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Das Neurotypische Syndrom 19 – Die Kommentarfunktion

Darüber habe ich in einem anderen Zusammenhang schon mal einen Text in diesem Blog geschrieben.

Aber zum einen ist das schon so lange her.

Zum anderen geht mir dieses Verhalten der NTs so dermaßen auf den Geist. Es kostet mich so viel Kraft, Zeit und schiere Lebensenergie. Da kann ich’s nochmal beschreiben und aus anderer Perspektive beleuchten.

Und schlussendlich – ich habe es noch nie im Zusammenhang mit dem Neurotypischen Syndrom beschrieben.

 

Also los.

 

Vorausgeschickt:

Wenn ich über das Neurotypische Syndrom schreibe, dann greife ich oft zur selben Sprache, die die neurotypischen Experten so gerne nutzen, wenn sie über uns schreiben. Das hat nichts damit zu tun, dass ich die NTs abwerten will. Das hat damit zu tun, dass ich es den NTs ermöglichen will, mal zu fühlen, wie das ist, wenn man solches Zeug über sich lesen muss. Ich will, dass NTs und AS sich in ihrer Art, in der Welt zu sein, gegenseitig respektieren. Aber ich will auch, dass die NTs begreifen, was sie da die ganze Zeit über uns schreiben. Und wichtig ist mir auch, dass sie begreifen, wie ihr Verhalten auf viele von uns wirkt.

 

Aber jetzt also wirklich los.

 

Das Neurotypische Syndrom beschreibt die Auffälligkeiten und die Andersartigkeiten, mit der die NTs in der Welt sind.

 

Kernpunkte des Neurotypischen Syndroms sind diese:

1.    Jeder Mensch (egal ob AS oder NT) ist auf emotionale und soziale Zuwendung angewiesen.

2.    Bekommt ein Mensch diese Zuwendung nicht in hinreichendem Maße, dann wird er krank und muss bei gravierendem Mangel sogar sterben.

3.    Deshalb ist negative Zuwendung wesentlich besser als gar keine.

4.    Verglichen mit AS können NTs sich die notwendige Zuwendung nur in sehr geringem Maße selber geben.

5.   Verglichen mit AS können NTs diese Zuwendung kaum speichern. Deshalb sind sie in weit stärkerem Maße als AS darauf angewiesen, dass sie diese Zuwendung regelmäßig und dauerhaft von außen bekommen.

 

So kommt es zu dem, was ich hier die „Kommentarfunktion“ nenne: Sehr viele NTs ergaunern, erschleichen und erpressen sich emotionale und soziale Zuwendung dadurch, dass sie alles und jeden kommentieren. Sie sind mit einer permanenten Kommentarfunktion ausgestattet.

 

Ich will auch hier in dieser Schrittfolge vorgehen:

1.    Ich führe Beispiele für dieses Verhalten auf, die wahrscheinlich jeder kennt.

2.    Ich stelle Vermutungen an, warum NTs sich so verhalten.

3.    Ich beschreibe, was dieses Verhalten in mir auslöst.

4.    Ich beschreibe, wie ich’s gerne hätte.

 

 

 

Die Beispiele

 

1

Du trittst mit einem NT aus einem Gebäude ins Freie. Es regnet. Der NT sagt:

„Oh, es regnet.“ (Wenn sie Sonne scheint oder es neblig ist, dann äußert er sich entsprechend).

 

2

Du sitzt in einem Raum an einem Tisch und machst da irgendwas. Ein NT kommt zur Tür herein und sieht dich da sitzen. Er sagt:

„Oh, du bist ja schon da.“ oder

„Ah, immer fleißig am Arbeiten, was?“ oder

„Wie? Du immer noch hier?!“

(Was er inhaltlich sagt, ist für ihn völlig egal. Er hat diese permanente Kommentarfunktion, um dadurch soziale und emotionale Zuwendung zu ergaunern oder zu erpressen. Und nur darum geht es).

 

3

Du sitzt irgendwo und trinkst Kaffee. Ein NT kommt. Er registriert die Situation. Dann sagt er:

„Oh, du trinkst Kaffee. Ich glaub‘, ich hol‘ mir auch einen.“

 

4

Du sitzt irgendwo und machst gar nichts. Du trinkst keinen Kaffee, du arbeitest nicht – du machst nichts, was die Kommentarfunktion eines NTs anregen könnte.

