Ein langer Weg 07 - Voyeure

*** Dieser Text richtet sich ausschließlich an Voyeure. Die anderen dürfen ihn natürlich auch lesen. Aber ich finde hier teilweise zu einer sehr harten und sehr sarkastischen Sprache – das richtet sich an die Voyeure, nicht an die anderen. ***

 

 

Ich war 17 Jahre alt, als ein Mitschüler aufgeregt auf mich zukam:

„Dein Bruder ist ja ziemlich zu!“

Das ging beinahe jeden Tag so.

 

Ich war 17, mein Bruder war 19.Wir gingen beide zur selben Schule. Seit einiger Zeit konnte er die Auswirkungen seines Konsums harter Drogen nicht mehr kaschieren. Wenn er sein Bett mal verließ, dann taumelte er völlig breit durch Raum und Zeit. In die Schule ging er nur noch sporadisch. Wenn er dort auftauchte, war er meistens vollkommen weggetreten.Und das fiel auf. Das fiel ziemlich auf.

 

Wir gingen auf eine große Schule. Es war eine regelrechte Lernfabrik. Allein in meiner Jahrgangsstufe waren knapp 200 Schüler. Insgesamt – über alle Jahrgangsstufen - müssen es tausende gewesen. Ich weiß nicht, wie viele Lehrer sie dort beschäftigten – fünfzig? Hundert?

 

Wie auch immer – ich lernte die Welt jetzt aus einer anderen Perspektive kennen. Bislang waren meine Geschwister (drei) und ich auf dieser Schule immer soziale Außenseiter gewesen. Wir waren fremd, wir waren anders, wir wurden gemieden. Und wenn wir nicht gemieden wurden, dann wurden wir schikaniert oder gemobbt. Wir standen ziemlich weit unten in der sozialen Hackordnung.

 

Aber jetzt kam was anderes hinzu:

Die Leute rückten mir auf die Pelle. Präziser: Beinahe jeden Tag kamen Schüler auf mich zu und sprachen mich auf meinen Bruder an. Sie waren wie die Geier. Sie wollten alles über ihn wissen. Ich war extrem angewidert und abgestoßen von ihnen.

 

Mein Bruder war der Tod auf Beinen. So sah er aus, so verhielt er sich. Und das einzige, was diesen Menschen dazu einfiel, war, sensationslüstern auf mich zuzukommen und die neuesten Nachrichten abzufragen.

Sie hatten gehört, dass die Polizei ihn wieder mal verhaftet hatte – wie aufregend! Sie wollten alles darüber hören.

Gerüchte machten die Runde, dass er wieder in der geschlossenen Psychiatrie gelandet war – sensationell! Erzähle uns alles!

Er war in diesem berüchtigten, ultramodernen Todsicherheitsknast am Ende der Stadt gelandet, aus dem Ausbruch unmöglich sein sollte – wie spannend! Stimmte das echt?! Erzähle! Erzähle!

 

Ich erzählte ihnen nichts. Gar nichts.

Normalerweise verliefen diese Dialoge so:

Es ist Pause. Ich stehe wie üblich alleine und schweigend in der Gegend rum. Irgendein Schüler, den ich vom Sehen kenne, sägt sich von der Seite an mich ran.

„Du hör mal“, fängt er an, „Der [Name] ist doch dein Bruder, oder?“

„Ja“, gebe ich zurück. „Aber wir sind nicht miteinander verwandt.“

Das verwirrte sie meistens so, dass ich die Möglichkeit hatte, woanders hinzugehen, um dort weiter zu schweigen.

 

Das ging monatelang so.

 

Mal war mein Bruder daheim, dann saß er im Knast, dann war er in der Psychiatrie, dann war er wieder daheim, dann griff wieder die bewaffnete Staatsgewalt nach ihm … Es war ein Kreislauf der Hilflosigkeit auf allen Seiten. Es war Sterben auf Raten.

 

Und ständig flatterten diese Voyeure um mich herum. Die Nachbarskinder und die Mitschüler – sie wollten alles wissen.

