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Ich verstehe vollkommen

*** Natürlich hat sich das alles ganz anders zugetragen. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

 

Natürlich kann der gesamte Text Spuren von Ironie enthalten. Ironieallergiker sollten das also nicht lesen.

 

Und ansonsten gilt wie immer bei solchen Texten von mir:

Wer sich angegriffen fühlt, der ist gemeint. ***

 

 

1

Neulich hatte ich beruflich wieder am Frankfurter Flughafen zu tun. Dabei begegnete ich einem Neandertaler. Er überreichte mir freundlich und stolz seine Visitenkarte. „Gretlin Hutango“ las ich da „Experte für Airbus A330 und A350“.

 

Ich fragte Herrn Hutango, was das genau bedeutete, dass er „Experte“ für diese Flugzeugtypen war.

 

„Sie sind doch Neandertaler“, sagte ich ihm.

Herr Hutango nickte bekräftigend.

Ich schaute ihn zweifelnd an und fuhr fort:

„Und trotzdem sind Sie Experte für moderne Passagierflugzeuge?“

„Nicht für moderne Passagierflugzeuge“, antwortete Herr Hutango wichtig. „Nur für den A330 und den A350.“

 

Ich konnte das immer noch nicht glauben:

„Ein Neandertaler fliegt Passagierflugzeuge?!“

Herr Hutango schaute mich etwas verwirrt an:

„Fliegen?“

An seinem Gesicht sah ich, dass er meine Frage überhaupt nicht verstand.

„Ja, fliegen“, antwortete ich. „Hier steht, dass Sie Experte für den A330 und A350 sind.“

„Ganz richtig“, unterbrach mich Herr Hutango.

„Und das sind Passagierflugzeuge.“

„Ganz richtig“, wiederholte der Neandertaler.

„Na, dann geh‘ ich davon aus, dass Sie die Dinger auch fliegen“, fuhr ich fort.

„Grundfalsch!“ entgegnete mir Herr Hutango freundlich. „Menschen können nicht fliegen.“

Er schaute mich ein wenig so an, als sei ich ein ahnungsloser Idiot, dem man auch das einfachste erklären muss.

„Ja, was machen Sie dann in Ihrem Beruf?“ wollte ich von ihm wissen.

„Ich weiß alles über den A330 und den A350.“

„Ja, das sagten Sie schon. Aber was genau tun Sie in Ihrem Beruf?“

Herr Hutango war sehr freundlich und hatte offenbar viel Zeit.

„Kommen Sie mit“, sagte er mir und griff mit seiner Hand nach meinem Ellenbogen.

„Ich zeige es Ihnen.“

 

Er führte mich hinaus auf dieses riesige Flugfeld, dass sie da am Frankfurter Flughafen haben. Der Lärm der startenden und landenden Maschinen war wie immer ohrenbetäubend. Dort gingen wir zu einem kleinen Auto, das in den üblichen Fraport-Farben angemalt war. Herr Hutango setzte sich ans Steuer, ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Dann fuhr er mich einige Kilometer zu einem abgelegenen Teil des Flugfeldes. Hier standen Frachtmaschinen der DHL, einige Transporter der amerikanischen Luftwaffe, sowie ein paar Maschinen des Typs A330, die offenbar gewartet wurden. - Wirklich riesige Dinger, wenn man so direkt vor ihnen steht.

An einer dieser Maschinen hielt Herr Hutango an, stieg aus und wechselte ein paar Worte mit einem der Arbeiter, die hier allenthalben an den Maschinen rumwerkelten. Dann kam er zu mir und öffnete die Beifahrertür:

„Kommen Sie“, sagte er freundlich. „Wir können rein. Es ist grad‘ niemand in der Maschine.“

 

Wir kletterten über eine Art Leiter ins Cockpit. Hier blühte der Neandertaler so richtig auf. Er deutete mit einladender Gestik auf all die Knöpfe, Hebel, Schalter und Anzeigen:

„Das ist mein Reich!“ sagte er.

 

Ich verstand ihn nicht.

„Und was machen Sie hier?“ wollte ich von ihm wissen.

Der Neandertaler freute sich über mein Interesse.

„Ich zeige es Ihnen.“

Mit einer Geste lud er mich ein, auf dem Sessel des Copiloten Platz zu nehmen. Er selber setzte sich schwungvoll auf den Sitz des Piloten.

