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Sie feiern den Tod

*** „Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist gar nichts. Und kein Mensch braucht gar nichts.“

Zitat aus dem Film „Lawrence von Arabien“ ***

 

 

In diesem Text geht es viel um Filme (und um Urlaub, um Anzeigen und alles mögliche). Bevor ich jedoch zum eigentlichen Thema komme, ist es mir wichtig, dass wir uns auf diese Unterscheidung einigen:

 

1

Ein Stein ist tot. Das ist er in jeder Situation. Er war nie lebendig. Pflanzliches Material kann tot oder lebendig sein. Falls es tot ist, hat es aber auf jeden Fall Situationen gegeben, in denen es lebendig gewesen ist.

 

2

Mineralisches und metallenes Material ist tot. Das ist es in jeder Situation. Es war nie lebendig. Biologisches Material kann tot oder lebendig sein. Falls es tot ist, hat es Situationen gegeben, in denen es lebendig gewesen ist.

 

Falls wir uns nicht auf diese Unterscheidung einigen können, dann ist der weitere Text hinfällig.

 

 

Und los geht’s.

 

Neulich habe ich mal wieder einen Film angeschaut: „Inception“. Dass ich Filme anschaue, ist sehr, sehr selten. In den letzten Jahren ist das praktisch nicht mehr vorgekommen. Aber jetzt war meinen Kleinen danach, also gab’s „Inception“.

 

Die Handlung des Films ist für diesen Text weitgehend unerheblich. Mir geht es um dieses: Auch in diesem Film wurde für mich sehr, sehr deutlich: „Sie feiern den Tod.“

 

Was meine ich damit?

 

In diesem Film wurde gezeigt, wie zwei Architekten sich eine Welt geschaffen hatten, in der sie alles realisieren konnten, was sie nur wollten. Was immer sie sich auch erträumten – es wurde Wirklichkeit. Und was haben sie gemacht? Sie haben Häuser gebaut. Eins am anderen. Häuser aus Stein – Wolkenkratzer. Häuser, so weit das Auge reichte. Häuser, Häuser, Häuser – allesamt aus Stein – Häuser von Horizont zu Horizont. Jahrzehnte haben sie damit zugebracht, so eine Wüste zu erschaffen. Das war ihr Lebenstraum: Eine nicht endende Wüste aus totem Stein.

 

Sie feierten den Tod.

 

Der letzte Film, den ich davor angeschaut habe, war „Lost in Translation“. Dieser Film spielt im Großraum Tokio. Es war für mich ein absolut niederschmetternder Film, denn sie feierten dort den Tod. Alle Menschen, die da vorkamen, lebten in irgendwelchen toten Steinwüsten. Haus reihte sich an Haus – Wolkenkratzer, Neonlicht, mehrspurige Straßen, Autos, Lichter, Asphaltwüsten, noch mehr Lichter, Lichter … alles tot (bis auf die Menschen, die diese lebensfeindliche Wüste bevölkerten). Für mich wäre es wirklich die Hölle, dort zu leben. Aber die Menschen in dem Film, die fühlten sich da offensichtlich wohl. Sie lebten da, weil sie gerne dort lebten. Und der ganze Film drehte sich darum, wie Menschen sich in dieser völlig einsamen und trostlosen Steinwüste aufhielten.

 

Sie feierten den Tod.

 

Viele meiner Kollegen machen für ihr Leben gern Städtereisen. Vor allem Kurztrips in Metropolen wie New York scheinen angesagt zu sein. Und wenn sie von dort wieder zurück sind, dann erzählen sie mir, wie sie ihren Urlaub verbracht haben, und wie es ihnen dabei ergangen ist. Ich höre ihnen zu. Es interessiert mich. Und ich will lernen.

