Die Ratschläger 05 Da musst du durch

In der Reihe „Die Ratschläger“ bespreche ich in loser Folge häufige und beliebte Ratschläge, die mir aufgefallen sind. Ich versuche aufzuzeigen, wo das destruktive Potenzial dieser Ratschläge liegt.

 

Ich halte Ratschläge in sozialen Situationen generell für schädlich. (Ratschläge, um technische Probleme zu lösen, – z.B., wie man einen Motor repariert -, halte ich für völlig ok). Ich kann mich nicht erinnern, mal einen Ratschlag in einer sozialen Situation als nützlich erlebt zu haben.

 

Heute soll es gehen um den Rat-Schlag

„Da musst du durch“

und all seine Derivate. Der gleiche Rat kann sich auch so anhören:

„Das hat uns auch nicht geschadet.“

„Davon stirbt man nicht.“

„Augen zu und durch.“

„Nur Mut!“

„Beiß die Zähne zusammen!“

„Du musst viel härter werden!“

„Nun reiß dich mal zusammen!“

 

Was ist das Destruktive an diesem Ratschlag?

 

Ratschläge dieser Bauart empfehlen, nicht auf seine Gefühle zu hören bzw. das Fühlen einzustellen oder abzutöten.

 

Wir alle stehen in unserem Leben hunderte Male vor Situationen und Entscheidungen, wo uns Angst und Bange wird. Wir fühlen uns heillos überfordert, das ist viel zu groß für uns oder viel zu schwer, wir sind noch nicht bereit oder es ist sogar objektiv schädlich für uns.

 

Und dann ist diese Angst ein sehr wichtiger Signalgeber.

 

Ich bin in meinem Berufsleben häufig konfrontiert mit Menschen, denen der extreme Erfolg (beruflich, sportlich, sozial, finanziell), sehr wichtig ist. (Meistens wollen diese Menschen mit ihrem Ehrgeiz ein tief sitzendes, riesiges seelisches Defizit wegschieben oder kompensieren. Aber das soll hier nicht Thema sein).

Ungefragt sagen mir diese Menschen oft Dinge, die sich so anhören:

„Stiller! Meine Meinung ist: Der Ängstliche stirbt tausend Tode. Der Tapfere stirbt nur einmal. Das ist meine ganz klare Meinung!“

Während sie das sagen, zuckt ihr ausgestreckter Zeigefinger rhythmisch vor und zurück.

Meistens höre ich mir das nur schweigend an. Und dann versuche ich mir die Frage zu beantworten:

„Warum erzählt der mir das jetzt? Vor allem in dieser Eindringlichkeit?“

(Meistens ist die Antwort klar wie der lichte Tag: Hier hat jemand ganz viel Angst. Angst durchzieht sein Leben wie die Schwerkraft – unentrinnbar. Und das will er nicht wahrhaben).

 

Wenn ich den Eindruck habe, verstanden zu werden, antworte ich manchmal dieses:

„Ja, das ist richtig. Und der Tapfere stirbt deutlich früher als der Ängstliche. Die ganzen Heldenfriedhöfe erzählen davon.“

Manchmal antworte ich auch dieses:

„Ja, das ist richtig. Aber es gibt noch einen dritten: Den Klugen. Der stirbt gar nicht. Jedenfalls nicht in dieser Situation. In meinem Leben ist es deutlich wichtiger klug zu sein als tapfer.“

(Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich halte mich für einen ausgemachten Feigling).

 

Angst ist ein Gefühl mit Warnfunktion. Es macht uns darauf aufmerksam: Achtung, da kommt eine Gefahr auf uns zu. Angst schärft unsere Sinne und wärmt die Muskeln auf, damit wir rasch fliehen bzw. kämpfen können.

 

Ob diese Angst berechtigt ist, in der jeweiligen Situation, das steht auf einem ganz anderen Blatt (Sprachbild). Oft genug kommt es vor, dass Menschen eine Angst haben, die sich gar nicht auf eine reale Situation bezieht, sondern nur das Echo einer fernen Vergangenheit ist.

 

Aber wenn ich jemandem, der Angst hat, sage:

„Da musst du jetzt durch“, dann sage ich ihm meistens nichts anderes als:

Fühle nicht. Verwandle dich in eine gut funktionierende, nicht fühlende Maschine und

a)    stell dich nicht so an

b)    tue deine verdammte Pflicht (z.B. für’s „Vaterland“ Menschen zu töten, die du noch nie gesehen hast)

c)    mach mir nicht bewusst, was für ein Angsthase ich selber bin.

 

Wenn wir Ängste haben, die nicht der Situation angemessen sind, dann ist es kein kluges Vorgehen, diese Ängste einfach wegzuschieben oder zu ignorieren. Denn damit schieben wir einen wichtigen Teil von uns selber weg und ignorieren ihn.

 

Und wenn wir Ängste haben, die sehr wohl der Situation angemessen sind, dann sind wir gut beraten, auf diese Ängste zu hören. Das bedeutet ja nicht, dass wir nicht das tun, was notwendig ist. Ich kann aus eigener Erfahrung als hochängstlicher Mensch versichern: Es gibt sehr, sehr viele Dinge, die man tun kann, die man sogar sehr gut tun kann, obwohl Todesangst einen dabei ständig begleitet wie der eigene Schatten.

