Ein langer Weg 08 - Das Biografie-Paradoxon

*** Vorsicht, bitte: Das kann im letzten Drittel des Textes wieder Triggerkram sein. ***

 

Mein an Herausforderungen nicht gerade armes Leben hält immer wieder Überraschungen für mich bereit – plötzliche Wendungen, mit denen ich niemals gerechnet hätte, Themenstellungen, für die ich komplett unvorbereitet bin und von denen ich noch niemals gehört oder gelesen habe … Da kommt schon was zusammen.

 

Ich vermute, dass es den meisten Menschen auch so geht, denn unser aller Leben ist fast immer überraschend – zumindest in Teilbereichen. Ich will an dieser Stelle mal etwas skizzieren, was mich seit einigen Monaten intensiv beschäftigt. Ich habe bislang keine Lösung dafür.

Ich nenne diese Thematik das Biografie-Paradoxon.

 

Schauen wir uns das mal an.

 

Biografie geht normalerweise vermutlich so:

Irgendein Mensch, der in die Jahre gekommen ist, schaut versonnen und nachdenklich zurück auf sein ereignisreiches, abenteuerliches und ausgefülltes Leben. Er setzt sich in sein behagliches Kaminzimmer, und sein Blick schweift über all die Trophäen und Erinnerungsstücke, die er in all den Jahren angesammelt hat. Er zündet sich seine Tabakspfeife an (Frauen gießen sich ein Glas exquisiten Rotwein ein), der aromatische Duft der würzigen und exotischen Tabakmischung (des Weins) füllt allmählich den Raum, und unzählige Szenen aus seinem Leben werden wieder in ihm lebendig. Lange, lange sitzt er so da und sinnt. Er sinnt und sinnt. Er schwelgt in Erinnerungen: Was er doch für ein wildes und freies Leben geführt hat! Und da beschließt dieser Mensch: Es ist jetzt an der Zeit!

 

Energisch steht er auf. Eilenden Schritts geht er rüber in sein repräsentatives Arbeitszimmer und setzt sich an seinen wuchtigen und ausladenden Schreibtisch. Auf erlesenem, handgehämmertem Büttenpapier fängt er an, sich Notizen zu machen. Hastig kratzt die 24-Karat-Goldfeder seines mondänen Füllfederhalters über’s Papier: Kritz! Kritz! Kritz!

Dieses Leben muss aufgeschrieben werden!

Seite um Seite füllt er mit hastig hingekritzelten Notizen. Und was ihm dabei alles wieder einfällt! Was das bloß für ein Leben war! Er schreibt und schreibt und schreibt. Die Stunden und Tage vergehen. Und er schreibt. Kritz! Kritz! Kritz!

 

Später fängt er dann an, das ins Reine zu tippen. (Oder wenn er wohlhabend genug ist: tippen zu lassen). Er verändert, er fügt hinzu, er glättet – und so ganz allmählich entsteht da in sehr viel Arbeit die Erzählung seines Lebens: So einer ist er gewesen. So hat er sein Leben gelebt. Und das hält er jetzt alles fest für die Nachwelt. Kommende Generationen werden das lesen und staunen. Es wird ihnen Leitstern, Erbauung und Mahnung sein – solch ein ungewöhnliches und erfülltes Leben war das. Ja, ja. Und was man alles daraus lernen kann!

 

Ich gebe gerne zu, dass ich noch nie eine Autobiografie gelesen habe. Ich weiß wenig, was diesen Bereich der Literatur anbelangt. Aber ungefähr so stelle ich mir das vor, wenn jemand seine Autobiografie schreibt.

 

In Buchhandlungen laufe ich auch eher achtlos an diesen Regalmetern vorbei, wo sie mich von Buchdeckeln anschauen – diese Gesichter, die bekannt sind aus Fernsehen und Illustrierten. Da stehen dann auch immer klangvolle Titel drauf: „Das war mein Leben.“ „Überlebt – alle Achttausender“. „Mein Kampf gegen die Kartoffelschalen“. „Ein Leben für die Hygiene.“

 

Ich vermute mal, dass diese Bücher da stehen, weil sie gekauft und gelesen werden: Ganz viele Leben zusammengefasst zwischen Buchdeckeln – der Nachwelt als Leitstern, Erbauung und Mahnung. Und was man alles daraus lernen kann!

 

Tja.

