· 

Die Ratschläger 06 Immer souverän bleiben

In der Reihe „Die Ratschläger“ bespreche ich in loser Folge häufige und beliebte Ratschläge, die mir aufgefallen sind. Ich versuche aufzuzeigen, wo das destruktive Potenzial dieser Ratschläge liegt.

 

Ich halte Ratschläge in sozialen Situationen generell für schädlich. (Ratschläge, um technische Probleme zu lösen, – z.B., wie man einen Motor repariert -, halte ich für völlig ok). Ich kann mich nicht erinnern, mal einen Ratschlag in einer sozialen Situation als nützlich erlebt zu haben.

 

Heute soll es gehen um den Rat-Schlag

„Immer souverän bleiben!“

 

Aus irgendwelchen Gründen erlebe ich das jetzt in der letzten Zeit häufiger – Coaches, Trainer, wohlmeinende Führungskräfte, Lebensberater etc. wollen den Menschen zeigen, wie sie in jeder Situation souverän und selbstbewusst auftreten können. Grad‘ so, als ob das was Gutes oder Erstrebenswertes wäre. Vielleicht erlebe ich gerade eine neue Modewelle, die anfängt, sich hier aufzubauen – wir sind ja alle sowas von souverän! Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit!

 

Diese Ratschläger bringen den Menschen bei, wie man anderen die Hand gibt, so dass man souverän wirkt, wie man eine Begrüßung so gestaltet, so dass man souverän wirkt, wie man Gespräche souverän führt, wie man sich eine souveräne Körpersprache antrainiert, und so weiter. Vermutlich kann man auch souverän im Restaurant Spaghetti bestellen, souverän sein Auto betanken und sich souverän die Zähne putzen.

Bei diesen Leuten ist anscheinend alles Souveränität und Souveränität ist alles.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Leute sogar Souveränität in das Fach für den Weichspüler schütten, wenn sie ihre Wäsche in der Maschine waschen.

 

Was für ein Quatsch!

 

Schauen wir uns das mal in Zeitlupe an.

 

Zunächst mal: „Souverän“ ist ein Fremdwort. Wie kann man das ins Deutsche übersetzen?

Wenn ich das Internet dazu befrage, habe ich den Eindruck, dass es vor allem um Überlegenheit geht. Souverän zu sein bedeutet also nicht nur, den Dingen gewachsen zu sein, sondern unabhängig zu sein und über den Dingen zu stehen. Das Idealbild derer, die nach souveränem Auftreten streben, scheint es zu sein, auf andere stark, überlegen, kompetent und gelassen zu wirken.

 

Warum ist das in meinen Augen der reine Quatsch?

Warum sage ich, dass der Ratschlag „Immer souverän bleiben!“ schädlich ist?

 

 

1

Wenn du souverän wirken willst, dann geht es nicht um dich, sondern um deine Wirkung auf andere. Es geht darum, wie andere dich wahrnehmen. Mit anderen Worten: Immer dann, wenn du souverän wirken willst, lässt du andere bestimmen, wer du bist und was für ein Leben du führst. Das ist vermutlich die unsouveränste Form, sein Leben zu gestalten, die unter diesen Umständen überhaupt denkbar ist.

 

2

Wenn du immer souverän bleiben willst, dann verrätst du wichtige Teile von dir. Du fängst an, ein Scheinleben zu führen.

Was meine ich damit?

 

Die Teile in dir, die nicht souverän sind, die schwach, unsicher und schüchtern sind, die gibt es auch. Die machen einen wichtigen Teil von dir aus. Wenn du „immer souverän“ sein willst, dann versuchst du, dich nach dem Bild zu formen, das andere bitteschön von dir haben sollen. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass du beginnst, diese Teile von dir abzuwerten, wegzuschieben und in die Dunkelheit des Unbewussten zu verbannen. Diese Teile sind dann aber nicht weg, sie sind nur woanders. Und dort rumoren sie und fühlen sich schlecht.

 

Je weniger du diese Teile in dir akzeptierst und in dein Leben integrierst, desto unlebendiger wird dein Leben werden. Du bist souverän bis zum Anschlag, aber du lebst nicht. Du lebst ein Scheinleben. Du machst dein Leben zu einer Bühne und gibst, um andere zu beeindrucken, den Souveränitätskasper – herzlichen Glückwunsch!