Mit sanften und ausholenden Bewegungen ließ er seine beiden Hände über die Köpfe, Schalter und Bedienelemente gleiten.

„Ich kenne sie alle“, sagte er. „Ich kenne Sie alle. Ich habe sie jahrelang studiert. Jahrzehntelang. Ich habe mein ganzes Berufsleben nichts anderes gemacht. Ich bin einer der ganz wenigen, die wissen, wozu das alles gut ist.“

Er sinnierte weiter, als er seine Hände über die Armaturen gleiten ließ:

„Ich verstehe das hier“, sagte er. „Ich verstehe das hier vollkommen.“

 

Ich wurde ein bisschen ungeduldig.

„Ja … schon“, antwortete ich ihm. „Aber was ist es, was Sie hier tun? Sie fliegen ja nicht.“

Die warme Freundlichkeit des Herrn Hutango schien unerschütterlich. Er wusste, dass er es bei mir mit einem Idioten zu tun hatte, dem man alles erklären musste. Ständig redete ich vom Fliegen, während er offenbar was ganz anderes im Sinn hatte.

Und erneut sagte er mir:

„Ich zeige es Ihnen.“

 

Und dann legte er los.

„Wenn man an diesem Hebel hier zieht“ – er tat es, und ich hörte das vertraute Geräusch von Landeklappen, die ausgefahren wurden.

„Hören Sie das?“ fragte der Neandertaler eifrig.

Ich nickte: „Ja, ich höre das.“

„Das ist das Geräusch, dass man in der Fachsprache „Furlo“ nennt.“

„Furlo?“ Ich verstand nichts mehr.

„Ja, Furlo, das ist das Geräusch, das ein Furlo macht. Und hier …“, er schob einen anderen Hebel nach hinten, der dicht neben dem ersten lag „Das ist Farango.“

Ich hörte, wie sich irgendwas an den Tragflächen bewegte.

Ich las die Beschriftung neben dem Hebel:

„Speed Brake“ las ich da. Das schien also irgendeine Bremse zu sein.

„Und was ist „Farango“?“ wollte ich vom Neandertaler wissen?

„Das ist der Bruderton von Furlo“, erklärte er mir. „Diese beiden Töne harmonieren.“

„Aha“, sagte ich. „Die harmonieren also.“

„Ganz richtig.“

Herr Hutango freute sich, dass ich allmählich anfing, zu begreifen.

 

Und dann ging er mit mir all diese Hebel und Knöpfe durch. Jeder dieser Hebel und Knöpfe hatte in seiner „Fachsprache“ einen ganz bestimmten Namen. Und immer wusste er ganz genau, was passierte, wenn er auf die Knöpfe drückte und die Hebel umlegte: Immer machte es dann ganz bestimmte Geräusche oder bewirkte irgendwelche Lichteffekte. Und auch diese Geräusche und Lichteffekte – Herr Hutango kannte sie alle. Er kannte sie alle in- und auswendig. Und natürlich hatte jedes Geräusch und jeder Lichteffekt in seiner „Fachsprache“ einen Namen.

 

Wir saßen über zwei Stunden in diesem Cockpit. Mit größter Wonne ging Herr Hutango mit mir all diese Geräusche und Lichter durch. Er ging vollkommen in seiner Tätigkeit auf. Er wurde nicht müde, mir das zu erklären. Dies war Hadando und jenes war Wurlogo. Wenn er sich am künstlichen Horizont zu schaffen machte, dann war das resultierende Licht Liwri und wenn er das Licht über den Sitzen einschaltete, dann entstand Nimri. Offenbar endeten bei ihm alle Geräuscheffekte auf den Buchstaben o und die Lichteffekte auf den Vokal i.

 

Das hatte also alles eine gewisse Systematik.

 

Aber das langweilte mich dann doch irgendwann. Um die Sprache auf etwas anderes zu bringen, fragte ich den Neandertaler nach den Passagieren. Das sagte ihm überhaupt nichts. Und durch Nachfragen fand ich heraus, dass er von dem ganzen Flugzeug tatsächlich nur das Cockpit kannte.

 

Ich fragte weiter: Er hatte wirklich keine Ahnung vom Fliegen. Kitty Hawk, die Gebrüder Wright, Otto Lilienthal, Messerschmidt, Junckers, Boeing – das sagte ihm alles überhaupt nichts. Er wusste nichts von Aerodynamik oder Flugphysik. Er wusste nicht, dass das Flugzeug mit Kerosin angetrieben wurde, und er kannte keinen Flughafen außer dem in Frankfurt. Und selbstverständlich war er noch nie geflogen.

