· 

Ich bin

Als ich vorletztes Jahr meine zweite Psychotherapie begann, sollte ich – wie üblich – zunächst einen wirklich umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Ich sollte Auskunft geben über mein bisheriges Leben und mein Innenleben. Diese Fragen sollte ich möglichst spontan beantworten. Darauf wurde großer Wert gelegt: Nicht lange überlegen, sondern spontan antworten. Die erste Frage lautete:

„Was sind Sie für ein Mensch?“

Ich schrieb spontan hin:

„1,90 Meter groß, männlich, Autist.“

Ich hatte keine Ahnung, was die da von mir wollten.

 

Die Frage „Was bin ich für ein Mensch?“ – oder kürzer: „Wer bin ich?“ - treibt sehr viele Menschen um. Nach allem, was ich sehen kann, ist das eine sehr wichtige und sehr existenzielle Frage. Noch wichtiger ist natürlich die Antwort auf diese Frage. Antwortgeber scheint es sehr viele zu geben: (1) Religionsmenschen, (2) Philosophen, (3) Psychologen, (4) Ärzte, (5) Wissenschaftler, (6) Menschen, die ohne jede für mich erkennbare Qualifikation im Fernsehen oder im Internet auftauchen und die Welt erklären. (7) Ebensolche Menschen, die dicke Bücher schreiben … und so weiter. Sie geben viele unterschiedliche Antworten. Ich kann keine klaren Kriterien erkennen, anhand derer man die Güte dieser Antworten beurteilen kann. Letztens tauchte „Wer bin ich?“ wieder mal in meinem Leben auf. Und ich dachte, ich schreibe mal was dazu.

 

Wie kam es, dass die Frage „Wer bin ich?“ wieder mal in meinem Leben auftauchte?

 

Als ich Psychologie studierte, musste ich im Grundstudium sieben Fächer studieren:

 

1.    Allgemeine Psychologie I – alles, was mit Wahrnehmung zu tun hat

2.    Allgemeine Psychologie II – alles, was mit Verhalten zu tun hat

3.    Differentielle Psychologie – alles, was mit Persönlichkeit zu tun hat

4.    Entwicklungspsychologie – wie entwickelt sich die Psyche des Menschen vom Ungeborenen bis zum Greis?

5.    Mathematische Psychologie – wie geht Wissenschaft?

6. Physiologische Psychologie – die medizinische Seite der Psychologie: Anatomie (vor allem des Gehirns), Neurologie, Endokrinologie, Sinnesphysiologie, Hirn, Nerven, Muskeln, Organe, Haut

7.    Sozialpsychologie – das Verhalten von Menschen in Gruppen

 

Ungefähr vierzig Prozent dessen, was ich im Studium lernte, war reine bzw. angewandte Mathematik. Der Rest verteilte sich auf die anderen Fächer.

 

Die meisten Schwierigkeiten hatte ich mit Entwicklungspsychologie. Denn das, was ich dort lernte, war nicht Wissenschaft, sondern Meinung. Der Professor, der uns unterrichtete, der hatte es nicht so mit Mathematik. Überhaupt nicht. Er hatte seine Meinung zu den Dingen, und nur die zählte, und die hatten wir auswendig zu lernen.

 

Theorien gibt es in der Entwicklungspsychologie wie Sand am Meer. Und die meisten hören sich toll und sehr plausibel an. Aber in der Psychologie gilt dasselbe wie in der Physik:

 

„Es ist egal, wie schön deine Theorie ist, es ist egal, wie klug du bist. Wenn deine Theorie nicht mit den Ergebnissen der Experimente übereinstimmt, dann ist sie falsch.“

(Richard P. Feynman)

 

Mit anderen Worten:

Was immer du glaubst, über die psychische Entwicklung von Menschen zu wissen: Wenn du es nicht durch wissenschaftliche Beobachtung oder Experimente absichern kannst, dann ist es bloße Meinung. Dann kann das, was du da sagst, falsch oder richtig sein – niemand kann das wissen.