 

Ich weiß nicht, ob sich jemand von meinen Lesern in meine damalige Lage hineinversetzen kann:

Ich war 17. Ich hatte reichlich eigene Probleme. Weit über das normale Maß hinaus. Zusätzlich fühlte ich mich für meine jüngere Schwester verantwortlich. Die war 14 und von zuhause abgehauen. Ich war eine Zeitlang der einzige Kontakt, den sie noch zur Familie hatte. Später beschloss sie dann, mit ihrem Musiklehrer durchzubrennen und so eine Art Ehe zu führen.

Meine leiblichen Eltern – die konntest du voll vergessen. Die waren innerlich nie älter als fünf Jahre geworden und hatten diesen ganzen Schlamassel verursacht. Die waren nicht mal ansatzweise in der Lage, irgendwas Positives zur Situation beizutragen.

Ich lebte in völliger sozialer und emotionaler Verwahrlosung.

 

Ja, und Hilfe bekam ich …

 

… keine.

 

Gar keine.

Aber ich war der einzige, der sich irgendwie kümmern konnte. Wenn mal jemand wirklich Notiz davon nahm, wie es meinem Bruder ging, dann immer nur auf die Weise, dass er mir sagte, dass ich mich mal kümmern sollte. Immerhin sei das ja mein Bruder. Mir wurde von allen Seiten die gesamte Verantwortung zugeschoben.

Ich war 17.

Ich sollte also ganz allein gelassen dieses Riesengebirge an Problemen, Sorgen und Nöten stemmen. Meine eigenen und die der anderen.

Ich wusste nicht weiter.

Ich fühlte mich sehr einsam, völlig im Stich gelassen, völlig überlastet, völlig überfordert.

 

Ich hätte mich natürlich ans Jugendamt wenden können. Aber dort arbeitete mein leiblicher Vater. Das ließ ich also besser sein. Ich hätte mich an die Polizei wenden können. Aber die war genauso hilflos. Die rief ja bei mir an, wenn sie nicht weiter wusste:

„Guten Tag, hier ist Herr soundso von der Polizeibehörde soundso. Wir sind auf der Suche nach Ihrem Bruder. Wissen Sie vielleicht, wo der ist?“

 

Und sonst?

Irgendwelche Sozialdienste?

Mein leiblicher Vater leitete die örtliche Drogenberatungsstelle. Ich wusste, wie vernetzt diese Menschen alle waren.

 

Ich kannte das ja schon – aber es bestätigte sich für mich in dieser Zeit erneut -, man konnte in dieser Gesellschaft verrecken und verrotten, ohne dass es irgendjemanden interessierte. Jeder Lehrer, der in dieser Lernfabrik beschäftigt war, wusste genau, was mit meinem Bruder los war. Jeder! Er war das Tagesgespräch. Monatelang war er das. Nicht ein einziger Lehrer fühlte sich bemüßigt, irgendwas zu tun. Nicht einer. Und das waren exakt die Menschen, die im Unterricht die großen menschlichen Reden führten, wie sozial und wie miteinander und wie fürsorglich und wie solidarisch wir alle sein müssten. Und in jeder Klausur, die sie stellten, stand als Aufgabe (sofern es nicht um Naturwissenschaften ging): „Diskutieren Sie kritisch …“

Ich lernte, dass keine Katastrophe, die einen Schüler betrifft, so groß und so sichtbar sein kann, dass nicht sämtliche Lehrer wegschauen. Sie stellten sich blind und taub. Alle.

 

Ich hasste sie alle.

 

Und dann waren da noch die Voyeure – meine Mitschüler. Sie waren um mich. Jeden Tag. Ich hatte das Schulgebäude noch nicht erreicht, als mich die ersten schon vor dem Eingang abfingen. Ungeduldig hatten sie auf mich gewartet:

„Du, ich habe gehört …“

Endlich passierte mal was in ihrem tristen und trostlosen Leben.

 

Beinahe jeden Tag hatte ich damit zu tun, diese Geier abzuwehren.

„Du, der [Name], das ist doch dein Bruder, oder?“

 

Und nochmal:

Ich hatte da durchaus noch meine eigenen Sorgen und Nöte. Und das nicht zu knapp.

