in meine Kommunikation hineininterpretieren wollen, dann tun sie das:
    NT: "Aber das kann man so interpretieren, Herr Stiller."
    Stiller: "Nein, das kann man nicht. Jedenfalls nicht, wenn man sich an das hält, was ich geschrieben habe."
    NT: "Sehen Sie? - Schon wieder so eine scharfe Erwiderung!"

  • #3

    SapereAude (Samstag, 06 Februar 2021 10:37)

    Das ist so 1:1 schmerzhafte Realität. Unsagbar energie-raubend.