 

Der Professor, bei dem ich Entwicklungspsychologie lernte, der hatte es nicht so mit Mathematik und mit Experimenten. Er hielt sich für klug und berühmt. Darüber hinaus hatte er seine festgefügte Meinung zu allem und jedem. - Und das schien ihm vollauf zu genügen.

 

Ich hörte in seinen Vorlesungen beinahe nur Wischi-Waschi-Kram. Und Diskussionsbeiträge von Studentinnen, die deutlich älter waren als ich und so kluge Sachen sagten wie:

„Bei meinem Kind ist das aber anders!“

Ich ging nach ein paar Monaten nicht mehr hin.

 

Wissenschaft ist meistens ein sehr mühsames und zähes Geschäft, das gebe ich gerne zu.

Wenn ein Wissenschaftler forscht und die Ergebnisse von zehn Jahren harter und intensiver Arbeit der Öffentlichkeit präsentiert, dann lässt sich das fast immer mit ein paar Seiten DIN A 4 bewerkstelligen.

 

Da ist es natürlich sehr verführerisch, auf einen wissenschaftlichen Ansatz gleich ganz zu verzichten, die große Erleuchtung zu haben und sich irgendein System zusammenzuschwurbeln, mit dem man die ganze Welt erklären kann. Damit kann man dann dicke Bücher füllen. Diese Bücher finden oft reißenden Absatz – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Fachartikeln. (Das macht es noch verführerischer, sich irgendwas zusammenzuschwurbeln). Diese Form des Dummenfangs ist deshalb gerade in der Psychologie sehr weit verbreitet. Wenn du dich fragst, wer du bist oder wie Menschen ticken, dann werden dir hunderte Psychoschwurbler schon eine Antwort geben. Sie widersprechen sich fast alle, aber alle haben sie Recht. (Und falls ich je ein Buch über irgendeinen Psychokram schreiben sollte: Selbstverständlich ist das, was in diesem Buch steht, absolut maßgebend. Ich habe Recht, und alle anderen haben Unrecht. Denn ich weiß Bescheid, die anderen nicht. Fallen Sie dann also bitte nicht mehr auf die Schwurbelei der anderen herein, sondern nur noch auf meine. Bitte weitersagen und dieses Buch vorbestellen).

 

Ich sollte also bei einem Schwurbelprofessor Entwicklungspsychologie lernen. Ich hab’s lieber gelassen und mich in diesem Fach autodidaktisch weitergebildet. Aber bis heute bin ich in Entwicklungspsychologie nicht wirklich sattelfest. Das führt dazu, dass ich bei meiner Weiterbildung immer wieder auf Theorien stoße, die ich damals schon nicht verstanden bzw. angezweifelt habe. Letzte Woche stieß ich wieder auf das Entwicklungsmodell von Erikson, das sehr weite Verbreitung gefunden hat. Erikson beschreibt acht Stufen, die ein Mensch durchläuft. Jede Stufe hält eine bestimmte Entwicklungsaufgabe für den Menschen bereit. Diese Aufgabe kann er meistern, oder er kann daran scheitern. Und auf jeder dieser Stufen wird die Frage „Wer bin ich?“ auf ganz spezifische Weise beantwortet. Eriksons Modell ist nach meinem Kenntnisstand in keiner Weise wissenschaftlich abgesichert. Man kann also daran glauben, man kann’s aber auch lassen.

 

Ich versteh‘ dieses Modell nicht, ich kann damit nichts anfangen. Deshalb habe ich es mir jetzt von einer Psychologie-Studentin erklären lassen. Und schon nach ihren ersten Sätzen brandete in mir wieder dieser Unwille auf:

„Stimmt nicht! So funktioniert der Mensch nicht!“

Dann kriegte ich mich aber wieder ein und ging das Modell mit der Studentin detaillierter durch.