Und dann war da noch meine jüngere Schwester, die ich über alles liebte. Wir trafen uns hin und wieder irgendwo im Freien und unterhielten uns. (Damals gab es noch keine Handys). Es ging ihr nicht gut. Gar nicht. Unsere leiblichen Eltern hatten ihr gedroht, sie ins Heim zu stecken, wenn sie wiederkäme – was sollte sie nur machen? Ich wusste es auch nicht. Helfen konnte uns keiner. Ich half ihr, so gut ich konnte. Aber das war natürlich viel zu wenig. Sie sprach so oft in ihrer Verzweiflung und ihrer Resignation davon, sich umzubringen – ich wusste nicht, was ich machen sollte.

 

Diese Zeit war prägend für mich. Ich denke, dass nachvollziehbar ist, dass meine Meinung von den Erwachsenen denkbar schlecht war. Und das ist bis heute so geblieben. Ich traue auch heute noch den meisten Erwachsenen, die mich umgeben, ziemlich genau dieses Verhalten zu:

 

1

Die Variante für die, die Verantwortung tragen (sollten):

Weggucken!

Wenn jemand in deiner beruflichen Umgebung deutlich sichtbar verrottet und verreckt: Guck‘ weg, solange es geht. (Und du wirst sehen: Es geht verblüffend lange. Du musst dir nur Mühe geben). Wenn du es nicht siehst, dann hast du auch kein Problem damit. Und wenn dein Gewissen sich regt – beruhige es dadurch, dass das nicht dein Aufgabengebiet ist und du sowieso nichts machen kannst und irgendwer sich schon kümmern wird und du sowieso schon genug eigene Probleme hast – und so weiter. Denke immer daran:

Das, was du nicht siehst, das gibt es auch nicht.

Und nachher kannst du immer noch ganz ernsthaft behaupten, du hättest von nichts gewusst. Du kannst dann auf „betroffen“ machen, Blumen und Kerzen auf’s Straßenpflaster stellen und öffentlichkeitswirksam fragen:

„Warum?“

 

2

Die Variante für die, die (glücklicherweise) nicht in der Verantwortung sind:

Gaffe!

Sei sensationslüstern bis zum Anschlag! Ratsche und tratsche über diese Person soviel es geht. (In heutiger Zeit:Mach‘ Videos von dieser Person und stell‘ sie ins Netz – selten so gelacht! Selten so gegruselt!) Ganz wichtig: Das ist niemand, dessen Menschenwürde zu achten wäre. Sei also hemmungslos in deiner Gier, dein ödes, fades und langweiliges Scheinleben durch Sensationen aufzupeppen. Beute diesen Menschen für deine selbstsüchtigen Motive so richtig aus! Wehren kann er sich ja nicht.

 

3

Die Variante für die, die gerne in Scheinwelten unterwegs sind:

Hilf verwaisten Hundewelpen auf dem Balkan. Spende all dein Geld für den Tierschutzverein. Hilf irgendwelchen Kindern, die auf Fotos süß und exotisch aussehen und die auf fernen Kontinenten wohnen. Denn schließlich bist du ja ein guter Mensch, nicht wahr? Abonniere „Ein Herz für Tiere“ und geh‘ regelmäßig in die Kirche. Der Herr wird’s mit Wohlgefallen betrachten.

Aber um Gottes Willen – guck nicht links und rechts von dir. Schau immer in die Ferne, wenn du hilfst – in ganz, ganz, ganz, ganz weite Ferne.

Sei zartfühlend und mitfühlend und überhaupt – sei fühlend und mitleidig ohne Ende. Denn darauf kommt es ja an, nicht wahr? Aber schau bloß nicht in deine unmittelbare Umgebung. Schau nicht nach links und rechts und nicht direkt vor deine Füße. Schau in die Ferne. In die ganz weite Ferne. Der Blick in deine unmittelbare Umgebung könnte dich nachhaltig verstören.

Und das kann ja niemand wollen, oder?

 

 

Schnitt. Szenenwechsel.

