Brief ans zukünftige Ich

Als ich nach dem Studium meine Karriere als freiberuflicher Trainer und Dozent anfing, machte ich mir viele Gedanken über die sogenannte Transfersicherung. Transfersicherung im Zusammenhang mit Managementtraining bedeutet, dass das, was im Training gelernt wird, auch in die Praxis umgesetzt wird. Jeder, der im Managementtraining arbeitet, weiß: Das, was die Menschen sich am Ende des Seminars an Verhaltensänderung fest vornehmen, ist das eine. Das, was sich davon nachhaltig in ihrem praktischen Tun niederschlägt – das ist etwas ganz anderes.

 

Sehr oft ist es so:

Die Menschen nehmen sich am Ende des Seminars 100 vor.

Und maximal 2 bis 5 davon setzten sie nachhaltig in der Praxis um.

Maximal.

 

Das wissen natürlich auch die Spitzenmanager, die für so ein Training bezahlen. Managementtraining ist sehr, sehr teuer. Ein guter Trainer ist nicht für unter 2.000 Euro am Tag zu bekommen (plus Spesen, versteht sich). Und die Kosten für Unterbringung und Verpflegung der Teilnehmer sind geradezu horrend.

Natürlich kann man für ein Seminar auch weniger ausgeben. Aber dann bekommt man auch nur die Trainer der entsprechenden Güteklasse. „Gut und billig“ geht in der Erwachsenenbildung genauso wenig wie sonstwo. Qualität hat ihren Preis.

Aber wenn so ein Spitzenmanager zigtausende Euro für die Weiterentwicklung seiner Leute ausgibt, dann will er auch wissen, was dabei rauskommt. Was ist der Return on Invest?

 

Tja.

Berechtigte Frage.

Sehr berechtigte Frage.

Was ist der Return on Invest bei Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung?

Als ich an der Uni Vorlesungen zum Marketing hörte, erzählte uns ein Professor:

„80 Prozent des Geldes, das Sie für Werbung ausgeben, ist immer rausgeschmissenes Geld. Damit erreichen Sie die Kunden nicht. Das könnten sie sich eigentlich sparen. Aber Sie wissen nie, welche 80 Prozent von Ihren hundert Prozent das sind.“

Bei der Investition in Persönlichkeitsentwicklung ist es ganz ähnlich.

 

Wenn man die investierten Gelder bei Seminaren effizienter einsetzen will, muss man also eine Antwort auf die Frage finden:

„Was ist der Grund, dass Menschen nicht das tun, was sie für sich als richtig erkannt haben?“

Oder flapsiger ausgedrückt:

„Warum tun die Menschen nicht das, was sie sich ganz fest vornehmen?“

 

Auf solche Fragen hatte mich an der Universität niemand vorbereitet. Aber sie sind sehr, sehr wichtig. Also ging ich ihnen auf den Grund. Wie das so meine Art ist, tat ich das in aller Gründlichkeit. Aber es sollte dennoch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis ich logisch schlüssige Antworten auf sie gefunden hatte.

 

So lange konnte ich damals - am Anfang meiner beruflichen Karriere - jedoch nicht warten. Ich brauchte jetzt sofort irgendwas, was half, den Transfer des Gelernten in die Praxis zu sichern. Ich hörte mich also bei Kollegen um, die erfolgreicher und erfahrener waren als ich. Wie gingen die diese Problemstellung an? Und siehe da – es gab da die eine oder andere Methode.

 

Damals war es sehr in Mode, dass Teilnehmer in Management-Seminaren am Ende des Seminars einen Brief an ihr zukünftiges Ich schrieben. In diesem Brief sollten sie all das festhalten, was sie sich in diesem Seminar für die Zukunft vorgenommen hatten. Diesen Brief steckten sie in einen Umschlag, den sie verschlossen und an sich selbst adressierten. Der Brief wurde dann dem Trainer gegeben, der ihn zum vereinbarten Zeitpunkt in der Zukunft frankierte und zur Post brachte. So bekam jeder Teilnehmer irgendwann – zu einem Zeitpunkt in der Zukunft, den er selber festlegte –, Post aus der Vergangenheit. Post von seinem vergangenen Ich.

Ich war sehr angetan von dieser Idee. Ich fand das Vorgehen sehr kreativ. Ich fand das Gesamtkonzept brillant. 

 

Also setzte ich das in meinen Seminaren regelmäßig ein.

Und wurde schrecklich enttäuscht.

 

Die Resultate dieser Managementmode waren genauso ernüchternd wie die Resultate (fast) aller Managementmoden davor und danach. Sie waren genauso ernüchternd wie die Ergebnisse (fast) aller anderen Methoden, die ich mir von erfolgreicheren und erfahreneren Kollegen abguckte.

 

Die Briefe waren nett und schön und richtig:

Ein gelungenes Gimmick zum Seminarende.

Aber sie trugen nicht messbar oder fühlbar zur Transfersicherung bei.