 

Immer wieder erzählen mir solche extrem ehrgeizigen Ratschläger von Dingen, die sie als Kind oder als Jugendlicher erlebt haben. Wenn ich das höre, dann sträuben sich mir die Haare.

·         Wie sie in der Schulzeit von den Lehrern jahrelang systematisch auf’s schlimmste gedemütigt worden sind.

·         Wie die Eltern nie Zeit für sie hatten, weil das Geschäft so viel wichtiger war als sie.

·         Wie sie ins Heim oder zu den Großeltern abgeschoben wurden, weil die Eltern mit ihren Kindern nichts anzufangen wussten

·         Wie übelste Grausamkeiten an ihnen begangen wurden.

·         Und so weiter.

 

Das erzählen sie mir meist ohne jedes Mitgefühl mit dem Kind, das sie mal waren. Ja, manchmal lachen sie sogar das Kind aus, das sie mal waren. Bei sowas wird mir innerlich immer ganz kalt und es zieht sich in mir alles zusammen.

 

Aber dabei bleibt es nicht. Fast immer wird diese Schilderung am Ende mit einem Spruch garniert:

„Das hat man früher eben so gemacht.“

„Aus uns ist auch was geworden.“

„Das hat uns auch nicht geschadet.“

 

An all die unter meinen Lesern, die auch voll sind mit „Das hat man früher eben so gemacht“ „Hat uns auch nicht geschadet“ und „Aus uns ist auch was geworden“:

 

 

1

Das hat man früher eben so gemacht.

 

Früher war es auch durchaus üblich, Kinder im Wald auszusetzen und dort verhungern zu lassen, wenn man sie nicht durchbringen konnte. (Siehe auch: Hänsel und Gretel). Die ersten Waisenhäuser in England wurden gebaut, weil die Mönche sich vom Geschrei der Säuglinge gestört fühlten, die man einfach auf den Misthaufen geworfen hatte. Kaiser Konstantin (der Große) hat mehrfach Gesetze erlassen, die Kindestötung verboten. (Dass er es so oft tat, ist ein klares Zeichen dafür, dass diese Gesetze nicht befolgt wurden).

 

Früher waren die Menschen deutlich schlechter zu den Kindern als heute. Das Alte Testament unterscheidet nicht zwischen „Kinder erziehen“ und „Kinder verprügeln“ (Statt „verprügeln“ steht da meistens „züchtigen“).

 

Das hat man früher so gemacht, keine Frage. Und die kleinen Kinder haben gelitten ohne Ende. Der Tod war oft die einzige Erlösung, auf die sie in ihrem bedauernswerten Leben hoffen konnten.

 

Wenn du auch so behandelt wurdest, dann gibt’s nur eins, was für dich zu tun ist:

Nimm dich deiner an und sei barmherzig mit dir.

 

Aber hör auf, über dich zu lachen oder von dir zu reden als wärst du jemand anders. Du warst dieses Kind. Mit all seinen Gefühlen.

 

 

2

Hat uns auch nicht geschadet.

 

Dieser Satz ist ein ganz klarer Hinweis auf diese Tatsache:

Du bist als Kind seelisch verkrüppelt worden und hast als Kind beschlossen, nicht mehr zu fühlen.

„Hat uns auch nicht geschadet“ ist ein anderes Wort für „Ich will (das) nie wieder fühlen müssen.“

 

 

3

Und aus uns ist auch was geworden.

 

Was bitte ist auch euch ganz genau geworden?

Das übliche „Erfolgreich und unglücklich“? bzw. “Erfolgreich aber innerlich leer“?

Oder nur eine Variante von „Eine gut funktionierende, nicht fühlende Erfolgsmaschine“?

 

 

Fazit

Falls dir jemand sagt:

„Da musst du durch!“, dann prüfe für dich, ob das stimmt. Denn er verlangt von dir, dass du dich ihm zuliebe in eine gut funktionierende, nicht fühlende Maschine verwandelst.

 

Ganz vieles, von dem andere sagen, dass du das musst, das musst du in Wirklichkeit gar nicht. Du kannst stattdessen auch als Erwachsener nüchtern und rational die Sachlage prüfen und dich für einen anderen Weg entscheiden.

 

Irgendwann musst du sterben.

Aber das ist auch so ziemlich alles, was du musst.

 

Außer Steuern zahlen, natürlich.

Und irgendwann wieder auf’s Klo gehen.

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Kommentare: 3
  • #1

    Annette (Samstag, 05 September 2020)

    Das ein Psychologe so etwas schreibt erschreckt mich.

  • #2

    Stiller (Montag, 07 September 2020 02:01)

    Annette, ich habe den Eindruck, dass es in dir ziemlich finster aussieht.
    Ich habe es an anderer Stelle geschrieben: Du musst diesen Blog nicht lesen.

    Falls es deine Lebensphilosophie ist, dass du da durch musst, dann wünsche ich dir, dass du Erlösung findest.

  • #3

    Sven (Freitag, 16 Dezember 2022 12:32)

    Einer der besten Blogartikel von Dir die ich bisher gelesen habe. Schon oft habe ich erlebt, wie Kindern Leid zugefügt wurde mit dem - meist von einem verstellten, gurrenden Lachen begleiteten -Hinweis: "mir hat das als Kind auch nicht geschadet"
    Ich glaube, dass es hier eine Art Wiederholungszwang nach Alice Miller gibt. Wer das Leiden in der eigenen Kindheit verleugnet, "rächt" sich an anderen Kindern.