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Was ihr wollt 02 – Kontakt vs Konzentration

*** Ein Text, den ich im Sommer geschrieben habe. ***

 

In der Reihe „Was ihr wollt“ will ich in loser Reihung aufzeigen, wo aus meiner Sicht

a)    die Hauptunterschiede in der Lebensführung zwischen NTs und mir liegen und

b)    die Ursachen für die Hauptmissverständnisse liegen, wenn NTs und ich einander begegnen.

Das ist nur meine Sicht der Dinge und nur meine Meinung.

Jeder darf eine andere haben.

In welchem Maße meine Sicht der Dinge auf andere AS zutrifft, weiß ich nicht.

 

Heute will ich den Unterschied zwischen Kontakt und Konzentration beschreiben. In den seltensten Fällen ist beides zugleich möglich, und man muss sich für eines von beiden entscheiden. Die weitaus meisten NTs, die ich kenne, entscheiden sich in so einer Situation für Kontakt. Ich nicht. Mein Schwerpunkt liegt eindeutig auf Konzentration.

 

Ich will es mit einem Beispiel erläutern:

 

Gestern am späten Nachmittag war ich draußen am Feldrand, um auf die Frau zu warten, mit der ich de jure verheiratet bin. Sie wollte im Auto Einkäufe mitbringen und hatte mich gebeten, beim Reintragen mit anzupacken. Das Haus, in dem wir wohnen, steht beinahe direkt am Feldrand. Nur der asphaltierte Parkplatz liegt zwischen Haus und Feld. Und hinter den Feldern beginnt der ausgedehnte Wald.

 

Aus irgendwelchen Gründen verzögerte sich die Ankunft der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Also wartete ich. Ich schaute den Wolken zu, die vorbeizogen. Das ist etwas, was ich sehr gerne tue. Den ruhigen Himmel und die ganz langsam ziehenden Wolken zu beobachten hat eine ausgesprochen beruhigende Wirkung auf mich.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kam nicht. Kein Autogeräusch und kein Nachbar störte mich in meinen Beobachtungen. Es war ein lauer Sommerabend. Tagsüber war es sehr warm gewesen, jetzt kühlte es sich allmählich ab. Ein ganz leichter Wind ging über die Berge. Ich war nur in Hose und T-Shirt draußen. Meine unbestrumpften Füße steckten in den bequemen Birkenstocklatschen, die ich so oft trage, wenn ich privat unterwegs bin und der Untergrund keine Wanderstiefel erfordert.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kam nicht. Ich hörte auf, die Wolken zu beobachten und setzte mich auf einen großen Stein am Feldrand. Ich spürte, wie der warme Wind über meine nackten Unterarme strich. Damit war ich dann die ganze Zeit beschäftigt: Da sitzen und spüren, wie der Wind über meine Unterarme ging. Sonst machte ich nichts.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kam. Ich schaute auf die Uhr in meinem Handy: Fast eine halbe Stunde hatte ich auf sie gewartet. In dieser Zeit hatte ich die Wolken beobachtet und den Wind auf meinen Armen gespürt. Damit war ich beschäftigt gewesen – die ganze Zeit. Sonst hatte ich nichts gemacht. Und gerne hätte das auch noch eine halbe Stunde länger so gehen können.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, parkte ihren Wagen und stieg aus. Ich erhob mich von dem Stein, auf dem ich saß und ging rüber zu ihr. Gemeinsam schafften wir die Einkäufe ins Haus.

 

Ich habe über diese Situation nachgedacht und sie deshalb hier so ausführlich beschrieben, weil ich den Eindruck habe, dass die meisten NTs sich in vergleichbarer Situation ganz anders verhalten hätten: Sie hätten ihr Handy rausgezogen, um mit irgendwem Kontakt aufzunehmen – Nachrichten checken, irgendwas posten, telefonieren, Sprachnachrichten versenden … was weiß ich.

 

Wenn ich NTs beobachte, stelle ich fest, dass die meisten von ihnen nicht allein sein können und nur wenig Neigung haben, sich zu konzentrieren. Sie wollen hier, da und dort und woanders sein – Hauptsache nicht dort, wo sie gerade sind. Und Hauptsache nicht alleine mit sich selber. Wenn sie sich tatsächlich mal konzentrieren, dann konzentrieren sie sich meistens nicht auf sich, sondern auf etwas, was sie von sich selbst wegbringt.

 

Einschub

Meine Therapeutin fragte mich vor einiger Zeit, warum ich so viel Zeit alleine verbringen würde. Ich antwortete ihr spontan:

„Meine Energiebilanz ist bei fast allen Menschen negativ: Nach einer Begegnung mit mir haben sie mehr Energie als vorher. Ich habe aber weniger Energie als vorher. Das scheint mir kein gutes Geschäft zu sein.“

 

Wenn ich NTs dabei beobachte, wie sie sich aus der Situation kicken (und sich möglichst nicht auf sich selbst konzentrieren), habe ich oft den Verdacht, dass ihre Energiebilanz mit sich selber ebenfalls negativ ist: Wenn sie einige Zeit mit sich alleine gewesen sind, dann ist ihre Energie offenbar weniger als vorher.

 

Auf den Punkt gebracht: Ich habe den Eindruck, dass folgendes gilt:

a)    Ich bin gerne mit mir zusammen. Sie sind gerne mit mir zusammen.

b)    Ich halte es mit ihnen nicht aus. Sie halten es mit sich selber genauso nicht aus.

 

Manchmal spreche ich mit selbst- und fremdernannten Experten für Autismus – Professoren, Arbeitsgruppenleiter, Psychiater etc. - über meine Situation. Überraschend viele von ihnen bemühen sich spontan und intensiv, mir zu helfen, ein NT zu werden. Sie kennen mich nicht, aber sie wollen mir helfen. Ich sage ihnen dazu in aller Regel meinen Standard-Satz für solche Situationen: „So zu leben wie Sie – so stelle ich mir die Hölle vor.“

In aller Regel nehmen sie mir das ziemlich übel.