Ein NT kommt. Er registriert die Situation. Dann sagt er:

„Du bist aber still heute.“

 

5

Du verlässt einen Raum, in dem ein NT sitzt, machst irgendwas und kommst wieder zurück. Der NT schaut auf und sagt:

„Oh, du bist schon wieder zurück?“

Alternativ:

„Du warst jetzt aber lange weg!“

 

6

Du fährst mit einem Fahrrad einen Berg hinauf. Ein NT überholt dich mit seinem Rad. Er sagt:

„Mann, ist das aber steil hier!“

 

7

Ein NT kommt in einen Raum, in dem du bereits sitzt und arbeitest. Du bist konzentriert in deine Arbeit und schaust nicht auf. Aus irgendwelchen Gründen hat der NT versäumt, einen Kommentar bei dir abzulassen, als er zur Tür hereinkam. Das holt er jetzt nach:

„Ist dir nicht gut?“ oder

„Hast du was gegen mich?“

 

8

Du sitzt neben einem NT und arbeitest. Ihr beide schweigt. Der NT dreht sich plötzlich zu dir um und sagt:

„Der Tag geht heute aber auch nicht rum, oder?“

 

9

Du betrittst das Wartezimmer eines Arztes. Ein NT, der dich kennt, ist auch da. Er sagt:

„Ach … Du auch hier?“

 

10

Du stehst mit mehreren schweigenden NTs in einem Aufzug und fährst ein paar Stockwerke nach oben. Einem NT geht gerade seine seelische Energie aus. Er schaut dich an und sagt:

„Das dauert heute aber auch!“

 

11

Du sitzt alleine im Wald am Rand eines Wanderweges auf einer Bank und isst etwas.

Ein NT kommt vorbei. Er sagt:

„Guten Appetit.“ oder

„Ja, Sie haben’s gut!“ oder

„Frischauf! – Keine Müdigkeit vorschützen!“

 

 

Und ich wette mit euch, Leute, dass mich das begleiten wird, bis zu dieser Szene:

 

12

Ich liege dahingeschieden im Sarg. Ein NT, der sich auf meine Beerdigung verirrt hat, sieht das. Er sagt:

„Nu‘ is‘ er ja tot, nich‘?“

 

 

Warum tun die NTs das?

 

NTs tun das, weil sie nicht anders können. Ich habe das oft getestet: Wenn sie seelisch bedürftig sind (und sie sind seelisch fast ständig bedürftig), dann können sie nicht anders. Nochmal, weil das so wichtig ist: Sie können nicht anders. Es ist ein Notfallprogramm. Sie aktivieren ihre Kommentarfunktion, weil sie entweder in großer seelischer Not sind oder dieser Not vorbeugen wollen. Sie können dann ihr Verhalten praktisch nicht mehr steuern.

Da, wo AS zum Schweigen oder gar zum Mutismus neigen, da neigen die NTs zum Kommentieren.

Soviel zum Thema „Die Asperger-Autisten sind gestört, die NTs aber nicht“.

 

Die NTs tun das, um in dein Leben einzudringen und von dir Energie abzuzapfen. Sie wollen, dass du sie sozial und emotional auftankst, indem du artige Nichtigkeiten mit ihnen austauschst. Das bringt ihnen dieses kleine Quantum an seelischer und sozialer Zuwendung, das sie so dringend brauchen, um die nächste Zeit zu überstehen. Für sie ist das fair, denn sie bieten dir im Austausch an, dich ebenfalls mit artigen Nichtigkeiten zuzutexten.

 

Dass das für mich das reine Gift ist, das können sie nicht wissen.

Und wenn ich es ihnen sage (und verständlich machen kann), dann ändert sich nichts. Gar nichts. Denn sie können ihr Verhalten nicht steuern, wenn sie im Notfallmodus sind. Da sind sie völlig hilflos. Die Kommentarfunktion ist das automatisierte Verhalten eines ausgehungerten NTs im Notfallmodus.

 

Und da NTs erhaltene soziale und emotionale Zuwendung kaum speichern können, sind sie beinahe ständig im Notfallmodus.

 

 

Was dieses Verhalten in mir auslöst

 

Vor allem Schmerzen. Körperliche und seelische Schmerzen. Für mich ist dieses Reden ein nicht endender Strom von völlig hirnlosem und schwachsinnigem Gequatsche. Es reißt mich aus meiner Konzentration, aus meinem Rhythmus, aus meinem Leben.

 

Reden dient in meiner Welt dazu, (a) Informationen auszutauschen, (b) etwas wirklich wichtiges mitzuteilen (das braucht dann nicht Information zu sein, aber es ist wirklich wichtig) oder (c) gemeinsam Unsinn zu machen. (Letzteres ist dann aber bitte abgesprochen).