„Menschen können nicht fliegen“, antwortete er mir beiläufig auf meine Frage, während er da auf seinen Knöpfen rumdrückte.

 

Und das war offensichtlich so ziemlich alles, was er konnte:

Im Cockpit auf Knöpfe drücken und an Hebeln ziehen und den resultierenden Licht- und Geräuscheffekten Namen zuordnen. Auf seine „Fachsprache“ war er unheimlich stolz. Sie war ihm Ausweis seines Expertentums. Aber er hatte tatsächlich überhaupt keine Ahnung, in was er da saß, und wozu das alles gut war.

Kein Wunder, dachte ich – er ist ja schließlich ein Neandertaler. Aber er war ein Neandertaler, der mit all diesen Hebeln und Knöpfen wirklich vertraut war. Und mit seiner „Fachsprache“. Er hatte das alles studiert – jahrzehntelang, wie er immer wieder betonte.

 

Die Zeit verging, und ich musste weiter. Er brachte mich noch zur Tür des Cockpits. Zum Abschied sagte er mir:

„Ich verstehe das hier alles. Ich verstehe es vollkommen.“ Seine Augen waren die glücklichen Augen eines Menschen, der sein Metier wirklich gemeistert hat.

 

Ich fuhr in dem Auto, mit dem wir gekommen waren, wieder zurück zum Terminal 1 und ließ mir das alles durch den Kopf gehen.

 

 

2

Neulich war ich wieder auf einem größeren Kongress, der dem Thema Autismus gewidmet war. Ich saß im größten Vortragssaal, den sie da hatten und hörte mir an, was die neurotypischen Experten über uns zu sagen hatten. Ein Professor sprach. Dann der Leiter einer psychiatrischen Klinik. Dann ein Personaler eines Großkonzerns, der sich darauf spezialisiert hatte, Autisten einzustellen. Dann sprach noch ein Professor, dann noch einer.

 

Alles NTs.

 

Sie bestätigten sich gegenseitig ihre Vorurteile, die sie über uns hatten und untermalten das mit schmucken Diagrammen und Tabellen auf Powerpoint. Und sie hatten jede Menge Fachbegriffe für uns Autisten und unser Verhalten. Ihre „Fachsprache“ schien unerschöpflich zu sein.

„Ja“, dachte ich mir, „so entsteht Wissen – wirklich profundes Wissen.“

 

In der Mittagspause ging ich auf einen dieser Professoren zu, weil ich noch ein paar Fragen an ihn hatte.

Ich sagte ihm, dass ich Autist sei.

 

Er gab mir die Hand und schaute mir dabei fest in die Augen.

„Ich verstehe Sie“, sagte er mir. „Ich verstehe Sie vollkommen.“

Und dabei hatte er diesen glücklichen Blick, den Menschen haben, die wissen, dass sie ihr berufliches Metier vollkommen durchdrungen haben.

 

 

 

Und wie ich oben schon sagte:

Natürlich hat sich das alles ganz anders zugetragen.

 

Und speziell die neurotypischen Experten, die sich ständig mit uns beschäftigen und uns jahrzehntelang studiert haben, die wissen wirklich über uns Bescheid. Die kennen uns besser als wir uns selber. Viel besser. Die sagen uns, wer wir sind und was wir brauchen. Denn sie wissen das. Sie wissen das besser als wir selber. Sie wissen auch besser als wir, was wir fühlen und denken. Viel besser. Diese Experten sind kommunikativ. Sie erzählen auch allen anderen, wer wir sind und wie wir sind, was wir fühlen und denken, und was wir brauchen. Das tun sie den ganzen Tag. Denn sie sind die Experten in Sachen Autismus und autistisches Leben, nicht wir. Sie sollte man in dieser Sache fragen, nicht uns. Auf sie sollte man hören, nicht auf uns.

 

Und wenn ich lese, was sie über uns schreiben, wenn ich höre, was sie über uns sagen, und wenn ich sie persönlich erlebe – alles Experten. Alles Experten mit jahrzehntelanger intensiver Erfahrung und weitreichenden Kenntnissen:

 

So wie ein Neandertaler, der im Cockpit eines Airbus A330 sitzt und auf Knöpfe drückt und an Hebeln zieht.

 

Genau so.

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