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Das Neurotypische Syndrom 21– Die Ankündigungsweltmeister

Es gibt etwas, was ich in dieser Form bislang nur bei Neurotypischen erlebt habe. Bei Autisten, mit denen ich regelmäßig kommuniziere, scheint es – wenn überhaupt - bedeutend seltener vorzukommen. Aber meine Datenbasis ist zu klein, als dass ich mit Sicherheit sagen könnte: „So ist es“ bzw. „So scheint es zu sein“.

 

Deshalb gibt dieser Text nicht wissenschaftlich Fundiertes, sondern nur Hypothesen, Meinungen und Mutmaßungen von mir wieder.

 

Worum geht’s?

 

Es müssen zwei Dinge gegeben sein:

a)    Ein Neurotypischer nimmt von sich aus Kontakt mit mir auf.

b)    Dieser NT weiß, dass ich Autist bin.

 

Was passiert dann?

 

Häufig erlebe ich, dass dieser NT mich dann zu einem gemeinsamen Projekt einlädt (das geschieht bislang fast immer per Mail):

1)    Ein gemeinsames Buch schreiben – dreimal erlebt

2)    Gemeinsam einen Artikel für eine renommierte wissenschaftliche Zeitschrift schreiben – einmal erlebt

3)    Gemeinsam ein Theaterstück verfassen – einmal erlebt

4)    Gemeinsam einen Vortrag auf einer größeren Tagung halten – mehrmals erlebt

 

Diese Dinge schlägt der NT vor. Er kommt von sich aus auf mich zu, um mir das anzutragen. Nichts in meinem vorherigen Verhalten hat darauf hingedeutet, dass ich das jetzt zusammen mit ihm machen will.

Ich willige ein, dass wir das ins Auge fassen und stelle die notwendigen Fragen. Ich brauche Daten, wenn ich mir Klarheit darüber verschaffen will, ob so ein Projekt etwas für mich wäre:

1.    Was ist das Ziel? (Was soll nach dem Projekt anders sein als vorher, bzw. woran werden wir erkennen, dass das gemeinsame Projekt ein Erfolg ist?)

2.    An wen wendet sich das? (Wer sind die potenziellen Kunden bzw. Abnehmer?)

3.    Was sind die notwendigen Liefergegenstände?

4.    Wer macht was bis wann? (Bzw. Wer ist in diesem Projekt für was verantwortlich?)

 

Meistens ist an dieser Stelle schon Schluss. Ich formuliere und versende meine Fragen. Und danach ist Ruhe und Stille. Ich höre und lese nichts mehr von diesem NT. Vermutlich bleibt das so bis zum Jüngsten Tag.

 

In manchen Fällen werden einige meiner Fragen beantwortet – andere nicht. Ich hake dann nach, denn ich brauche ja präzise Daten. Und dann …

… dann ist Ruhe und Stille. Ich höre und lese nichts mehr von diesem NT. Vermutlich bleibt das so bis zum Jüngsten Tag.

 

Ich habe keine Ahnung, was diese NTs antreibt. Voller Begeisterung, Elan und Energie schildern sie mir ihre Vorschläge. „Unbedingt“ und „“wäre großartig“ und „auf jeden Fall“. „Einzigartig“ und „noch nie gelesen“ und „wäre doch mal eine tolle Möglichkeit.“ Und so weiter.

 

Die NTs, die mich mit ihren Projektideen kontaktieren, entpuppen sich zum größten Teil als Ankündigungsweltmeister. Sie kündigen nur an. – Das tun sie aber mit allem Schwung und aller Begeisterung, die sie aufbringen können. Sie kündigen an, und das war’s auch schon. Das scheint ihnen zu genügen. Keine Ahnung, wie diese Menschen ihr Leben gestalten. Vielleicht hangeln sie sich von einer Ankündigung zur nächsten.

 

Wenn ich mein Leben so gestalten würde, dann käme ich vermutlich zu gar nichts mehr. Ich wäre ja ständig damit beschäftigt, mich für irgendwas zu begeistern, was ich dann doch nicht realisiere. Und sowas kostet Zeit und Energie.