 

Ich erinnere mich an eine Situation bei meiner Arbeit. Das ist ein paar Jahre her. Gerade hatte sich uns ein neuer Bereichsleiter vorgestellt – ein ganz hohes Tier. Über dem kam nur noch der Vorstand. Schon nach wenigen Minuten war mir klar geworden, dass dieser Mensch schwer alkoholkrank war. Meinen Kollegen war das auch aufgefallen. Sie besprachen das untereinander, wie Voyeure das eben tun:

„Du hör mal, so eine Nase kriegt man aber nicht geschenkt, oder?“

„Nee, für die muss man hart arbeiten.“

Gelächter.

„Mann, der hatte aber einen im Tee, was?!“

„Ja, wenn der in ein Feuerzeug atmet, dann gibt’s ne Stichflamme!“

Gelächter.

 

Ich ging zu meinem Chef:

„Du weißt, dass dieser [Name] alkoholkrank ist?“

„Ja, Stiller, das ist nicht zu übersehen.“

„Weiß sein Chef das? Hat er ihn mal drauf angesprochen?“

„Ich denke schon, dass der das weiß.“

„Kannst du ihn (den Vorstand) bitte mal drauf ansprechen? Er muss mit [Name] reden. So steht es in unserer Betriebsvereinbarung.“

„Diese Betriebsvereinbarung gilt nur für die Nichtleitenden.“

„Hör mal, es gibt sowas wie die Verantwortung des Arbeitsgebers gegenüber seinen Mitarbeitern! Kommt der Vorstand dem nach?!“

Mein Chef zuckte nur hilflos mit den Achseln.

 

Natürlich war dieser Mann schwer alkoholkrank. Natürlich wusste das jeder, der es wissen wollte. Natürlich sprach niemand das an. Diesem Mann ist dann irgendwann fristlos gekündigt worden. Er war Mitte fünfzig. Zwei Jahre später war er tot.

Ich selber habe ihn nicht angesprochen, weil er hierarchisch über mir stand. Er war bekannt dafür, dass er cholerisch reagierte, wenn man ihm gegenüber das Thema Alkohol auch nur erwähnte. Mir war mein Arbeitsplatz wichtiger. Das gebe ich gerne zu.

 

Derlei Situationen habe ich am Arbeitsplatz häufiger erlebt.

 

 

Was also die breite Masse derer anbelangt, die mich umgeben:

Geht weg. Ich kann euch nicht brauchen.

Ihr wart damals Voyeure. Ihr seid heute Voyeure.

Ich habe die Zeit damals gemeistert. (99,9% von euch hätten das nicht geschafft, da bin ich mir ganz sicher). Das habe ich aber nicht mit euch oder wegen euch geschafft, sondern ohne euch und trotz euch. Meistens trotz euch.

Ich habe inmitten dieser Zeit das zweitbeste Abitur meines Jahrgangs gemacht. Danach habe ich damit begonnen, mich zu befreien - Schritt für Schritt für Schritt für Schritt. Das war nicht leicht. Überhaupt nicht. Das hat Jahrzehnte gedauert. Aber es ging. Es ging nicht wegen euch, sondern trotz euch.

Ihr wart nicht da, als ich euch gebraucht habe. Im Gegenteil – ihr habt entweder weggeguckt oder gegafft oder euch in Indien oder Afrika engagiert. So, wie ihr das heute auch tut. Warum sollte ich jetzt irgendwas mit euch zu tun haben wollen?

 

Ich beobachte euch sehr genau und schaue, ob und was sich an eurem Verhalten ändert. Tatsächlich stelle ich mit den Jahren eine schleichende Verbesserung fest. Ihr guckt nicht mehr so reflexhaft weg wie früher. Es geschieht tatsächlich häufiger als früher, dass ihr spontan Verantwortung für Mitmenschen übernehmt, denen ihr begegnet. Es geschieht tatsächlich häufiger als früher, dass ihr im anderen den Menschen seht, dessen Würde zu achten und zu schützen ist. Eure Fähigkeit zum Mitfühlen wächst.

 

Also:

Macht ihr euer Zeug. Ich mache meins.