 

Jedes Mal zeigen sie mir dann auf ihren Smartphones Fotos. Viele Fotos! Hunderte! Und – ihr werdet es erraten haben – auch sie feiern den Tod. Hier die Brooklyn Bridge: Ein trostloser, toter Haufen aus Stahl, Asphalt und Stahlbeton. Tote Wüste. (Und da die Brooklyn Bridge für sie so großartig ist, reicht da nicht ein Foto. Sie fotografieren diese Brücke mindestens ein Dutzend Mal aus unterschiedlichsten Perspektiven). Hier das Empire State Building:Toter, trostloser Stein. (Dutzende Fotos). Hier das Times Square (dutzende Fotos) – und so weiter. Und so weiter. Ganz viele Fotos huschen unter meinen Augen hindurch. Und ich kann nichts Lebendiges erkennen (außer den Menschen, die diese Wüste bevölkern). Alles trostlos. Alles tot. Kein Baum, kein Strauch wächst da. Vielleicht kommt irgendwo Gras durch irgendwelche Steinritzen. Aber das kann ich auf den Fotos nicht erkennen. Denn meine Kollegen interessieren sich absolut nicht dafür. Ja, natürlich werden mir auch Fotos des Central Park gezeigt – eine kleine, grüne Oase eingezwängt in turmhoch aufragende tote Steintürme, die sich von Horizont zu Horizont erstrecken. Meine Kleinen vermuten, dass der Central Park das größte Hundeklo der Welt ist. Die Wall Street darf nicht fehlen und selbstverständlich auch nicht die Freiheitsstatue. Dann irgendein weltberühmtes Großkaufhaus – fotografiert von außen und von innen: Stein, Metall, Glas, Asphalt, Neonlichter. Alles tot. Nichts von dem war jemals lebendig. Nichts von dem strahlt Lebendigkeit aus.

 

Aus all dem gewinne ich den Eindruck, dass meine Kollegen von Totem wie magisch angezogen sind. Sie fliegen über einen kompletten Ozean, nur um sich drei oder fünf Tage in einer toten Wüste aus Stein, Glas, Metall, Neonlichtern und Asphalt aufzuhalten – einer absolut lebensfeindliche Umgebung, in der Leben nur mit ständiger und äußerster Anstrengung aller Beteiligten möglich ist.

 

Meine Kollegen nehmen viele Mühen auf sich, um so eine Reise zu realisieren. Sie geben haufenweise Geld dafür aus. Und danach kommen sie völlig begeistert zurück und schwärmen mir vor, wie toll es da war, und dass ich da auch unbedingt hinmüsste. Ich kann daraus nur eines schlussfolgern:

 

Sie feiern den Tod.

 

Analoges gilt für Kollegen, die für London, Paris, Istanbul oder Honkong schwärmen. Ich will euch da nicht mit Details langweilen – es ist sowieso immer dasselbe.

 

Ich bin regelmäßig fassungslos, wenn ich erlebe, wie meine Kollegen so schwärmen. Wie kann man den Tod derart feiern? Es ist mir völlig unbegreiflich. Auf der anderen Seite bin ich aber auch ganz froh: Wenn sie ihren Urlaub in diesen toten Stein-, Glas- und Asphaltwüsten verbringen, dann sind sie im Urlaub garantiert nicht dort, wo ich bin. Ich bin im Urlaub lieber alleine.

 

Manche meiner Kollegen schwärmen auch für Flughäfen, Großbahnhöfe und Kongresszentren. – Und sie zeigen mir haufenweise Fotos davon. Alles dasselbe.

 

Ich habe Zählungen gemacht:

Ich lese unregelmäßig aber häufig die International New York Times. In dieser Zeitung werden sehr, sehr teure, großformatige Anzeigen geschaltet. Beworben werden damit vor allem Immobilien sowie Schmuck, Taschen, Uhren und andere Luxusgegenstände. Und in mehr als 93% aller Fälle taucht in diesen Anzeigen (außer den menschlichen Models (und sporadischen Luxustieren, die um diese Models drapiert werden)) nichts, aber auch gar nichts Lebendiges auf. Tote Steine, Glas, Asphalt, Rubine, Diamanten, Edelmetalle … in den wenigen Immobilienanzeigen, in denen Bäume und Bewuchs auftauchen, steht der Tod im Vordergrund. Die Natur bzw. das Lebendige sind Staffage. Das interessiert niemanden.  