Da kann ich im Moment nicht so mithalten. Vermutlich bin ich noch nicht alt genug. Oder es fehlt mir einfach an Sendungsbewusstsein und Neigung, mal so richtig auf die Wurst zu hauen (Sprachbild) und der staunenden Nachwelt zu verkünden, was ich doch für ein toller Hecht gewesen bin (noch so ein Sprachbild, das nimmt heute anscheinend kein Ende).

 

Aber vor allem plagt mich das Biografie-Paradoxon.

Bis ich damit durch bin, muss meine Autobiografie erst mal warten.

 

Aber was ist jetzt dieses Biografie-Paradoxon?

 

Wenn ich zurückschaue auf mein erfülltes und ereignisreiches Leben, dann kommt da auch ein dickes, dickes Buch zusammen. (Ich habe noch nie eine dünne Autobiografie gesehen. Autobiografien, die sich zusammenfassen ließen zu: „In meinem Leben passierte eher nichts - und das die ganze Zeit“, scheinen sich nicht so gut zu verkaufen). Also – auch meine Autobiografie wäre ein dickes Buch.

 

Aber wenn ich dieses dicke Buch in die Hand nehme und darin blättere, dann stelle ich fest, dass ungefähr die Hälfte der Seiten keinen Text enthalten. Sie sind völlig weiß. Fast so, als hätte irgend so ein gemeines Buchstabenfresserchen Hunger gehabt und wäre über dieses Buch hergefallen. Es muss wirklich viel Hunger gehabt haben! Meine Kleinen sprechen an dieser Stelle auch gerne vom „großen Radiergummi“ mit dem da jemand durch unser Leben gegangen ist.

 

Ich habe vor einiger Zeit an dieser Stelle berichtet, dass ein anderer sich in meinem Leben breit macht (Link zum Text). Oder präziser: Das war schon immer unser beider Leben. Es war nicht mein Leben, sondern unseres. Aber ich hatte von seiner Anwesenheit bisher nie was mitbekommen. Der andere ist ein Teil von mir, der mir derart fremd ist, dass er weiterhin der Andere ist. Und der Andere drängt massiv mit Erinnerungen, Erfahrungen, Vorlieben, Zielen, Wünschen, Begabungen etc. in das Leben, das ich führe. Und hier zeigen sich schon erste Umrisse des Paradoxons: Es ist nicht mein Leben. Es ist unser Leben. Ich empfinde es aber als mein Leben, in das er da reindrängt. Er wiederum sagt völlig zu Recht, dass er immer schon da war. Er drängt sich in gar nichts rein. Er wird nur sichtbar für mich und meine Kleinen.

 

Na, herzlichen Glückwunsch (Ironie).

 

Mein Leben ist komplett ins Rutschen geraten. Seit über einem Jahr fühlt es sich für mich so an, als würde ich permanent auf einem riesigen Kiesberg gehen, der unter mir rutscht und rutscht und rutscht. Das nimmt kein Ende. Das geht mir Tag und Nacht so.

 

Aber was den Anderen betrifft: Wie das in meinem Leben immer schon so war - Ich belasse ich es nicht dabei. Ich mache weiter. Ich forsche nach. Wo einer ist, da sind sicher noch mehr. Und siehe da: Da sind noch mehr. Noch viel mehr.

 

Andere schreiben ihre Biografie aus dem Gedächtnis, mir wird meine stückweise geliefert. Alle paar Wochen entsteht ein neues Kapitel und ich erfahre voller Staunen und Ergriffenheit, was ich damals alles erlebt habe. Andere schreiben ihre Autobiografie am Ende eines langen, abenteuerlichen und erfüllten Lebens. Ich habe in vielen Bereichen nur leere Seiten in meiner Autobiografie, die sich jetzt langsam aber stetig füllen. Und wenn mich jemand fragt, wer ich bin, oder was ich damals alles erlebt habe, dann kann ich ihm zur Zeit nur ehrlich antworten:

„Ich habe keine Ahnung.“

 

Mein Gedächtnis ist weitaus besser als das der meisten Menschen, die ich kenne. Meine Erinnerungen reichen von der Geburt bis heute. Ich erinnere - verglichen mit anderen - sehr, sehr vieles. Das war schon immer so. Was ich aber bislang nicht wusste: Da sind riesige weiße Flecken in meiner Erinnerung. Und da, wo diese weißen Flecken sind, da ist die Erinnerung nicht verdrängt oder abgeschoben, sondern derart komplett weg, dass sie nicht mehr zugänglich ist. Das ist, als wäre jemand mit einem riesigen Radiergummi durch meine Erinnerungen und mein Leben gegangen.