 

 

Einschub

Manche nennen sie „Gaffer“. Aber in Wirklichkeit sind es Voyeure. Ihre inneren Mechanismen sind diese:

Voyeure wollen nicht leiden. Deshalb haben sie ihr eigenes Leiden abgespalten und so weit in die Dunkelheit weggeschoben, wie es nur geht. Sie taten das in der irrigen Annahme, dass es ihnen dann gut gehen würde. (Ganze Industrien bauen auf dem Irrglauben auf, dass es möglich wäre, gleichzeitig leidfrei (mit Garantie selbstverständlich) und lebendig zu sein). Das führt dazu, dass sie nicht mehr in der Lage sind, mit einem leidenden Mitmenschen mitzufühlen. Das ist ihnen nicht bewusst. Aber in ihnen ist sehr tief und sehr stark eine Sehnsucht, wieder lebendig zu werden. Denn wer sein Leiden von sich abspaltet, der verzichtet auf ganz große Teile seiner Lebendigkeit. Der führt nur noch ein Scheinleben, ein Schattenleben, in dem er kaum noch was fühlt und kaum noch was erlebt. Am Leid anderer genussvoll teilzuhaben, ohne selber zu leiden oder das eigene Leid auch nur zu erahnen, ist für Voyeure häufig die einzige Möglichkeit, sich überhaupt noch irgendwie lebendig zu fühlen. Sie leben nicht, sondern sie simulieren ein Leben. Sie werden gelebt. Wenn sie dann mitbekommen, dass da tatsächlich jemand in Reichweite ist, der die Gefühle hat, die sie selber so gerne hätten, dann rennen sie da so schnell hin, wie sie nur können. Eine ganz tiefe, nicht stillbare Sehnsucht treibt sie. Und ihre erste Frage ans Opfer – daran kann man Voyeure und ihre Gefühllosigkeit unfehlbar erkennen -, ist: „Und wie fühlen Sie sich jetzt?“

Wenn sie keine Voyeure wären, dann wüssten sie, was man in so einer Situation fühlt. Sie wüssten es nicht abstrakt, so wie man abstrakt weiß, wie die Hauptstadt von Australien heißt, sondern sie würden mit dem leidenden Mitmenschen mitfühlen. Aus ihrem Mitgefühl wüssten sie ganz genau, was der andere jetzt fühlt und müssten das nicht erfragen.

So aber sind sie Voyeure und sie bleiben Voyeure. Sie führen nur noch ein Scheinleben, ein Schattenleben. Da eine ganz tiefe und starke Sehnsucht nach Lebendigkeit sie treibt, können sie ihr Verhalten kaum steuern.

Andere sollen für sie fühlen, weil sie es selber nicht mehr können. Sie fühlen sich innerlich die ganze Zeit so leer, so fade, so öde, so tot. Was sie tatsächlich auch sind.

Einschub Ende

 

 

Epilog

 

Nachdem das ungefähr ein Jahr so gegangen war, kamen tatsächlich mein Philosophielehrer und meine Religionslehrerin auf mich zu. Die beiden kannten sich gut und mochten sich. Mit ernster Miene baten sie mich zum Gespräch. Ihnen war mein Bruder aufgefallen, und sie hatten den Eindruck, dass er Hilfe brauchte. Ich konnte dem nur zustimmen. Sie wollten von mir wissen, wie ich die Dinge sah. Ich sagte es ihnen. Der Philosophielehrer, der von den beiden der deutlich härter gestricktere war (Sprachbild) begriff als erster, was er da hörte: Dass die Lage ziemlich ernst war und in meinen Augen nicht mehr viel zu machen war. Jeder, der Augen hatte, konnte das sehen. Aber ich sah im Erschrecken der beiden, dass sie das jetzt erst begriffen – nach über einem Jahr. (Keine Ahnung, auf welchem Planeten die bislang gelebt hatten). Aber immerhin sahen sie es! Immerhin reagierten sie!

 

Sie versprachen mir, Hilfe zu organisieren und sich zu kümmern. Und das taten sie dann auch.

Nochmal, weil das so wichtig ist: Sie faselten nicht nur davon, sie taten es auch!

Sie waren die ersten und sie waren die einzigen.

Ich sitze hier in Tränen vor meinem Laptop – ich werde ihnen das niemals vergessen.