 

Dasselbe gilt natürlich auch für Reiseprojekte. Wenn ich in Reiseprospekten blättere – zum Beispiel von TUI -, dann muss ich meistens sehr lange suchen, bis ich auf ein Bild stoße, das mir was anderes zeigt als irgendwelche toten Hotelanlagen, Steine, Asphalt, Glas, Häuserschluchten, Sanddünen, Wüstenfelsen oder irgendwelche Großschiffe (die aussehen, als hätte man ein gigantisches Hochhaus umgekippt und zum Schwimmen gebracht). Wenn hier Natur auftaucht, dann fast immer nur als Staffage. Ein paar Palmen stehen auf diesen Fotos herum oder ein paar Bäume. Aber vorherrschend sind Hotelanlagen, Flugzeuge, gigantische Schiffe, Felsen, Strände, Wüste.

 

Warum wird so geworben? Warum geben diese Immobilienmakler, Juweliere, Luxuskrämer und Reiseveranstalter so viel Geld dafür aus, den Tod dramatisch auszuleuchten und abzubilden?

Ich kann nur einen Grund finden:

Die Kunden wollen das so. Sie wollen auf diese Weise angesprochen werden. Der Luxustod ist ihnen lieber als irgendein einfaches und schlichtes Leben.

 

Und das führt mich zur nächsten Schlussfolgerung. Das ist bislang allerdings nur eine Hypothese. Dazu habe ich noch nicht genug Beobachtungen gemacht und Interviews geführt:

Die Menschen werden deshalb so stark von solchen Fotos angesprochen, in denen das Tote vorherrscht, weil das ihr Inneres abbildet.

Der Tod, den sie in sich tragen, der schlägt sich nieder in solchen Fotos von leblosen Häuserschluchten, Asphaltwüsten und Glaspalästen. Würden sie zu häufig mit Fotos von schlichter Lebendigkeit konfrontiert, dann würde das eine starke Spannung in ihnen auslösen, die sie vermutlich als Langeweile interpretieren würden oder die ihnen schlicht unangenehm wäre.

 

Sie feiern den Tod.

Was anderes als den Tod scheinen sie weder zu kennen noch anzustreben.

Sie wollen das Leben nicht. Ich habe den Eindruck, dass sie mit dem Leben nichts anfangen können. Ich habe den Eindruck, sie fürchten es. Sonst sähen zum Beispiel die Städte, die sie sich bauen, und in denen sie sich wohlfühlen ganz anders aus.

 

Ich fühle mich angesichts dessen häufig sehr einsam. Und die Gegenwart solcher Menschen löst in mir ganz oft ein sehr starkes Gefühl der Kälte und der Isolation aus. Aber so ist das halt. Es ist nicht meine Aufgabe, das zu ändern. Ich kann’s nur wahrnehmen und registrieren. Und da ich sehr neugierig auf Menschen bin, kann ich versuchen zu verstehen, was sie antreibt.

 

Aber das ist auch schon alles. Die meisten erwachsenen Menschen, denen ich begegne, kommen mir sehr einsam, verloren, innerlich verarmt und abgestorben vor. In den meisten von ihnen ist viel Wüste. Ich kann es nicht ändern, ich kann es nur wahrnehmen.

 

Sie feiern den Tod. Sie suchen diese Wüsten auf, weil sie in ihnen ihr Inneres wiedererkennen. Aber sie werden dort nichts finden. Denn in der Wüste ist gar nichts. Und kein Mensch braucht gar nichts.

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Kommentare: 2
  • #1

    Tobey (Donnerstag, 14 Januar 2021 13:49)

    Interessanter Gedanke! Ich lebe leider in einem Stadtviertel mit sehr vielen unwirtlichen Bürohäusern. Spaziergänge in dieser Gegend sind für mich deutlich weniger entspannend als zum Beispiel im Wald. Und dann gibt es noch Wohnhäuser in dieser Gegend. Und was machen die Leute mit ihren Vorgärten? Sie kippen Kieselsteine hinein, oder fliesen gleich den kompletten Vorgarten. Es ist deprimierend. Es war mir noch nicht in den Sinn gekommen, es so zu formulieren, aber ja, sie feiern wirklich den Tod. Ich versuche es anders zu machen und habe im Herbst über 100 Blumenzwiebeln im Vorgarten vergraben.

  • #2

    Stiller (Donnerstag, 14 Januar 2021 16:23)

    Ich wünsche, dir, dass aus den Blumenzwiebeln wunderschöne Blumen werden. Und dass sie Vögel und Insekten anziehen.