 

Ich hörte also auf damit. In meinen Seminaren wurde schon sehr bald niemand mehr von mir eingeladen, einen Brief an sein zukünftiges Ich zu schreiben.

Diese Mode zur Transfersicherung ebbte dann auch weltweit sehr bald wieder ab (wie alle anderen Moden auch). Sie wurde dann durch eine andere Mode ersetzt (wie alle anderen Moden auch).

 

Einschub

Ich bin jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert im Managementtraining tätig.Ich habe schon viele Managementmoden kommen und gehen sehen. Sie alle werden natürlich zu Beginn dieser Welle als die ultimative Lösung angepriesen. Plötzlich geht alles. Und ganz einfach ist es auch. (Das ganze Brimborium drumherum ist der Vermarktung der Wunderkuren, die im Mittelalter auf Märkten verkauft wurden, sehr, sehr ähnlich). Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nur ganz selten nützlich ist, irgendwelche Lösungen für Probleme zu implementieren, wenn man die Problemstellung nicht durch und durch begriffen hat. Wenn uns die innersten logischen Zusammenhänge einer Problemstellung nicht vertraut sind, dann ist es bloßer Zufall, wenn wir eine nachhaltige Lösung für ein soziales Problem finden.

 

Das ist für mich als Managementtrainer aber nicht weiter schlimm. Denn nach meiner Erfahrung gilt dieser Zusammenhang:

a)    Spitzenmanager sind genauso hilf- und ahnungslos wie jeder andere Mensch auch.

b)    Da sie das aufgrund ihrer sozialen Position nicht zugeben können und wollen, laufen sie buchstäblich jeder Managementmode hinterher, die gerade angesagt ist. (Unternehmensberater verdienen sich mit diesem nachweislich nutzlosen Quatsch seit jeher eine goldene Nase (Sprachbild). Alle paar Jahre erfinden sie eine neue Managementmode, die sie als Wunderdroge für ein horrendes Geld an die Konzerne verkaufen).

c)    Irgendwann stellt sich heraus, wie schädlich diese Wunderdroge in Wirklichkeit war. Und dann wird ganz schnell nach Managementtrainern gerufen, die die Scherben aufkehren (Sprachbild).

d)    Derweil jagt das Spitzenmanagement bereits der nächsten Mode nach, was mir weitere Aufträge für die Zukunft garantiert.

Einschub Ende

 

Also – keine Briefe mehr ans zukünftige Ich in meinen Seminaren. Und auch woanders nicht mehr. Diese Welle ebbte ab und verschwand dann unter die Nachweisgrenze.

 

Mittlerweile gehen aber die Trainer, die diese Erfahrungen mit Briefen an sich selbst gemacht haben, allmählich in den Ruhestand. Und eine ganz neue Generation von Trainern und Coaches tritt an: Jung, dynamisch, erfolgreich – mit gaaaaaanz vielen gaaaaanz neuen Ideen. (Im Moment lauten die Zauberworte, mit der diese Menschen ihre Wunderkuren verkaufen „digital“, „agil“ und „disruptiv“. Wer von der anderen Ecke des Marktes kommt, ist weiterhin mit „Achtsamkeit“ und „Entschleunigung“ sehr gut dabei. „Achtsamkeit“ und „Entschleunigung“ gehen immer). Dieseneuen und unverbrauchten Trainer und Coaches haben die Erfahrung, von denen ich vorhin sprach, noch nicht gemacht. Und so stelle ich fest, dass ich bei der Selbstvermarktung von Managementtrainern und Coaches immer häufiger auf dieses Konzept stoße.

Auf einmal werden wieder sehr häufig „Briefe an das zukünftige Ich“ angepriesen. Oder für Freunde der englischen Sprache: „Letters to your future self“

 

Jo.

Ich recherchiere gerade wegen einer berufliche Fragestellung intensiv im Netz nach Trainern und Coaches. Und da habe ich wirklich viele zu Herzen gehende Briefe an das zukünftige Selbst gefunden.

 

Ich sage nicht, dass Briefe an das zukünftige Selbst nichts bringen. Ich habe nur in meinem Beruf die Erfahrung gemacht, dass sie keine feststellbaren Resultate brachten. (Und ich gehe an sowas wissenschaftlich ran – also mit Beobachtungsplänen, Strichlisten und Signifikanztests).

 

Ich habe mir vorhin mal überlegt, wie denn ein Brief an mein zukünftiges Ich aussehen würde, wenn ich sowas an mich selber schreiben würde.

Das hatten meine Kleinen ratz-fatz fertig. Hier ist er (bitte sehr):

 

 

Lieber zukünftiger Stiller,

 

mach‘ du mal.

Ich bin sehr, sehr sicher, du kriegst das alles hin.

 

(Und wenn ich ehrlich bin – ich bin sehr neidisch auf dich).

 

Schöne Grüße

 

Der Stiller, der du mal warst.

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Kommentare: 1
  • #1

    Kikkulade (Sonntag, 02 August 2020 18:27)

    Danke sehr :)