 

Bei meiner Arbeit begegne ich häufig Menschen, die ich „Erfolgsmaschinen“ nenne. Die sind zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und waren so ziemlich ihr ganzes Leben lang geradezu unglaublich souverän. Sie haben in ihrem Beruf, wie man so schön sagt, „alles erreicht“ – Karriere gemacht, dickes Bankkonto, dickes Haus, dickes Auto, dünne Frau, noch dünnere Geliebte, zwei supererfolgreiche Kinder …

Sie kommen zu mir, weil sie dieses ständige nagende Gefühl haben, in ihrem Leben alles erreicht zu haben und dennoch die ärmsten Menschen der Welt zu sein.

 

Manchmal sage ich ihnen:

„Ein Loch in der Seele kann man nicht mit Dollarscheinen stopfen.“

Manchmal sage ich ihnen:

„Tja. Du bist dein ganzes Leben Gipfelstürmer gewesen. Nur hast du den falschen Gipfel bestiegen.“

 

Meistens sage ich ihnen aber nichts. Sie erzählen, und ich höre zu. Und manchmal finden sie ihre innere Wahrheit, manchmal nicht.

Antrainierte Souveränität ist Lüge. Und wer ein Leben der antrainierten Souveränität lebt, der lebt ein Leben der Lüge. Das lässt sich nur überwinden, indem man zu seiner eigenen inneren Wahrheit zurückfindet.

Manchen Menschen gelingt das, manchen nicht.

 

3

Den Souveränen zu spielen ist eine sehr ineffiziente Art, Aufgaben zu lösen.

 

Es spricht absolut nichts dagegen, souverän zu wirken, wenn du tatsächlich souverän bist. Wenn du aber den Souveränen spielst, obwohl dir innerlich überhaupt nicht danach ist, dann verbaust du dir die Erfolgschancen, die du hast.

 

Es gibt in wesentlichen zwei Glaubenssätze (Sei stark! und Sei perfekt!), denen wir folgen, wenn wir versuchen, souverän zu sein, obwohl uns innerlich überhaupt nicht danach ist. Diese Glaubenssätze sind tief in uns verwurzelt, und wenn wir ihnen folgen, werden wir uns untreu. Wir bleiben dann weit hinter unseren Möglichkeiten zurück.

 

Sei stark:

Dieser Glaubenssatz treibt uns in schwierigen Situationen an, keine Schwäche und kein Gefühl nach außen zu zeigen. Wenn wir dadurch souverän sein wollen, dass wir stark sind, dann verbauen wir uns die Möglichkeit, andere um Hilfe und Unterstützung zu bitten.

 

Sei perfekt:

Dieser Glaubenssatz treibt uns in schwierigen Situationen an, die Situation dadurch zu meistern, dass wir absolut fehlerfrei sind. Kein sachlicher oder moralischer Makel darf dann an uns und an unserer Arbeit sein.

Wenn wir dadurch souverän sein wollen, dass wir perfekt sind, dann verbrauchen wir viel zu viel Zeit und Energie dafür, unsere Arbeit hundertprozentig zu machen (in den allermeisten Fällen reichen auch 80%-Lösungen) bzw. uns als moralisch rein darzustellen.

 

Und was nützt es dir, wenn du den Souveränitätskasper gibst und deine Arbeit ganz alleine stemmst, ohne je jemanden um Hilfe zu bitten, wenn andere, die ganz unsouverän andere bitten können, sie zu unterstützen, deutlich bessere Ergebnisse erzielen als du.

 

Und wenn deine Arbeit perfekt ist? Was nützt es dir, dass sie dermaßen strahlt, glänzt und funkelt, dass man eine Schweißerbrille braucht, um sich ihr zu nähern, wenn deine unsouveränen Kollegen, die sich wenig dabei denken, auch fehlerbehaftete Arbeitsergebnisse in den Umlauf zu bringen, deutlich schneller fertig sind als du?

 

 

Überspitzt ausgedrückt:

Wenn du „immer souverän“ sein willst, dann (a) machst du dich für andere zum Idioten (die das vielleicht gar nicht wollen) und (b) bleibst dabei weit hinter deinen Möglichkeiten zurück.

Am schlimmsten ist aber in meinen Augen, dass du (c) nicht mehr lebst, sondern gelebt wirst. Du versuchst, dich nach einem Bild zu formen, das andere von dir haben sollen. Aus deinem Leben wird ein Schauspiel, eine Scharade, ein Scheinleben, ein Bühnenstück.

 

Ganz ehrlich:

Ist es das wirklich wert?

Dein einziges Leben, das du hast, auf diese Weise zu vergeuden, bloß damit irgendwer irgendein Bild von dir hat, dem du innerlich gar nicht entsprichst?

 

Das erscheint mir ziemlich unsouverän.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0