 

Als der Andere in mein Leben trat, geriet mein Leben völlig aus den Fugen. Denn er brachte seine Wünsche, Ängste, Sehnsüchte, Ziele, Vorlieben, Talente etc. mit. Aus meinem Leben wurde unser Leben. Ich habe dabei festgestellt, dass die Aufteilung zwischen uns ungefähr 60 zu 40 ist: Ich bringe 60 Prozent unserer Lebensenergie mit, er 40. Wir haben eine Arbeitsteilung beschlossen, in der ich die Exekutive bin. Ich vertrete uns nach außen, ich entscheide, was handlungswirksam wird, und ich entscheide, wie wir unser Geld ausgeben.

 

Aber nach dem Anderen drängen die ganz Anderen in mein Leben. In unser Leben. Mittlerweile ist unsere Aufteilung so: Ich 30, alle anderen 70. Und ich habe absolut keine Ahnung, wie das weitergehen wird. Vielleicht werde ich auf Dauer so marginalisiert wie die SPD. Die hat in ihren Glanzzeiten fast die absolute Mehrheit erreicht. Heute kann sie oft froh sein, wenn sie die Fünfprozenthürde schafft.

 

Ich bin offen dafür. Nichts ist wirklicher als die Wirklichkeit. Und wenn so viele komplett abgespaltene Teile von mir jetzt sichtbar werden und in unser Leben drängen – herein! Herzlich willkommen. Offenbar ist jetzt die Zeit dafür. Und das ganze hat eh eine derartige Dynamik entwickelt, dass ich da nichts aufhalten oder auch nur bremsen könnte. Würde ich das versuchen, dann würde unser aller Körper ernstlichen Schaden nehmen. Und so viele wir auch sein mögen – wir haben alle zusammen tatsächlich nur diesen einen Körper.

 

Ich steuere das also nicht, ich begleite das nur. Und ganz allmählich füllen sich die leeren Seiten meiner Autobiografie.

Ähnlich wie ein Pubertierender habe ich absolut keine Ahnung, wer ich bin. Ähnlich wie ein Pubertierender stelle ich fest, dass mein Körper umgebaut wird. – Ich bewege mich anders. Ich stehe anders. Ich esse anders, ich trinke anders, ich stecke meine Hände anders in die Hosentaschen. Ich habe, ohne was dafür zu tun, einiges an Muskelmasse zugelegt. Ich atme anders. Meine chronischen Erkrankungen (Asthma etc.) scheinen zu verschwinden … (Dass ich jetzt allerdings einen Stimmbruch oder beginnenden Bartwuchs zu erwarten habe, das halte ich für eher unwahrscheinlich – aber manche meiner Kleinen sagen, dass wir jetzt bestimmt bald haarige Füße bekommen werden wie die Hobbits).

Mittlerweile erlebe ich eine solche Komplettveränderung zum dritten Mal. Die meisten Menschen, die ich kenne, sind mit einer Pubertät davongekommen. Bei mir langt das Schicksal richtig hin. Ich darf drei Mal. (Und wer weiß, was da noch alles kommt!)

 

Einschub

Zum Thema Asthma:

Ich glaube, an diesem Beispiel kann ich am ehesten transparent machen, worum es bei meinen chronischen Erkrankungen und meinen Körperveränderungen geht.

 

Asthma hatte ich schon immer. Den ersten Anfall, an den ich mich erinnere, hatte ich, als ich drei Jahre alt war. Aber es hat auch welche davor gegeben. Mit den Jahren hat sich das immer mehr verschlimmert. Seit 2007 nehme ich Medikamente (verschreibungspflichtig, stark), um atmen zu können. Ich gehe niemals ohne meine Asthma-Medikamente irgendwohin. Und ständig habe ich Reserven im Haus und am Körper, weil ich nicht in Situationen geraten will, wo ich ersticke und kein Medikament zur Hand ist. Ende 2018 sah die Lage in etwa so aus: Ich brauche von dem einen Medikament in der Regel 4 bis 16 Dosen am Tag. Von dem anderen Medikament 2.

Das heißt, dass ich pro Monat – abhängig von Pollenflug und dergleichen – ungefähr 150 bis 500 Mal ein Asthma-Medikament nehmen musste. – Ich konnte gut damit leben.

 

2020 (ich schreibe diesen Text Mitte Mai) sieht es bislang so aus:

Januar – Nicht einmal zu Asthma-Medikamenten gegriffen! Nicht. Ein. Einziges. Mal!