 

Mein Bruder war zu diesem Zeitpunkt im härtesten Drogenmilieu unterwegs, das es gibt. Er finanzierte seine Sucht dadurch, dass er Drogenkurier war. Harter Stoff – fette Beute. Er arbeitete für Männer, die absolut humorlos waren. ImFebruar des Jahres, in dem ich Abitur machte, riss der Kontakt ganz plötzlich vollständig ab. Ich hörte auf einmal nichts mehr von ihm. Gar nichts. Er war unauffindbar. Ich hatte durchaus meine Kontakte. Ich kannte Leute, die Leute kannten. Ich aktivierte diese Leute – sie sollten mir sagen, wo mein Bruder war, und was mit ihm war. Und es war das erste Mal, dass diese Leute mir nicht Auskunft gaben. Es war das erste Mal, dass ich sie so voller Angst erlebte. Die Angst sprang ihnen aus den Augen und verschloss ihren Mund.

 

Es dauerte nur Stunden, bis ich begriff, was geschehen war:

Mein Bruder hatte von dem Stoff, den er transportierte, für sich abgezweigt, weil er sicher war, dass das keiner merkte. Sie hatten es aber gemerkt. Sie hatten an ihm ein Exempel statuiert, um andere Drogenkuriere vom Drogenklau abzuschrecken. Sie hatten ihn abgestochen und irgendwo verscharrt oder in irgendeinem Fundament einbetoniert. Ich hoffte sehr für ihn, dass sie ihn vorher nicht gefoltert hatten. Ich war mir absolut im Klaren, wozu diese Leute in der Lage waren – im Gegensatz zu ihm.

 

Die Polizei, die ihn international zur Fahndung ausgeschrieben hatte, fragte noch Monate später bei mir nach, ob ich was von ihm wüsste. Die Voyeure umschwirrten mich noch eine Weile, aber dann bekamen auch sie durch irgendwelche Quellen mit, dass es hier nichts mehr zu voyeuren gab. Sie gingen woanders hin, um dort ihre Sensationslust zu befriedigen und ihr ödes, fades und langweiliges Scheinleben aufzupeppen. Sie werden auch heute noch so tun, als ob sie leben.Auf ihr Umfeld werden sie dabei völlig normal wirken.

 

Das alles ist jetzt Jahrzehnte her. Manchmal denke ich noch daran. Und für alle die, die diese Neigung zum Voyeurismus in sich verspüren, habe ich diese Bitte:

Nehmt den Menschen nicht ihre Würde, indem ihr gafft. Das ist das schlimmste, was ihr tun könnt. Ihr könnt Androiden sein, die ein Leben simulieren, soviel ihr wollt. Aber nehmt denen, die sowieso schon ganz unten sind, nicht auch noch ihre Würde.

 

Gafft nicht.

Meidet Medien, in denen Gaffer befriedigt werden. Klickt diesen Mist nicht an. Ihr macht euch mitschuldig!

Kauft nicht Zeitschriften oder Zeitungen, in denen Opfer begafft werden. Ihr macht euch mitschuldig!

Wenn euch jemand das Neueste erzählen will – lehnt ab.

 

Da das Gaffen gerne als Mitgefühl kaschiert wird, will ich euch noch diese Varianten des Gaffens schildern:

 

1

Graf soundso – wieder hat ihn der Alkohol besiegt! Wie schrecklich! Der arme Mensch! Hier sehen Sie die neuesten Fotos!  

 

2

Die arme [Name]! Sie wurde furchtbar vergewaltigt! Wie schrecklich! Hier sehen Sie das Sofa, auf dem er sich an ihr verging. Und jetzt schildern wir Ihnen auch in allen Einzelheiten und in aller Ausführlichkeit, wie er das getan hat. (Und im Anschluss ein Interview mit dem Opfer und mit der ersten Frage: „Wie fühlen Sie sich jetzt?“)

 

 

Grabt den Leuten, die sowas veröffentlichen, das Wasser ab (Sprachbild), indem ihr konsequent meidet, was sie veröffentlichen.

Konsumiert diesen Mist nicht. Kauft ihn nicht. Klickt ihn nicht an. Meidet das.

Ihr macht euch mitschuldig.

 

 

 

 

Und ansonsten:

Lasst mich in Ruhe. Ihr und ich – wir haben nichts miteinander zu schaffen.

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