 

Aber für mich sind diese artigen Nichtigkeiten, die die NTs laufend austauschen und über ihre Kommentarfunktion ständig antriggern, wie Cornflakes aus Styropor. Das hat keinerlei Nährwert – weder kognitiv noch emotional noch sozial. Schmecken tut es auch nicht. Und wenn ich auf diesen Quatsch eingehe, dann spüre ich, wie sich mein Inneres rapide füllt mit stupidem, stumpfsinnigem Nichts. Ich kann dann weder fühlen noch denken. Das ist, als würde mich jemand mit Gülle abfüllen.

 

Liebe NTs:

Esst zum Frühstück eine große Schüssel Styroporflocken (von mir aus mit Milch und Zucker) und ihr werdet in etwa wissen, was ich meine.

 

Ich erlebe NTs mit aktivierter Kommentarfunktion als

·         grausam und brutal

·         gemein und hinterhältig

·         sehr übergriffig

·         sehr distanzlos

·         gefühllos

·         extrem herzlos

·         strunzdoof

·         wirklich gefährlich

 

Wenn ich mich von NTs zurückziehen muss, dann vor allem deshalb, weil sie nicht aufhören können zu reden. Sobald ein NT in meiner Nähe ist, kann seine Kommentarfunktion jederzeit losgehen. Und das löst in mir nicht endenden Stress aus. Oder präziser: Der Stress endet erst dann, wenn der NT physikalisch nicht mehr in der Lage ist, mich mit seinen Kommentaren zuzutexten.

 

Bin ich in der Gegenwart eines NTs, bin ich also immer in Alarmbereitschaft.

Und wenn ich irgend kann, gehe ich ihm aus dem Weg. (Aber da sie so viele sind, ist das oft nicht möglich).

 

Aus Gründen, die ich bislang nicht kenne, ist der einzige Ort, an dem ich NTs begegnen kann, wo ich garantiert vor Kommentaren sicher bin, das Männerklo. Noch nie hat mich ein NT am Pissoir von der Seite angequatscht:

„Ja, die Prostata, nicht wahr?“ oder

„Mann - ist ja ein Mörderprügel! Wo kriegt man denn sowas her?“ oder

„Ja, pissen ist das halbe Leben, sag‘ ich immer.“

Noch nie!

 

Und ich bin noch nie am Waschbecken angesprochen worden oder am Handtuchspender.

Aber sobald ich diese Heiligen Hallen verlasse, geht das Gequatsche wieder los. Ich höre es immer schon am stets steigenden Geräuschpegel, wenn ich mich der Tür nähere, die die Sanitärräume vom übrigen Gebäude trennt.

 

Aber ganz ehrlich, liebe NTs – soll ich den Rest meines Lebens auf dem Klo zubringen, weil ich nur dort in eurer Gegenwart vor eurer aufdringlichen und distanzlosen Übergriffigkeit sicher bin?

 

Ich schätze euch ja und bin gern in eurer Nähe. Aber da, wo ihr seid, wird geredet (oder Musik läuft, oder das Radio ist an, oder ihr klappert endlos mit irgendwas rum …. oder, oder, oder). Und deshalb kann ich nicht da sein, wo ihr seid.

 

 

Was ich mir von den NTs wünsche

 

1

Seid still.

 

2

Lasst mich in Ruhe. (Und lernt, dass ich nicht auf der Welt bin, um eure Bedürfnisse zu befriedigen).

 

3

Lernt, auf eure Bedürfnisse zu achten, so dass ihr nicht mehr so oft im Notfallmodus agieren müsst.

 

4

Lernt, auf respektvolle und rücksichtsvolle Weise positive Zuwendung einzufordern, wenn ihr Hunger nach Zuwendung habt.

 

5

Lernt, positive Zuwendung anzunehmen und zu verdauen.

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Kommentare: 3
  • #1

    Nichtwichtig (Sonntag, 22 November 2020 18:02)

    Danke für diesen Text. Genau das ist der Grund, warum ich von der Schule, über die Uni bis in den Beruf sehr viele Pausen auf Toiletten verbracht habe...

  • #2

    Kikkulade (Sonntag, 22 November 2020 19:20)

    Die Kommentarfunktion=die Kontaktfunktion
    Nicht nur bei AS sondern auch bei HSP als wahrliches Übel bekannt btw

  • #3

    Marge (Freitag, 04 Dezember 2020 06:35)

    Danke hierfür! Das spricht mir voll aus der autistischen Seele. Seit ich mir angewöhnt habe, auf die unmögliche und niemals auf eine ehrliche Antwort zielende Frage "Wie geht es dir`?" mit "Heute ist [Wochentag X]." zu antworten, scheine ich für so viel Irritation zu sorgen, dass man mich eher in Ruhe lässt. Das verhindert zwar keine Kontaktaufnahme durch einen NT, doch es kürzt sie wesentlich ab. Und ich habe eine Chance, wenigstens einen Teil meiner Energie behalten zu können...