Februar – 2 Dosen

März – 10 Dosen

April – ca. 12 Dosen

Mai – bislang keine Dosis.

 

Worauf ist das zurückzuführen? Bin ich einem Wunderheiler in die Hände gefallen? Spreche ich jetzt endlich die richtigen Gebete? Hat die Karma-Polizei bei mir nach dem Rechten gesehen? Habe ich nun endlich begriffen, dass ich das alles nur positiv sehen muss und endlich das Vergangene hinter mir lassen muss? Habe ich vielleicht sogar meine Komfortzone verlassen?!

 

Eigentlich ist es ganz einfach:

Die Anderen bringen ihre Erinnerungen und ihre Geschichte mit. Meine Autobiografie füllt sich. Ich habe als Kleinkind zig Mordversuche überlebt, in denen es um Ersticken ging. Meine leiblichen Eltern zogen Energie daraus, dass sie mich wieder und immer wieder in die Nähe des Todes brachten, indem sie mich ersticken ließen. Ihre Methoden waren vielfältig: Sie begruben mich unter Kissen, Decken, und Tüchern, manchmal haben sie mich auch bloß gewürgt. Ich wurde unter Heu begraben, mit Zementpulver zugeschüttet, unter Wasser gedrückt, manchmal haben sie auch bloß meinen Brustkorb zusammengedrückt … und so weiter. Da kommt schon ziemlich was zusammen. Meine leiblichen Eltern zogen Kraft und Energie aus diesen Situationen -, und sie brauchten oft Kraft und Energie. Meine leibliche Mutter tat es manchmal auch aus schierer Verzweiflung (ich bin das Ergebnis einer Vergewaltigung) – die Motive meiner leiblichen Eltern waren vielfältig.

 

Dann gab’s da noch all die Situationen auf der Intensivstation, wo ich nach schwerster Folterung und Vergewaltigung deutlich mehr tot als lebendig eingeliefert wurde. Meine Lunge hatte ihre Funktion bereits eingestellt, als ich in den Krankenwagen gewuchtet wurde. Und dann wurde ich da mit allem möglichen beatmet – immer wieder dem Tod deutlich näher als dem Leben. Über Wochen wurde da um mein kleines Leben gekämpft …

 

Ich war sehr klein, damals. Keine zwei Jahre alt.

Viele, viele Situationen waren das.

 

Von all diesen Mordversuchen und Erfahrungen auf der Intensivstation habe ich bislang überhaupt nichts gewusst. Das war alles dem riesigen Radiergummi zum Opfer gefallen. Das war absolut und komplett weg. Nicht mal in meinen Träumen war das irgendwo aufgetaucht. Und ich bin sehr sicher, dass das nicht das Ende der Fahnenstange ist (Sprachbild). Da wartet noch einiges in der Dunkelheit auf mich.

 

Ich habe Asthma ganz offensichtlich entwickelt, um mich stets daran zu erinnern, dass da mal was war. Und je weiter ich mich davon entfernte, desto stärker wurde das Asthma, um mich zu erinnern. Jetzt, wo die Anderen ihre Erinnerungen mitbringen, verliert das Asthma seine Funktion und verschwindet allmählich aus meinem Körper. Meine Lunge heilt. Sie heilt spürbar. Ob ich je ganz gesund werden werde, weiß ich nicht. Aber verglichen mit dem, was mein Leben bislang war, ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Atmen zu können ist eine feine Sache. Ich bin den Anderen sehr dankbar.

Einschub Ende

 

 

 

Epilog

Mitte 2018 beauftragten mich meine Kleinen damit, das anzutreten, was sie die „Reise ans Ende der Welt“ nannten. Anfang 2019 haben wir diese Reise nach langen Vorbereitungen begonnen. Mittlerweile sind wir längst am Ende der Welt angekommen. Wir sind jetzt in einem Bereich unterwegs, den wir schon immer „Das andere Land“ genannt haben. Wir haben absolut keine Ahnung, wie das weitergehen wird.

 

Unsere Autobiografie füllt sich Seite für Seite. Wir erfahren langsam und allmählich, wer wir waren und was uns zugestoßen ist. Das dient jetzt nicht den kommenden Generationen als Leitstern, Erbauung und Mahnung. Und vermutlich kann man davon auch nicht besonders viel lernen. Aber es dient uns. Wir werden allmählich heile. Und vielleicht, ganz vielleicht werden wir irgendwann sogar wissen, wer wir sind. Dann, wenn unsere Biografie sich hinreichend gefüllt hat.

 

Und das ist doch schon mal was. 

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