In aller Regel ist mir das herzlich egal.

Es ist wahr, was ich da sage, und wenn die NTs daraus etwas ableiten, was für sie unangenehm ist, dann hat das ganz viel mit ihnen und ganz wenig mit mir zu tun.

Wenn dieser Satz nicht etwas in ihnen zum Klingen bringen würde, was sie insgeheim (aber nicht bewusst) für wahr halten, dann würden sie sich nicht so aufregen. Dann würden sie meinen Satz mit einem gelassenen Schulterzucken abtun.

 

Zwischenfazit

Ich erlebe die allermeisten NTs als ihre eigenen Dementoren: Sie entziehen sich selber Energie. So zu leben stelle ich mir die Hölle vor.

Einschub Ende

 

Also:

Die NTs, die ich beobachte, konzentrieren sich meistens nicht. Beinahe ständig kicken sie sich mit Hilfe der modernen Technik aus der Situation raus, in der sie gerade sind: Schnell nochmal Kontakt aufnehmen mit jemandem, der gerade nicht da ist. Schnell nochmal zerstreuen.

 

Tatsächlich gibt es eine gigantische Industrie, die sich mit nichts anderem beschäftigt, als den NTs Zerstreuung zu bieten. Alles ist recht, solange es verhindert, sich auf das zu konzentrieren, was gerade ist – insbesondere auf sich selber. Ablenkung, Vergnügen, Kontakt, Zerstreuung, Alkohol und andere Drogen … Letztens erzählte mir wieder ungefragt ein NT von einer „Feier“, auf der er gewesen war und die angeblich so toll gewesen war: Ganz viele Leute zum Kontakt haben, laute Musik, die einem das Gehirn aus den Ohren wämste und vor allem Alkohol. Alkohol - reichlich und in Strömen. Am nächsten Morgen spürte er die Wirkung des Alkohols. Ich sagte ihm:

„Wenn du glaubst, gut gefeiert zu haben, dabei aber so viel gesoffen hast, dass du dich am nächsten Morgen kaum noch an was erinnern kannst, dann hast du nicht gefeiert, sondern dich abgeschossen. Du hast dich aus der Situation und aus dem Leben geknallt. In Wirklichkeit hast du nichts erlebt.“

 

Ich will keinen Kontakt. Ich will da sein. Da zu sein ist für mich so ziemlich das wichtigste in meinem Leben. Kontakt mit einem anderen Menschen ist dann gut für mich, wenn wir uns beide darauf einigen, dass wir diesen Kontakt dazu nutzen, uns

a)    voll auf den anderen zu konzentrieren oder

b)    voll auf uns selbst zu konzentrieren oder

c)    gemeinsam (oder jeder für sich) auf etwas zu konzentrieren, was da ist.

 

Kontakt, der nur dazu dient, mich von dem abzulenken, was ist, lehne ich ab. Die meisten NTs, die ich kenne, kommen zusammen, um genau das zu tun. Sie nennen das meistens „eine gute Zeit“ haben, oder „gut drauf“ sein. Von sowas habe ich nichts. Warum sollte ich das tun? Wenn ich beobachte, was Menschen tun, die „eine gute Zeit“ haben oder „gut drauf“ sind, dann will ich von dem, was sie da gemeinsam erleben, meistens nichts abhaben. Nicht mal ein Gramm. Ich will da sein. Und zum da sein gehört die Konzentration auf das, was ist.

 

 

Zusammengefasst:

 

NTs lassen sich gerne ablenken. Ich nicht. Ich hasse es, wenn ich abgelenkt werde. Ich hasse es, wenn ich rausgerissen werde aus meiner Konzentration und meinem Tun. Ich stelle immer wieder fest, dass den NTs, denen ich begegne, und die ich beobachte, meine Art der Konzentration völlig fremd zu sein scheint. Sie gehen nicht auf in dem, was ist. Im Gegenteil: Sie versuchen, woanders zu sein und sich abzulenken. Ich habe den Eindruck, dass die (a)sozialen Medien und viel von der modernen Telekommunikation (Smartphones etc.) vor allem diesem Zweck dient: Da sein und doch nicht da sein.

 

Am liebsten nutzen die NTs für diese Ablenkung andere Menschen – Kontakt. Das scheint ein ungeschriebener Vertrag zwischen ihnen zu sein: Ich kontaktiere dich, um dich aus deiner Situation rauszureißen, und du kontaktierst mich, um mich aus meiner Situation rauszureißen. So ziemlich jeder NT, dem ich begegne, scheint sich an diesen Vertrag zu halten. Wenn sie einander begegnen, dann begegnen sie sich nicht wirklich, sondern tauschen artige und belanglose Nichtigkeiten aus, die am Fühlen und Denken hindern sollen. Sie bleiben, wenn sie in Kontakt treten, absolut oberflächlich. Sie sind, wenn sie in Kontakt treten, nicht an einer echten und tiefen Begegnung interessiert, sondern wollen aus ihrer Situation raus und irgendwo anders sein. Wenn sie dann wieder auseinandergehen, sind sie einander nicht wirklich begegnet, sondern haben beinahe mechanisch irgendwelche belanglosen und artigen Nichtigkeiten ausgetauscht.

 

Mir ist das sehr fremd. Für mich wäre diese Art, in der Welt zu sein, absolut tödlich.

 

Ich habe nicht den Eindruck, dass ich wirklich verstehe, was die NTs da die ganze Zeit treiben. Ich kann es nur wahrnehmen, beobachten und dokumentieren.

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