Laut sagte ich dann:

„Vielleicht bin ich auch nur deshalb so ungehalten, weil ich bis jetzt an jeder dieser Entwicklungsaufgaben krachend gescheitert bin.“

 

Schauen wir uns das mal an. (Was jetzt folgt, ist nicht Wissenschaft, sondern Meinung – meine Meinung. Und nochmal: Ich verstehe dieses Modell nicht. Es leuchtet mir nicht ein. Es kann also gut sein, dass ich es völlig missinterpretiere).

 

 

Stufe 1 (Neugeborenes bis erstes Lebensjahr)

Urvertrauen versus Ur-Misstrauen (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man Urvertrauen. Wenn man an ihr scheitert, dann entwickelt man Urmisstrauen).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was man mir gibt.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Ich habe als Säugling Urmisstrauen aufgebaut – hoch und fest, massiv und ausgedehnt wie ein Gebirge.

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was man mir in dieser Zeit gab, dann bin ich vor allem eins: Vernachlässigung und Gewalt.

 

 

Stufe 2 (zweites und drittes Lebensjahr)

Autonomie versus Scham und Zweifel (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man Autonomie. Wenn man an ihr scheitert, dann entwickelt man Scham und Zweifel).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich will.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Autonomie bzw. Autonomieentwicklung war mir nur in sehr eingeschränktem Maße gestattet. Ich war der bewegliche Besitz meiner leiblichen Eltern und wurde auch exakt so behandelt. Ich wurde verkauft (und wieder zurückgegeben), ich bin vermietet und verliehen worden. Und ansonsten war ich ein Gegenstand im Haushalt meiner leiblichen Eltern. Ich neige derart intensiv und reflexhaft zu Selbstzweifeln, dass es große Teile meines Lebens bestimmt.

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was ich will, dann habe ich vor allem das Problem, dass ich sehr oft nicht weiß, was ich eigentlich will. In Summe: Ich weiß also nicht, wer ich bin.

 

 

Stufe 3 (viertes und fünftes Lebensjahr)

Initiative versus Schuldgefühl (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man Initiative. Wenn man an ihr scheitert, dann entwickelt man Schuldgefühle).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich mir vorstellen kann, zu werden.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Ich bin sicherlich ein Mensch, der Initiative entwickelt. Immer schon. Gleichzeitig gilt: Auch intensive Schuldgefühle sind mir nicht fremd.

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was ich mir vorstellen kann – vorstellen kann ich mir so ziemlich alles. Immer schon. Ich bin ein recht fantasiebegabter Mensch. Also habe ich keine Ahnung, wer ich bin.

 

 

Stufe 4 (sechstes Lebensjahr bis Pubertät)

Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (Worterklärung: Mit „Werksinn“ meint Erikson, dass man etwas Nützliches und Gutes schafft. Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man das Gefühl, dass es einem gelingt, etwas Gutes und Nützliches zu schaffen. Wenn man an ihr scheitert, dann entwickelt man Minderwertigkeitsgefühl).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich lerne.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Durch mein ganzes Leben (also auch durch meine Kindheit) zieht sich das klare Bewusstsein, dass ich etwas Gutes und Nützliches schaffen kann. Gleichzeitig gilt: Meine ersten drei Lebensjahrzehnte habe ich mich in einer Weise minderwertig gefühlt, die deutlich über das hinausgeht, was man noch als gesund oder als normal betrachten könnte. (Nur begann das schon direkt nach der Geburt und nicht erst ab dem sechsten Lebensjahr).

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was ich lerne – ach du liebe Güte … Ich war schon immer so wissbegierig und hab‘ schon als Kind dicke Lexika gewälzt, um zu lernen. Und ich habe mich auch schon immer für praktische Dinge interessiert und Handwerkliches gelernt. Wenn ich bin, was ich lerne, dann bin ich alles mögliche.