 

Bitte nicht missverstehen: Ich kann mich für jeden Quatsch begeistern. Meine Kleinen produzieren jeden Tag mindestens zehn „fantastische“ Ideen, was wir „unbedingt“ mal machen müssten. Sie dürfen das. Sie dürfen sich begeistern für was sie wollen und so viel, wie sie wollen. Aber ich als Großer entscheide, was davon handlungswirksam wird.

 

Vor so einer Entscheidung liegen zahlreiche Prüfschleifen. In diesen Prüfschleifen testen wir (meine Kleinen und ich), was es tatsächlich bedeuten würde, dieses Projekt anzupacken und zu realisieren. Und immer steht dabei die Frage im Raum: Wollen wir das überhaupt?

 

Meistens wollen wir nicht.

 

Und dann lassen wir’s sein. Aber wir haben während der Prüfschleifen niemanden eingeladen, mitzumachen. Wir haben uns nicht mit Begeisterung und voller Elan an jemanden rangeschmissen und ihm erzählt, wie toll es wäre, wenn wir das gemeinsam realisieren würden.

 

Das scheint viele NTs von mir zu unterscheiden.

 

 

Und daher geht meine Bitte an alle Ankündigungsweltmeister da draußen:

Verschont mich mit euren Projektideen.

Behaltet sie für euch, labert mich damit nicht zu.

In meiner Welt geht man nicht so mit anderen Menschen um.

 

Das bedeutet nicht, dass ich nicht Projekte gemeinsam mit euch realisieren will. Aber wenn ihr mir mit sowas kommt, dann habt ihr das bitte im Vorfeld gründlich durchdacht und kennt die Antworten auf diese Fragen:

 

1.    Was ist das Ziel? (Was soll nach dem Projekt anders sein als vorher bzw. woran werden wir erkennen, dass das gemeinsame Projekt ein Erfolg ist?)

2.    An wen wendet sich das? (Wer sind die potenziellen Kunden bzw. Abnehmer?)

3.    Was sind die notwendigen Liefergegenstände?

4.    Wer macht was bis wann? (Bzw.: Wer ist in diesem Projekt für was verantwortlich?)

 

Ich bin kein Kleinlichkeitskrämer. Ich brauche nicht alles bis ins Detail ausgetüftelt und vorgeplant. Aber ich brauche einen gut durchdachten groben Rahmen. In der Realisation meiner Projekte gehe ich immer iterativ vor, weil ich viele Details im Vorfeld gar nicht wissen bzw. planen kann.

 

 

Fazit

Das scheint mich von euch Ankündigungsweltmeistern ganz wesentlich zu unterscheiden: Wenn ich die Entscheidung für ein Projekt getroffen habe, dann packe ich dieses Projekt an und ziehe es durch. Da gibt es beinahe keine Ausnahmen.

 

 

Bitte nicht missverstehen:

Auch ihr dürft euch für alles begeistern.

 

Aber lasst mich damit in Ruhe.

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Kommentare: 1
  • #1

    NT-Aushalter (Donnerstag, 10 Dezember 2020 13:35)

    Oh ja, wieder mal Klartext geredet. Besten Dank!
    oder metaphorisch:
    Mancher NT will begeistert unbedingt Hund kaufen gehen, Hund haben. Dass der Hund angemeldet werden muss, Hundesteuermarke, Versicherung, Gassi gehen, Hundeschule, Tierarzt, mehr Wohnung putzen, früher Wohnung sanieren, Platz neben Zeit und Geld braucht, wer diese Punkte dem begeisterten NT schildert, wird dann ganz schnell angeprangert als unflexibel, faul, geizig, Spielverderber, Bedenkenträger, Schwarzseher, Hinterwäldler, Kauz, Nieselpriem, Tierfeind, Monotasker...
    Und so suche ich nach einem halben Jahrhundert immer noch nach Wegen, unsinnige oder nervtötende NT-Projekte möglichst sozialverträglich (vor allem für einen selber)ins Leere laufen zu lassen oder heimlich zu beerdigen.
    Schon lange liebäuge ich mit einer bei mir durch mich selbst vorsätzlich herbeigeführten passiv - aggressiven Persönlichkeitsstörung...
    ...the angry smile anstatt mir die Pfoten zu verbrennen