 

 

Stufe 5 (Jugendalter)

Ich-Identität versus Ich-Identitätsdiffusion (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man Ich-Identität. Man weiß also, wer man ist. Wenn man an ihr scheitert, dann rätselt man, wer man ist).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich bin.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Auch hier – völliges Scheitern. Ich weiß bis heute nicht, wer oder was ich bin. Und als Jugendlicher wusste ich das schon gar nicht. Irgendwann hatte ich einen Personalausweis. Da stand dann wenigstens mein Name drin – amtlich und gesichert.

Wer bin ich?

Der Satz „Ich bin, was ich bin“ ist logisch gesehen eine Tautologie – ein Satz, der immer richtig ist. Mit sowas kann ich nichts mit anfangen. Dafür bin ich einfach nicht weise genug.

 

 

Stufe 6 (frühes Erwachsenenalter)

Intimität und Solidarität versus Isolation (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann entwickelt man Intimität und Solidarität mit anderen. Wenn man an ihr scheitert, dann kapselt man sich ab und isoliert sich).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich liebe.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Im frühen Erwachsenenalter begriff ich in dieser Hinsicht vor allem eins: Ich kann nicht lieben. Ich konnte machen, was ich wollte – ich war nicht in der Lage, zu lieben. Die Verzweiflung darüber war einer der Motivatoren, die mich in die Therapie trieben.

Wer bin ich?

In dieser Zeit galt:

Wenn ich bin, was ich liebe, dann bin ich nichts.

Heute würde gelten:

Wenn ich bin, was ich liebe, dann bin ich ziemlich viele.

 

 

Stufe 7 (Erwachsenenalter)

Generativität versus Stagnation und Selbstabsorption

(Worterklärung: „Generativität“ bedeutet bei Erikson, dass man etwas an die nächste Generation weitergibt. Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann gibt man an die nächste Generation weiter. Wenn man an ihr scheitert, dann bleibt man stecken und dreht sich nur noch um sich selber).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich bereit bin zu geben.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Ich habe zwei Kinder großgezogen. Und beruflich finde ich Erfüllung darin, junge Talente an Aufgaben heranzuführen und sie dabei zu begleiten.

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was ich gebe, dann bin ich nichts.

Ich habe nichts zu geben, also gebe ich auch nichts. Ich bin einfach nur da.

 

 

Stufe 8 (reifes Erwachsenenalter (was immer das auch ist))

Ich-Integrität versus Verzweiflung (Also: Wenn man diese Stufe meistert, dann nimmt man sein Leben in seiner Gesamtheit an. Wenn man an ihr scheitert, dann verzweifelt man und wird altersdepressiv).

Was bin ich in dieser Entwicklungsstufe?

Ich bin, was ich mir angeeignet habe.

 

Ergebnis meiner Prüfung:

Offenbar geht es in dieser Stufe darum, sein Leben anzunehmen und sich konstruktiv mit seiner eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.

Das tue ich. Immer schon.

(a)  Mein Leben nehme ich an – ich habe kein anderes. Das war noch nie anders.

(b)  Mit dem Tod setze ich mich intensiv auseinander, seit ich denken kann.

   Der Tod ist mein ständiger Begleiter. Immer schon. Im Englischen nenne ich ihn meinen „silent twin brother“.

 

Ob ich an dieser Aufgabe gescheitert bin oder nicht – keine Ahnung. Aber vermutlich bin ich bislang nur ein Erwachsener und kein reifer Erwachsener und habe das alles noch vor mir.

Wer bin ich?

Wenn ich bin, was ich mir angeeignet habe, dann bin ich alles mögliche.

 

 

 

 

Fazit:

Wer bin ich?

 

Ich habe keine Ahnung, wer ich bin.

Aber ich bin. Das scheint mir unwiderlegbar zu sein.

Und fast immer reicht mir das vollkommen aus:

 

Ich bin.

Mehr muss ich nicht wissen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0